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|Thema in ak 578: Westafrika

Perspektive 2022

Wo stehen die sozialen Bewegungen Senegals mehr als ein Jahr nach der Revolte?

Von Haidy Damm

Die Erwartungen waren hoch, als im Senegal am 25. März dieses Jahres die Regierung von Abdoulaye Wade abgewählt wurde. Abgewählt auch, weil soziale Bewegungen wie Y’en a marre und Mouvement du 23 Juin (M23) seit Juni 2011 massiv auf den Straßen protestiert hatten. (Siehe Kasten) Was hat sich seitdem verändert? Wie bewerten die ProtagonistInnen der Revolte heute die Situation in dem westafrikanischen Land?

Während Senegals Medien der Regierungsführung des neuen Präsidenten Macky Sall und seines Kabinetts nach einem halben Jahr keine guten Noten geben, bescheinigt der senegalesische Literat und Autor Boubacar Boris Diop auf einer Veranstaltung Ende November in Berlin dem neuen Staatschef »guten Willen«. Er habe die Zahl der Ministerien um mehr als die Hälfte auf 25 gekürzt, sei auf Distanz gegangen zu den religiösen Pro-Wade-UnterstützerInnen und habe der Korruption den Kampf angesagt.

Unter der neuen Führung mussten alle MinisterInnen und Abgeordneten Ehrenerklärungen zu ihrem Vermögen abgeben, erste Prozesse wegen Veruntreuung von Milliarden Euro durch ehemalige Regierungsmitglieder laufen. Mitte November hat die reaktivierte Sonderstaatsanwaltschaft gegen illegale Bereicherung (CREI) Karim Wade vorgeladen, den Sohn des ehemaligen Präsidenten und in dessen Kabinett Minister für Transport und Infrastruktur. (1) Trotzdem, so Diop, »sind wir in diesem Punkt nicht wirklich weitergekommen.« Die Korruption sei nach wie vor tief verwurzelt in der senegalesischen Gesellschaft, bei PolizistInnen, Finanzbeamten und ZollmitarbeiterInnen.

Kampf um Demokratie im Senegal

Im Jahr 2000 gewann der langjährige Oppositionspolitiker Abdoulaye Wade die Präsidentschaftswahl im Senegal und beendete damit die 40-jährige Herrschaft der Sozialistischen Partei. Dies wurde als ein historischer Sieg für die Demokratie gefeiert, doch Wades Politik entpuppte sich bald als ebenfalls stark geprägt von Korruption und Vetternwirtschaft. Als Wade 2011 versuchte, seine Amtszeit über die zwei von der Verfassung erlaubten Legislaturperioden hinaus zu verlängern, formierte sich eine massive Protestbewegung. Besonders die Bewegung Mouvement du 23 juin (M23), das Bündnis Y’en a marre (»Es reicht«) und die Gruppe »Ne touche pas à ma constitution!« (»Hände weg von meiner Verfassung!«) mobilisierten gegen Wade und wurden überwiegend von jungen Menschen getragen. Bei den Wahlen am 25. März 2012 erlitt Wade dann eine eindeutige Niederlage und wurde von Macky Sall abgelöst. Dieser war bis 2008 Premierminister unter Wade und setzt nun als Präsident dessen wirtschaftsliberale Politik fort.

Fadel Barro, Journalist der Zeitung La Gazette und einer der InitiatorInnen von Y’en a marre, geht davon aus, dass Senegal noch viele Jahre braucht, um einen umfassenden Wandel zu vollziehen. »Viel hat sich nicht getan«, sagte Barro in Berlin. Die Jugend, die die Proteste in erster Linie getragen hat, habe aus Verzweiflung gehandelt: »Wir waren wütend, wir wollten unser Schicksal endlich in die eigenen Hände nehmen und es nicht mehr Politikern überlassen.« Deshalb sei auch weniger wichtig, wer auf dem Präsidentenstuhl sitze, sondern vielmehr entscheidend, dass die Menschen »wachgerüttelt« seien. Jetzt brauche das Projekt eine politische Perspektive.

Die Suche nach dem »neuen senegalesischen Menschen«

Die InitiatorInnen von Y’en a marre haben hierfür ein eigenes Konzept. So sagt der Rapper Didier Awadi, dessen Musik eine entscheidende Rolle während der Revolte gespielt hat: »Wir müssen im Kopf der Jugendlichen etwas ändern und den Mut haben, unser eigenes System zu entwickeln.«

Grundlage des Konzeptes von Y’en a marre ist dabei der »Nouveau Type de Senegalais«, der »neue senegalesische Mensch«. Statt parteipolitische Interessen zu verfolgen und sich selbst zu bereichern, präsentiert sich Y’en a marre als Bewegung zur Verteidigung der Demokratie. »Dem passiven Ausgeliefertsein des Einzelnen wird so die Handlungsfähigkeit des Bürgers als Teil einer Nation und als politisches Subjekt entgegengesetzt. Statt den politischen und religiösen Führern das eigene Schicksal und das der Nation zu überlassen, kämpft der Nouveau Type de Senegalais für seine Rechte und die Zukunft der Nation«, schreibt Louisa Prause, die während des Frühlings drei Monate für die Rosa-Luxemburg-Stiftung in Dakar war.

Y’en a marre sei eine bürgerliche Protestbewegung, sagt auch Barro. »Wir wollten zurück zu den Werten von Patrice Lumumba (2) und Thomas Sankara (3). Wir wollten neue afrikanische Werte in den Vordergrund stellen. Das ist uns gelungen«. Es sei an der Zeit, nicht mehr nur als reine Protestbewegung wahrgenommen zu werden.

Y’en a marre ist dezentral in Zellen organisiert, die in den Dörfern und Städten aktiv sind. Inhaltlich hat sich das Netzwerk vier Schwerpunkte gesetzt: Bildung, die Beobachtung der Regierung durch die BürgerInnen, den Unternehmergeist der Jugend wecken, die unter der hohen Arbeitslosigkeit leidet, und die Weichen für Nachhaltigkeit stellen. Dabei geht es auch um den Ausbau der heimischen Wirtschaft. »Wir haben im Senegal jede Menge Kalkfelsen, aber die Kreide in unseren Schulen kommt aus China«, erklärt Barro. Es gelte eigene Wirtschaftskreisläufe aufzubauen. Auch die neue Regierung setzt auf die Bekämpfung von Jugendarbeitslosigkeit, allerdings mit einem anderen Konzept. So gab Macky Sall – der noch bis 2008 an der Seite Wades stand, ehe er in Ungnade fiel – zu Beginn seiner Regierungszeit bekannt, er werde 500.000 Jobs schaffen. Erreichen will er das nach wie vor insbesondere durch die Förderung von KleinunternehmerInnen, also das Gegenteil von abgesicherten, angemessen bezahlten Jobs.

Bis heute hat sich weder Entscheidendes an der Arbeitslosigkeit geändert, noch haben sich andere Wahlversprechen wie sinkende Lebenshaltungskosten erfüllt. Zwar gingen die Preise für Gas, Benzin und Grundnahrungsmittel im Frühsommer kurzzeitig etwas runter, mittlerweile sind sie jedoch höher als vor der Wahl. Auch in der Agrarwirtschaft gibt es keine Verbesserungen, das Land ist noch immer abhängig von Reisimporten. Einen wichtigen Schritt ist die neue Regierung allerdings gegangen: Gleich nach den Wahlen wurden Fischereiabkommen mit verschiedenen Ländern außer Kraft gesetzt.

Der Beginn eines revolutionären Prozesses?

Auch Wades Amtszeit hatte mit der Unterstützung der Jugend begonnen, als er im Jahr 2000 seinen Vorgänger Abdou Diouf ablöste; auch damals riefen die Protestierenden zum »Wandel« auf. Wie dieser mit der neuen Regierung aussehen soll, bleibt ein halbes Jahr nach dem Amtsbeginn von Sall ungewiss. Der französisch-libanesischer Politikwissenschaftler Gilbert Achcar sieht Senegal gleichwohl am Beginn eines revolutionären Prozesses: »Zwar hat sich die Gesellschaftsstruktur des Landes noch nicht verändert, aber in einem ersten Schritt haben die Senegalesen ihre demokratischen Rechte verteidigt. Das war ein Erdbeben, aber wir stehen noch ganz am Anfang. Die Revolution wird nur erfolgreich sein, wenn es tiefgreifende Veränderungen gibt.«

Auch Awadi blickt in die Zukunft: »Nach der Revolte kommt die Revolution. Ich hoffe, dass am Ende dieses langen Prozesses jeder senegalesische Bauer Eigentümer seiner eigenen Zukunft ist und die internationalen Schiffsflotten vor der Küste verschwunden sind.« Wie lang der Prozess bis hin zu konkreten Veränderungen ist, darauf hat der Journalist Barro eine Antwort: »Wenn jemand sät, darf er nicht erwarten, dass er sofort ernten kann. Aber wir müssen dafür sorgen, dass die Jugend von heute später ernten kann. Wir wollen im Senegal leben, wir wollen dort bleiben. Aber der Wechsel nimmt Zeit in Anspruch, der Zorn muss kanalisiert werden, und die Jugendlichen müssen die Akteure auf Senegals Weg der Demokratie sein. Wir haben uns eine Perspektive bis zum Jahr 2022 gesetzt, dann schauen wir mal, was wir geschafft haben.«

Haidy Damm

ist freie Journalistin.

Anmerkungen:

1) Die CREI (Cour de répression de l’enrichissement illicite – Gerichtshof zur Verfolgung illegaler Bereicherung) wurde 1981 vom damaligen sozialistischen Präsidenten Abdou Diouf (1980-2000) geschaffen. Nach der Wahl von Macky Sall wurde sie reaktiviert.

2) Patrice Lumumba (* 1925), der erste Ministerpräsident der unabhängigen Republik Kongo, wurde am 17.1.1961 nach einem Staatsstreich und unter Mitwirkung der belgischen Kolonialmacht ermordet. Der Freiheitskämpfer gilt als Symbol und Vorbild für ein unabhängiges, antiimperialistisches Afrika.

3) Thomas Sankara (* 1949) war der fünfte Präsident von Burkina Faso. Der Sozialist gilt als Visionär der Freiheit, der schon früh die ökologische Bedrohung und die Verwerfungen der Globalisierung sah und bekämpfte. Sankara wurde am 15.10.1987 bei einem Putsch des Militärs unter Führung des noch heute amtierenden Nachfolgers im Amt des Präsidenten, Blaise Compaoré, ermordet. (Siehe auch den Artikel von Aziz Salmone Fall in ak 577.)