Vor dem Virus sind nicht alle gleich
Sozialer Status und Gesundheit hängen bekanntermaßen zusammen. In Zeiten von Covid-19 zeigt sich dies besonders deutlich
Von Nelli Tügel
Das erste Corona-Opfer der Bundesrepublik war ein Streik: Die Beschäftigten der Charité-Tochterfirma CFM waren gezwungen, ihre Anfang März geplante Arbeitsniederlegung abzublasen – wegen erster bestätigter Fälle in Berlin. Seit Jahren kämpfen sie für Tariflöhne, ebenso wie die Pflegekräfte der Bundesrepublik seit langem für verbindliche Personalbemessungen, denn zu wenige von ihnen müssen sich um zu viele Patient*innen kümmern. Das durch das profitorientierte Fallpauschalen-System auf den Rücken von Beschäftigten und Patient*innen heruntergewirtschaftete Gesundheitswesen der Bundesrepublik sieht sich nun mit einer Epidemie konfrontiert – und es fehlt schon jetzt an allen Ecken und Enden. Die Folgen werden neben den dort Arbeitenden vor allem Menschen tragen, die nicht über finanzielle Ressourcen verfügen.
Denn Infektionskrankheiten diskriminieren zwar nicht, dennoch sind sie immer auch Krankheiten der Armen: Nicht alle Menschen sind vor einem Virus gleich. Wer etwa in beengten räumlichen Verhältnissen lebt, ist verletzlicher als Personen, die sich in ihre großzügigen Häuser zurückziehen können. Wer darauf angewiesen ist, mit dem öffentlichen Nahverkehr zum Ort der Lohnarbeit zu fahren, ist wesentlich anfälliger für eine Ansteckung als andere. Gerade auch unter den besonders vulnerablen alten Menschen sind viele, die arbeiten gehen müssen, um ihre Rente aufzustocken. Und wer in einem irregulären Beschäftigungsverhältnis steckt, kann sich nicht einmal krankmelden und eine Lohnfortzahlung beziehen. Wer keine Krankenversicherung hat oder unter das Asylbewerberleistungsgesetz fällt, dem sind hohe Hürden für eine Behandlung gesetzt. Auch die viel besprochenen Hamsterkäufe setzen voraus, dass dafür Mittel vorhanden sind. ALG-II-Bezieher*innen beispielsweise können keine Vorräte anlegen, dafür ist der Regelsatz in keinster Weise angelegt, der es ja kaum ermöglicht, unter normalen Umständen über die Runden zu kommen. Eine der ersten Institutionen, die die Folgen der Corona-Krise zu spüren bekamen, waren die Tafeln und damit Menschen, die auf die dortigen Lebensmittelausgaben angewiesen sind. Die Berliner Erwerbsloseninitiative BASTA! fordert vor diesem Hintergrund sofortige Corona-Sonderzahlungen an Menschen mit Sozialleistungen und niedrigen Einkommen.
Arme Menschen sterben früher
Auch die vielen sich von Auftrag zu Auftrag hangelnden Freischaffenden – Künstler*innen, Autor*innen oder Journalist*innen – trifft die notwendige Welle von Veranstaltungsabsagen hart. Taxifahrer*innen haben kaum noch Fahrgäste, Sexarbeiter*innen weniger Kund*innen; Beschäftigen in diversen Branchen droht perspektivisch Jobverlust, und zwar vor allen denen, die dem in den vergangenen Jahren gewachsenen Heer von Leiharbeiter*innen angehören. Nach Jahrzehnten neoliberaler Politik hat überdies nicht nur die öffentliche Daseinsvorsorge – darunter das Gesundheitswesen – arg gelitten, es wurden auch all jene Netze immer mehr eingezogen, die die Betroffenen unvorhergesehener Krisen auffangen könnten.
Corona ist damit nicht einfach »nur« eine gefährliche Viruserkrankung, sondern Teil eines umfassenden sozialen Verhältnisses, in dem Ansteckungsgefahren, Überlebenschancen und generell die Lebenserwartung immer auch davon abhängen, welchen ökonomischen Status eine Person genießt. Auch jenseits akuter Krisen ist Gesundheit eine soziale Frage: So beträgt hierzulande der Unterschied in der Lebenserwartung zwischen ärmeren und reicheren Menschen bei Frauen vier bis sechs und bei Männern acht Jahre, der Unterschied zwischen den niedrigsten und den höchsten Einkommensgruppen liegt bei zehn Jahren.
Herrschende Prioritäten
Angesichts von Covid-19 zeigt sich nun erstens sehr konkret und akut, was dies bedeutet und zweitens, welche Prioritäten im Kapitalismus von oben gesetzt werden. Mit dem Satz »Es ist sicher leichter, auf ein Konzert, einen Klubbesuch, ein Fußballspiel zu verzichten, als auf den täglichen Weg zur Arbeit« brachte Gesundheitsminister Jens Spahn (CDU) das Paradigma der Herrschenden auf den Punkt. Hauptsache, Lohnarbeits- und Jobcentermaschinerie laufen weiter – mit allen Folgen, die dies hat für jene, die tatsächlich nicht selbst darüber bestimmen können, ob sie den Weg zur Arbeit oder zur Antragstellung auf sich nehmen.
Die Handlungsmöglichkeiten, die eigene Lage am Arbeitsplatz zu verbessern, sind indes – das zeigt der eingangs erwähnte abgesagte CFM-Streik – schon in den ersten Tagen der Corona-Krise in Deutschland eingeschränkt worden. Nicht unwahrscheinlich, dass es in den kommenden Wochen weitere Versuche geben wird, mit Verweis auf das Virus und die mit seiner Ausbreitung einhergehenden Herausforderungen, etwa das Streikrecht sowie weitere Arbeiterrechte infrage zu stellen.