250 Millionen gegen Modi
Das neue indische Staatsbürgerrecht hat eine Massenbewegung gegen die hindu-nationalistische Regierung auf die Straße gebracht
Von Elias König und Mihir Sharma
Shaheen Bagh ist eines der unauffälligen Viertel Neu-Delhis. Gewöhnlich verirren sich nur wenige Menschen in die im Südosten der indischen Hauptstadt gelegene, muslimisch geprägte Arbeitergegend. Seit einigen Wochen aber ist Shaheen Bagh in Indien in aller Munde. Das Viertel ist zum Synonym für den Widerstand gegen die diskriminierende Politik der Regierung geworden. Auf der Straße Nr. 13A, auf der gewöhnlich der Hauptstadtverkehr den Stadtteil durchquert, befindet sich seit dem 14. Dezember die vielleicht berühmteste Straßenblockade der Nation.
Es ist nicht einfach für Außenstehende, die Blockade überhaupt zu erreichen – mehrere »Checkpoints« sind der Sitzblockade vorgeschaltet, man wird nach Name, Beruf und Herkunft gefragt. Die Protestierenden sind vorsichtig, denn in den letzten Wochen hat es viel Gewalt gegeben, nicht nur vonseiten der Polizei, sondern auch von gewaltbereiten Gruppen, die mit der regierenden Bharatiya Janata Party (BJP) assoziiert sind. Sobald aber der Ort des Protests erreicht ist, herrscht eine ausgelassene Atmosphäre. Junge Menschen, angereist aus allen Landesteilen, singen, tanzen und verteilen Essen. Freiwillige bieten medizinische Unterstützung an, andere kochen. Und in der Mitte: die Frauen von Shaheen Bagh, die den Protest organisieren und anführen.
Ursprünglich waren es nur etwa zehn Personen, die den Protest begannen, doch die brutale Repression sowie Übergriffe durch die Polizei haben inzwischen Tausende bewogen, sich ihnen anzuschließen. Auch nach mehreren klirrend kalten Wochen (Delhi erlebt gerade eine Rekordkältewelle) sind sie noch dort, trotz Räumungsaufforderungen und Bedrohungen durch die Polizei.
Der Widerstand in Shaheen Bagh ist symbolträchtig und doch kein Einzelfall. In den vergangenen Wochen hat Indien eine seit Jahren nicht gesehene Protest-welle erlebt. Hunderttausende gingen gegen die hindu-nationalistische BJP-Regierung auf die Straße – unter ihnen Studierende, religiöse Minderheiten, Frauen, Linke und indigene Gruppen. Zusätzlich zu den Demonstrationen in Delhi waren es 300.000 in Mumbai, 100.000 im Bundesstaat Kerala und Tausende auch im Nordosten des Landes, wo die Politik der Regierung auf besonders viel Ablehnung stößt. In der Kleinstadt Gaya etwa traten Hunderte Menschen in einen unbefristete Sitzstreik gegen die Gesetze.
Diskriminierendes neues Staatsbürgerrecht
Die Wut der Protestierenden richtet sich gegen den Citizenship Amendment Act (CAA), das am 12. Dezember vom indischen Präsidenten Ram Nath Kovind unterschriebene neue Staatsbürgerschaftsgesetz. Auf den ersten Blick erscheint das Gesetz harmlos: Es verspricht lediglich einen vereinfachten Einbürgerungsprozess für Geflüchtete aus den Nachbarländern Pakistan, Afghanistan und Bangladesch. Der entscheidende Punkt ist jedoch, dass zum ersten Mal die Religionszugehörigkeit zum Kriterium für die Staatsbürgerschaft wird. Muslime werden nämlich im Gesetzestext von der Regelung ausgeschlossen.
Das ist im säkularen Indien ein Novum und nach Ansicht vieler Expert*innen verfassungswidrig. Für viele ist der CAA auch im Zusammenhang mit dem von der Regierung geplanten Bürgerregister NRC (National Register of Citizens) zu lesen. Menschen, die in diesem Prozess ihre Staatsbürgerschaft nicht beweisen können, etwa weil sie keine gültigen Dokumente vorweisen können, droht nach dem geplanten Gesetz die Inhaftierung in Internierungslagern.
Momentan wird das erste regionale NRC im nordindischen Bundesstaat Assam eingeführt. Allein dort könnten bis zu 1,9 Millionen Menschen von Inhaftierung betroffen sein. Die Bedingungen in den Lagern sind unmenschlich. Mehr als 20 Menschen sind in ihnen bereits ums Leben gekommen. Eine Kombination aus CAA und NRC würde der Regierung erlauben, manchen Inhaftierten die Staatsbürgerschaft anzuerkennen und so ihre Internierung zu vermeiden. Muslimen und Angehörigen einiger anderer Minderheiten (indigener Gruppen, Geflüchteter aus Sri Lanka und Myanmar) bliebe diese Option verwehrt. Im Zusammenspiel bieten das neue Staatsbürgerschaftsgesetz CAA und das Bürgerregister NRC der Regierung die Möglichkeit, selektiv bestimmte Teile der Gesellschaft zu internieren.
Hindu-Nationalismus mit faschistischen Wurzeln
NRC und CAA fügen sich in eine Reihe hindu-nationalistischer Politikentscheidungen ein, die die zweite Legislaturperiode unter Premierinister Narendra Modi prägen. Seit Modi und seine Partei BJP im Mai 2019 wiedergewählt wurden, entzog die Regierung der mehrheitlich muslimischen Region Kaschmir den Sonderstatus, verstärkte die ohnehin massive Zahl der Soldat*innen in der Region, verhaftete Hunderte Politiker*innen und schaltete für mehrere Monate das Internet ab. (ak 652) Im November gab das indische Verfassungsgericht in einer weiteren kontroversen Entscheidung grünes Licht für den Bau eines hinduistischen Tempels auf dem Gelände einer ehemaligen, 1992 von Hindu-Fundamentalisten zerstörten Moschee im nordindischen Ayodhya. All diese Entscheidungen haben das Land gespalten: Während viele Menschen sie als Bedrohung des säkular verfassten Indiens ablehnen, begrüßen Anhänger*innen der Regierungspartei sie als Schritt zur Etablierung des lang herbeifantasierten »Hindu Rashtra«, eines hinduistischen Staates.
Um diese Sehnsucht zu verstehen, ist ein Blick in die Geschichte der regieren-den BJP hilfreich. Die Partei ist historisch eng mit dem Rashtriya Swayamsevak Sangh (RSS) verknüpft, einer hindu-nationalistischen Organisation, als deren parlamentarischer Arm die Partei ursprünglich gegründet wurde. Der RSS ist eine Art Freiwilligenkorps, das 1925 nach dem Vorbild von Mussolinis Schwarzhemden entstand. Das Weltbild des RSS ist geprägt durch die Hindutva-Ideologie von Vinayak Damodar Savarkar. Savarkar propagierte die Idee einer kollektiven Hindu-Identität als Basis einer indischen Nation. Muslime und Christ*innen sah er als unpassend für einen Hindu-Nationalstaat an. Weitere Vordenker und Mitglieder der Organisation waren Persönlichkeiten wie Madhav Sadashiv Golwalkar, ein fanatischer Bewunderer Adolf Hitlers, und Nathuram Godse, der Mörder Mahatma Gandhis. Unter der Regierung Modi scheinen die Träume dieser Männer zu einem mehrheitsfähigen Politikprogramm geworden zu sein.
Massenproteste gegen die Regierung
Die landesweiten Proteste, die Ende des letzten Jahres begannen und auch 2020 bisher nicht nachlassen, scheinen die Re-gierung jedoch überrascht zu haben. Premierminister Modi und Innenminister Amit Shah, der Architekt des Gesetzes, reagierten mit einer überhasteten Doppelstrategie: Zum einen initiierten sie eine Beschwichtigungs- und Desinformationskampagne, um »Missverständnisse« über das neue Gesetz aufzuklären. Hierbei spielt die BJP IT Cell, die Kommunikationszentrale der Partei, eine entscheidende Rolle. Wie keine andere Partei in Indien hat es die BJP verstanden, die sozialen Medien für ihre Zwecke zu nutzen. Unter anderem können ihre Mitglieder über die Narendra-Modi-App vorgefertigte Tweets teilen und Infografiken herunterladen. Nachdem der Telefonanbieter Jio, dessen Besitzer zu den BJP-Großspendern gehören, kostenlose Datenpakete anbot, wechselten Millionen Menschen ihren Anbieter, wodurch für sie nur Parteipropaganda in den Nachrichten-Apps verfügbar ist. Gruppennachrichten, die über zahlreiche parteinahe Whatsapp-Gruppen in Umlauf gebracht werden, sind ein weiteres wirksames Propagandainstrument der BJP IT Cell.
Andererseits wurden die Proteste vor allem in den von der BJP regierten Bundesstaaten oft brutal niedergeschlagen. Insgesamt 27 Menschen starben bisher bei den Demonstrationen, mehr als 1.000 wurden verletzt. Besonders schlimm ist die Situation in Kaschmir und im einwohnerreichsten Bundesstaat Uttar Pradesh, wo seit März 2017 der fundamentalistische Mönch Yogi Adityanath regiert. Mindestens 15 Protestierende wurden allein in Uttar Pradesh von der Polizei ermordet, darunter mehrere Minderjährige. Mehr als 1.000 Menschen wurden verhaftet, mehr als 5.000 unter »präventiven« Hausarrest gestellt. Berichte über Folter und Vergewaltigungen in Polizeigewahrsam machen die Runde. Auch gab es Attacken auf muslimische Geschäfte und Privathäuser.
Im Dezember griff die Polizei in der im Norden des Bundesstaates gelegenen Stadt Aligarh in der Aligarh Muslim University friedliche Demonstrationen mit Tränengas und Schlagstöcken an. Ähnliche Polizeiangriffe auf Student*innen gab es in der Jamia Milia Islamia Universität in Delhi. In der Jawaharlal Nehru Universität (die bei Rechten als »linksversifft« gilt) attackierten am 5. Januar 50 bis 60 maskierte Männer und einige Frauen Professor*innen und Student*innen mit Eisenstangen. Inzwischen wurde bekannt, dass mindestens ein Dutzend von ihnen Mitglieder des Studentenbundes der BJP sind. Eine rechtsextreme Hindu-Organisation übernahm die Verantwortung für den Angriff.
Am 8. Januar organisierte ein Bündnis der linken Gewerkschaften den größten Generalstreik in der Geschichte Indiens.
Der Chief Minister von Uttar Pradesh und weitere Minister seiner Regierung haben in der Vergangenheit selbst Hetzjagden auf Muslime angeführt. Yogi Adityanath ist für seine antimuslimische Hetze und Politik berüchtigt. Viele Gewerkschafter*innen, Schriftsteller*innen und Wissenschaftler*innen sehen in den jüngsten Ereignissen deshalb eine wachsende faschistische Bedrohung.
Schon jetzt aber haben auch die Proteste Wirkung gezeigt: Mehrere Bundesstaatsregierungen haben angekündigt, den CAA, der am 10. Januar in Kraft trat, und das geplante NRC nicht umzusetzen. Da viele Menschen den großen Oppositionsparteien wie dem Indischen Nationalkongress (INC), der in der Vergangenheit für neoliberale Reformen verantwortlich war und in Korruptionsskandale verstrickt ist, nicht mehr vertrauen, haben die Demonstrationen eine Art außerparlamentarische Opposition zusammengebracht. Angeführt von Dalit-Organisationen (1), Indigenen (Adivasis), linken Parteien, Frauen und der muslimischen Community bilden die Proteste genau jenes säkulare und diverse Indien ab, das sie verteidigen wollen.
Nach einigen Wochen formierte sich auch auf nationaler Ebene breiterer Widerstand: Am 8. Januar organisierte ein Bündnis der linken Gewerkschaften den größten Generalstreik in der Geschichte Indiens. Rund 250 Millionen Arbeiter*innen nahmen teil – und das, obwohl sich die größte indische Gewerkschaft nicht am Streik beteiligte, die mit dem RSS verbandelte Bharatiya Mazdoor Sangh.
Die Streikenden protestierten unter anderem gegen ein neues Gesetz, das das Streikrecht und andere gewerkschaftliche Rechte einschränken soll, gegen die Privatisierungen in öffentlichen Sektoren wie Bahn und Flugverkehr, für einen Mindestlohn von 15.000 Rupien (rund 200 Euro) sowie gegen das NRC und den CAA.
Dabei trägt auch die angespannte ökonomische Situation zum Unmut bei. Das Wirtschaftswachstum in Indien liegt nur noch bei gut sechs Prozent, das ist der niedrigste Wert seit 2013. Die Arbeitslosigkeit steigt, ebenso die schon erhebliche Unterbeschäftigung. Und die neoliberale Politik der BJP kann bisher keinen Erfolg beim Kampf gegen die Preisinflation bei Lebensmitteln und Kraftstoff vorweisen. In den jüngsten Wahlkämpfen im reichsten Bundesland Indiens, Maharashtra, sowie im östlichen Jharkand verlor die BJP Ihre Mehrheiten und konnte keine Koalition bilden.
Solidaritätsproteste in Deutschland
In Berlin und München haben sich Initiativen gegründet, die Veranstaltungen und Solidaritätsdemonstrationen mit den Protesten in Indien organisieren. Informationen und Termine unter www.berlinforindia.org, auf Facebook ebenfalls unter Berlin for India sowie bei Indians Against Facism – Munich.
Aufgrund der Proteste musste Premierminister Modi einen für den 10. Januar geplanten Besuch in Assam absagen. In vielen Landesteilen ist er nicht mehr willkommen. Am 21. Januar entscheidet das Verfassungsgericht in Neu-Delhi, ob das CAA-Gesetz verfassungswidrig ist. In mehr als 50 Städten sind weitere Proteste angekündigt.
Für viele Menschen in Indien geht es um ihre Existenz. Die Frauen von Shaheen Bagh sind weiter auf der Straße. »Wir werden weiterkämpfen, bis die Regierung das Gesetz zurücknimmt«, erklärten am 6. Januar auch Student*innen der JNU.
Anmerkung:
1) Die am stärksten unterdrückte Gruppe im indischen Kastenwesen.