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|Thema in ak 661: Polizei

Kultur der Straflosigkeit

Die Kampagne Death in Custody recherchiert Todesfälle in Gewahrsamssituationen, berichten Nico Fochler und Katharina Schoenes

Interview: Paul Dziedzic

159 Todesfälle von Schwarzen Menschen und POC in Gewahrsam oder durch die Polizei seit 1990 hat die Kampagne recherchiert. Fast immer kommen die Verantwortlichen straflos davon. Illustration: Andreas Homann

Vor einem Jahr gründete sich das antirassistische Bündnis Death in Custody anlässlich des Black-Lives-Matter-Monats. Es dokumentiert Todesfälle von Schwarzen Menschen und POC durch Polizei- und Sicherheitskräfte und fordert grundsätzliche Veränderungen.

Nach der Ermordung von George Floyd durch die Polizei habt ihr eine Studie angekündigt, die sich mit dem Tod von Schwarzen Menschen und Menschen of Colour im Gewahrsam beschäftigt. Seit 1990 habt ihr bisher 159 Fälle registriert. Über diese erschreckende Zahl hinaus, was ist euch aufgefallen bei der Recherche?

Nico: Wir wollen aufzeigen, dass es hier genauso Fälle gibt wie in den USA, sie sind nicht weniger schlimm. Eine Sache, die sich bei Todesfällen von Rassismus Betroffenen durchzieht, ist, dass Polizistinnen oder Sicherheitsmitarbeiterinnen fast immer ohne Strafe davonkommen. Sie müssen nichts befürchten, wenn es wieder passiert.

Katharina: Wir haben nicht bei allen Fällen genaue Informationen, manchmal sind es nur ein paar Sätze, so dass wir nicht immer rekonstruieren können, was im Einzelnen passiert ist. Aber es gibt auch andere Fälle, bei denen mehr Einzelheiten bekannt sind – vor allem, wenn sich um diese Fälle Initiativen gegründet haben, die das dokumentiert und versucht haben, die Verantwortlichen zur Rechenschaft zu ziehen. Ganz häufig sind typische Kontaktsituationen mit der Polizei der Ausgangspunkt. Das sind zum Beispiel sogenannte anlasslose Kontrollen, Racial Profiling, das ein viel breiteres Problem darstellt als die Fälle, die dann zum Tod führen. Das müssen wir natürlich zusammen diskutieren. Etwa ein Drittel der Fälle sind Erschießungen oder physische Gewaltanwendungen durch die Polizei, zum Beispiel zu Tode prügeln, ersticken oder Brechmittelfolter. Ungefähr die Hälfte sind Selbsttötungen in Haft, Abschiebehaft oder Gewahrsamssituationen. Das sind die zwei großen Blöcke. Dann gibt es Kategorien wie auf der Flucht vor der Polizei zu Tode gekommen und ganz wenige Fälle, wo die Todesursache unklar ist, aber es sich zum Beispiel um unterlassene Hilfeleistung in Haft- und Gewahrsamssituation handeln könnte.

Nico: Tatsächlich sind relativ viele der Fälle, die wir recherchiert haben, auch sogenannte Suizide in Haft oder in Abschiebehaft. Wir nehmen diese Fälle aus zwei Gründen mit rein. Erstens, weil wir die Sicht vertreten, dass es keinen Freitod im Knast gibt. Und zweitens dürfen wir den Angaben der Behörden nicht trauen. Das zeigt sich im Fall Oury Jalloh. Da wurde auch die ganze Zeit von Suizid gesprochen, mittlerweile ist klar, dass es nicht so war. Wir müssen davon ausgehen, dass es weitere solche Fälle gibt und dass wir noch nicht auf alle gestoßen sind. Wir versuchen, weiter zu recherchieren. Auf unserer Webseite rufen wir auch dazu auf, dass sich Menschen, die von Fällen wissen, die noch nicht aufgeführt sind oder mehr Details zu den jetzigen Fällen haben, bei uns melden.

Die Interviewpartner*innen

sind Mitglieder der Recherche-AG des Death-in-Custody-Bündnisses.
Nico Fochler ist bei der Kampagne für die Opfer rassistischer Polizeigewalt (KOP) aktiv, die institutionellen Rassismus bei der Polizei untersucht. KOP hat Death in Custody im Juni 2019 mitbegründet.
Katharina Schoenes ist bei Justizwatch aktiv. Die Gruppe arbeitet zu Rassismus in der Justiz und ist Teil von Death in Custody.
Death in Custody dokumentiert Todesfälle in Gewahrsam und fordert eine vollständige Aufklärung sowie die Stärkung der Rechte der Betroffenen.

Welche Forderungen lassen sich auf Grundlage der Studie formulieren?

Katharina: Die Kampagne fordert, dass die Straffreiheit für Täter*innen aufhört. Dass Todesfälle aufgeklärt werden und dass die Schuldigen zur Verantwortung gezogen werden. Damit ihnen klar wird, dass es so nicht weiter gehen kann und es Folgen haben wird, wenn sie wieder Menschen ermorden. Es ist auch wichtig, Solidarität mit den Angehörigen zu zeigen. Was immer wieder passiert ist, dass Getötete im Nachhinein kriminalisiert werden, um die Gewaltanwendung zu rechtfertigen. Mal ist es, weil eine Person ein Dealer gewesen sein soll, mal soll sie ein Messer gehabt haben. Und häufig stimmt es einfach nicht. Man sieht auch immer wieder, auch bei nicht-tödlicher Gewaltanwendung, dass die Narrative der Polizei oftmals unhinterfragt übernommen werden, sei es in Medienberichten oder im weitesten Sinne von der Mehrheitsgesellschaft. Das muss aufhören. Dann gibt es auch Forderungen, die ohnehin schon die ganze Zeit erhoben wurden. Eine Sache wäre zum Beispiel, dass die Polizei wieder stärker aus dem Leben der Leute gedrängt werden muss, damit nicht erst solche Kontaktsituationen entstehen, die dann tödlich enden. Das hieße, endlich die »anlasslosen Kontrollen« abzuschaffen, um den öffentlichen Raum für alle Menschen sicher zu machen.

Nico: Generell ist wichtig, dass struktureller Rassismus als Problem anerkannt wird. Auf den Vorwurf des Rassismus antwortet die Polizei meist mit: »Es gibt keinen Rassismus hier bei uns.« Eine konkretere Forderung ist die Einrichtung unabhängiger Beschwerde- und Ermittlungsstellen. Denn gerade gibt es keine Instanz, die die Polizei kontrolliert, sie ermittelt gegen sich selbst. Es ist nicht zu erwarten, dass dabei viel herauskommt.

Katharina: Wichtig ist, dass diese Stellen mit umfassenden Befugnissen ausgestattet werden. Es reicht nicht aus, wenn die Betreffenden zwar hin und wieder etwas Richtiges kritisieren, aber im Großen und Ganzen eine Feigenblattfunktion einnehmen, die nicht dazu führt, dass sich grundsätzlich etwas ändert.

Die Ombudsfrau von New Orleans, Susan Hutson, hat ein relativ fortschrittliches Projekt mit aufgebaut, vor allem dank eines Konzepts namens Community-Led Policing.

Nico

Gibt es da positive Beispiele?

Nico: Bei einer Veranstaltung von KOP Berlin hatten wir die Ombudsfrau von New Orleans, Susan Hutson, eingeladen. Sie hat ein relativ fortschrittliches Projekt mit aufgebaut, vor allem dank eines Konzepts namens Community-Led Policing. Es ist ein stark von der Community getragenes Konzept. Sie war auch von den staatlichen Institutionen unabhängig, hatte aber gleichzeitig weitreichende Befugnisse. Beispielsweise hat sie Einsicht in Ermittlungsakten, kann Tatorte und Beweismittel betrachten. Darüber hinaus wäre bei einer unabhängigen Instanz die Zugänglichkeit für Betroffene wichtig. Das hieße, dass so eine Stelle zum Beispiel nicht in einer Polizeiwache liegen kann. Eine weitere Frage wäre die der Repräsentation. Es wäre wichtig, dass dort Personen arbeiten, die selbst Rassismuserfahrungen machen, zu denen Betroffene rassistischer Polizeigewalt ein Vertrauensverhältnis aufbauen können.

In Berlin ist das Landesantidiskriminierungsgesetz eingeführt worden. Aus andern Bundesländern und von der Polizeigewerkschaft gab es Kritik. Was haltet ihr davon, dass es eingeführt worden ist?

Nico: Auf jeden Fall gut. Es ist auch entlarvend, wie sich die Polizei darüber beschwert hat, weil sie eigentlich damit sagt, dass sie, wenn sie nicht mehr rassistisch vorgehen darf, ihre Arbeit nicht machen kann.

Ändert sich auch etwas am Fokus der Medien? Einige sagen, dass zum ersten Mal auch von Rassismus in Verbindung mit Polizeigewalt gesprochen wird. Das haben viele jahrelang vermieden.

Nico: Ich könnte mir vorstellen, dass die Polizei mit ihrer Leugnung rassistischer Fälle nicht mehr lange so weitermachen kann wie bisher, weil da jetzt einige genauer hinschauen.

Katharina: Ich war schon überrascht, dass es so ein großes Interesse an der Fallzahl gibt, die wir recherchiert haben. Jetzt ist die Frage, wie lange das Interesse anhält, ob es über die Nennung dieser Zahl hinaus anhalten wird. Was ich auch ungewöhnlich finde, ist, dass mehrere große Medien ein Interesse an dieser Recherche hatten, die ja nicht mal eine große Plattform hat wie ein Uniforschungsprojekt, sondern tatsächlich das Ergebnis einer aktivistischen Recherche ist.

Wie sehen im Idealfall die nächsten Schritte aus?

Nico: Wir würden uns gerne mit noch mehr Menschen vernetzen, die zu diesem Thema arbeiten. Die Oury Jalloh Initiative, die ja auch Teil des Bündnis ist, hat zum Beispiel sehr viel gemacht: Das Thema angesprochen, Betroffenen ein Gefühl der Ohnmacht genommen, sie hat es sogar geschafft, selbst zu ermitteln. Auch das könnte durch eine gemeinsame Unterstützung und Organisierung helfen. Oder bei gerichtlichen Vorgehen mit Anwält*innen zu unterstützen. Anlaufstellen für Opfer rassistischer Polizeigewalt gibt es vielerorts in Deutschland außerhalb der großen Städte nicht. Vernetzung und Kontakte mit anderen Angehörigen-Initiativen könnten noch mehr passieren.

Katharina: Wir werden die umfassenderen Ergebnisse veröffentlichen, auch, um nicht bei den bisherigen Zahlen stehen zu bleiben, sondern zusätzlich ausführlichere Porträts der Verstorbenen in Zusammenarbeit mit Angehörigen und Initiativen zu erarbeiten. Das staatliche Narrativ soll nicht das sein, was übrig bleibt. Es ist wichtig, die Geschichten aus der Perspektive der Betroffenen zu erzählen. Es passiert gerade vieles, was dafür spricht, die Kampagne größer zu machen. Es wäre super, wenn es der Kampagne gelingen würde, das aufzugreifen.