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|ak 642 | Geschichte

Duisburg 1984

In Duisburg starben im August 1984 sieben türkeistämmige Menschen bei einem Brandanschlag – eine Initiative trägt erstmals Spuren für eine mögliche Aufklärung zusammen

Von Ceren Türkmen

Screenshots aus einem WDR-Fernsehbeitrag zum Brandanschlag im Duisburger Stadtteil Wanheimerort.

Unweit des Hochofens des Stahlproduzenten Mannesmann in Duisburg-Wanheim sterben bei einem Brandanschlag auf ein Wohnhaus in einer Arbeitersiedlung am 26. August 1984 sieben Mitglieder einer »Gastarbeiterfamilie« aus Adana im Süden des Taurusgebirges der Türkei. Mehr als 30 Bewohner_innen des Hauses erleiden Verletzungen. Ramazan Satir, der Familienvater, überlebt. Er verliert seine Ehefrau, Töchter und Enkelkinder. Das Feuer breitete sich vom Erdgeschoss über das hölzerne Treppenhaus der Altbaus sehr schnell nach oben aus, berichtet die lokale und regionale Presse am darauffolgenden Tag.

Der WDR strahlte am Tag nach dem Anschlag einen vierminütigen Beitrag vor den Trümmern des ausgebrannten Hauses aus. Die Reporter_innen Lisa Trunk und Gerd Engel begleiten Ramazan Satir sogar bis in die Türkei und schreiben im August 1984 einen mehrseitigen Bericht über die Beerdigung für den Stern. Die Cumhuriyet berichtet, dass Satir während der Beerdigung mehrmals mit Beruhigungsspritzen versorgt werden musste und wiederholt in Ohnmacht fiel. Er arbeitete in der Stahl- und Kohlestadt Duisburg als Fabrikarbeiter. 1985, ein Jahr nachdem er seine Familie verloren hat, lebt er wieder in Adana in der Türkei und rast auf der Schnellstraße mit seinem PKW in einen Schwerlasttransporter. Er verliert, so die Tageszeitung Milliyet, auf der Stelle sein Leben.

Bis auf die ausführliche Reportage zweier Stern-Journalist_innen über die Trauerfeier in Adana, an der sie im Dorf Köprülü Köy in Ceyhun bei Adana teilgenommen haben, finden sich nirgendwo in den Beiträgen deutscher Medien die vollen Namen der Opfer. In den deutschsprachigen Medien sprechen die Berichterstatter anonymisierend von »sieben Türken« oder »türkischen Mitbürgern«. Die WAZ nennt das Wohnhaus im September 1984 »Türkenhaus«. Einige Berichte kommen ganz ohne nähere Angaben aus und schreiben schlicht von »Opfern«.

Widersprüchliche Berichterstattung

Die Berichterstattung über den Brandanschlag auf das Haus ist gerade anfangs widersprüchlich: So spricht die lokale Polizei am ersten Tag nach dem Brand von einem Kabelbrand im alten, unrenovierten Haus. Erst zwei Tage später meldet die Polizei in der Rheinischen Post, dass Brandbeschleuniger und Objekte im Erdgeschoss des Treppenhauses gefunden wurden, die auf einen eindeutig vorsätzlichen Brandanschlag schließen lassen. Die Brandstifter konnten nicht ausfindig gemacht werden. Mitte November titelte die lokale Presse, etwa die Rheinische Post und die Westdeutsche Allgemeine Zeitung (WAZ), dass die Opfer des »Großbrands« nach der »Katastrophe«, von Stadt, Landesregierung, Nachbarschaft und der Arbeiterwohlfahrt Spenden erhalten haben: Möbel, neue Wohnungen, Sonderurlaub und finanzielle Entschädigung wären bereitgestellt worden. Nur zwei Monate später wird nicht mehr von einem Brandanschlag gesprochen, sondern von einem Großbrand; die Entpolitisierung setzt sich fort.

Zumal der Brandanschlag anfangs lokal aber auch regional für großes Bestürzen und für viel Aufruhr gesorgt hatte. Umso mehr fragen wir uns, wie dieser Brandanschlag mit sieben Toten vergessen werden konnte. Lokale antifaschistische Organisationen und Aktivist_innen in der Umgebung, mit denen wir gesprochen haben, wussten nichts über das Ereignis und zeigten sich erschrocken.

Der Türkei-Infodienst, das Infoblatt der türkischen Arbeiterorganisation FIDEF, fordert 1984 die Aufklärung des Großbrands und berichtet ausführlich darüber. In der konkret erscheint 1984 ein Bericht über rechtsradikale Angriffe, in dem auch auf den Brand in Duisburg eingegangen wird. Dem Bericht zufolge wurde am Morgen nach dem Brand ein Hakenkreuz gesichtet.

Verdacht der Polizei

Eine türkische Tageszeitung gibt im Sommer 1984 den Verdacht der deutschen Polizei wieder, dass es sich um einen kriminellen Bandenkrieg zwischen jugoslawischen und türkischen Familien handle. Später erfahren wir in einem Interview, dass sogar ein jugoslawischer Gastarbeiter mehrere Monate in Untersuchungshaft genommen worden sei. Im September 1984 gründet sich eine Bürgerinitiative namens »Ruhrort«, die von Ausländerfeindlichkeit im Zusammenhang mit dem Brand spricht und einen »Zeugen« zitiert. Die Initiative formuliert einen offenen Brief an die Stadt, auf den sich die Kriminalpolizei und der Bürgermeister Joseph Krings (SPD) im September beziehen.

Den sogenannten Zeugen bezeichnen E. Zimmermann, Chef des ersten Kriminalkommissariats, und der SPD-Bürgermeister, J. Krings, als einen »Auftragszeugen«, dem regelrecht aufgetragen worden sei, »Ausländerfeindlichkeit« zu säen und bewusst die Darstellung zu manipulieren. Krings delegitimiert die Bürgerinitiative als DKP-nahe Gruppe und sagt zur WAZ: »Eine bewußte Irreführung. Ich kratze keinen Rechtsradikalen, den es nicht gibt.« In einem Leserbrief antwortet ein Leser namens H.G. Schmitz auf die Aussage des Bürgermeisters, dass die Manipulationen »einer bestimmten Clique aus einer linken Ecke nötig seien, um östlich des Eisernen Vorhangs gegen Neonazis zu wettern«.

Die anfangs intensive Berichterstattung hört schnell wieder auf. Die lokale Presse berichtet nicht mehr regelmäßig und der_die Täter_in ist unauffindbar. 20 Jahre später erscheint in der WAZ ein weiterer Hinweis für unsere Rekonstruktion: In einem Interview berichtet eben jener langjährige Duisburger Polizeikommissar Zimmermann kurz vor seiner Pensionierung rückblickend über seine Karriere und besonders schwierige Kriminalfälle. Er sagt in dem Interview, dass der Brandanschlag ihn und die lokale Kriminalpolizei lange beschäftigt hätte, sie den Täter »bis nach Afrika gejagt hätten«. Er sei deshalb sehr glücklich, dass zehn Jahre später die Täterin, die er als »Pyromanin« bezeichnet, gefasst worden sei.

Ein rassistisches Motiv wurde ausgeschlossen

Weitere Zeitungsberichte, sowohl aus den türkischsprachigen Pressearchiven als auch aus den Grauen Heften der migrantischen Selbstorganisationen aus den 1980er Jahren und erste Gespräche und Interviews in der migrantischen und nicht-migrantischen Nachbarschaft, lassen Zweifel an der offiziellen Darstellung der Behörden aufkommen. In unseren Recherchen konnten wir ermitteln, dass 1993 eine Frau, E.D., als Einzeltäterin festgenommen wurde, als sie einen weiteren Brandanschlag auf ein Flüchtlingswohnheim verübte. Erst während der gerichtlichen Verhandlung stellte sich heraus, dass es sich dabei um die gleiche Täterin wie im Fall des geschilderten Brandanschlags handelte. Jegliches rassistische Motiv wurde vor Gericht ausgeschlossen, sie wurde in einem forensischen Gutachten als Pyromanin verurteilt und in einer Psychiatrie untergebracht, wo sie erst vor ein paar Jahren verstorben ist. (2)

Die Antwort auf unsere Frage an die Verteidiger von E.D., ob und warum Rassismus als Motiv nicht erwähnt wurde, lautet: Die Täterin hätte schwerwiegende psychische Probleme, sei nicht zurechnungsfähig gewesen, und hat zwischen 1984 und 1993 auch weitere Objekte in der Stadt und in der Umgebung in Brand gesetzt, die nicht in Verbindung mit »Ausländern« stehen; eine Bibliothek etwa, oder einen Mülleimer. Somit könne auf kein eindeutiges Motiv für die Straftaten geschlossen werden. Damit sei auch Rassismus ausgeschlossen. Sieben Tote und zwei Anschläge auf von Migrant_innen und Geflüchteten bewohnte Häuser, sind also kein Hinweis auf eine rassistisch motivierte Tat. Welche Auswirkungen hatten diese staatlichen Entscheidungen auf das politische Erinnern bzw. das Vergessen? Sind sie der Grund dafür, dass sich an die Namen der Opfer nicht erinnert wird, der Brandanschlag selbst in linken Kreisen vergessen wurde?

Erste Nachforschungen in migrantischen Arbeitervierteln von Mannesmann haben gezeigt, dass der Vorfall eine tiefe, ambivalente und noch stumme Wunde in der migrantischen Community hinterlassen hat: Viele Migrant_innen und nicht-migrantische Nachbarn sprechen heute selber von einem »Unglück«, nicht von Rassismus und Brandstiftung. Die Mehrheit steht nach wie vor unter Schock und äußert sich nicht. 1984 schickten Mannesmann, Thyssen und weitere wichtige Duisburger Arbeitgeber in einer aggressiven Rückführungskampagne, die für ganz Westdeutschland als Vorbild dienen sollte, hunderte Migrant_innen aus der Stadt in ihre Herkunftsländer zurück. 1982 war von Rechtsintellektuellen das rassistische Heidelberger Manifest verfasst worden. 1984 gründete sich eine Bürgerinitiative im Ruhrgebiet, die die »Rückführung wegen Überschwemmung des Landes durch die Ausländerflut« einforderte.

Die Aufarbeitung des Brandanschlags auf das Haus in Duisburg 1984, die Recherche und Organisierung, steht noch am Anfang und auch hier gilt es, keinen Schlussstrich zu ziehen. Das Archiv der Staatsanwaltschaft in Duisburg hat die Akten zum Fall zur Verfügung gestellt. (1)

Institutionellen Rassismus nach dem NSU neu denken

Sieben Jahre nach dem Bekanntwerden des Nationalsozialistischen Untergrunds wurde ein verheerendes Urteil im NSU-Prozess am Oberlandesgericht in München verkündet: Beate Zschäpe, die Hauptangeklagte, wurde wegen zehnfachen Mordes zu lebenslanger Haft verurteilt. Weitere mitangeklagte militante Neonazis erhielten so milde Urteile, dass die politische Botschaft des Prozesses, »Zschäpe, die Einzeltäterin«, Freudenschreie auf Seiten der Nazis im Gerichtssaal, und Entsetzen auf der Seite der Aktivist_innen und Angehörigen der Opfer ausgelöst hat. Eine zentrale Akte des hessischen Verfassungsschutz wurde schon vor Urteilsverkündung für 120 Jahre unter Verschluss gestellt.

Die Widersprüche im NSU-Prozess haben Gesellschaft, Medien und Politik zu einem tiefgreifenden Zweifel hinsichtlich der Demokratiefähigkeit staatlicher Institutionen und Strukturen geführt. Migrantische Verbände und Aktivist_innen fordern, die Demokratiefähigkeit Deutschlands daran zu messen, wie mit einer von Neonazis verübter rassistischen Mord- und Anschlagserie gegen Migrant_innen institutionell und diskursiv umgegangen wird. Zeitgleich finden in Großstädten wie Chemnitz Verfolgungsjagden gegen Migrant_innen in Anwesenheit der Polizei statt und die unterlassene Hilfeleistung für Geflüchtete im Mittelmeer wird auf europäischer Ebene legitimiert und legalisiert. Die politischen Reaktionen des Tribunals »NSU-Komplex Auflösen« und der Angehörigen der Opfer auf das Urteil machen deutlich, dass kein Schlussstrich gezogen werden darf. Damit ist der NSU-Komplex auf der Ebene der Organisation von neonazistischen Gruppen und der funktional-politischen Verbindung zum Verfassungsschutz, zur Polizei und zu weiteren Organen der staatlichen Sicherheit weiterhin nicht aufgelöst.

Allerdings sind wir mit der Analyse des Rassismus, seiner Reproduktion, Wirkungsweise, Unsichtbarmachung entlang gesellschaftlicher Sicherheitsdiskurse innerhalb der staatlichen Sicherheitsorgane schon sehr viel weiter. Die Frage lautet also nicht nur, warum die 2000er Jahre hindurch eine neonazistische Untergrundorganisation Migrant_innen ermordete und welche Rassismen sie dazu motivierten. Vielmehr stellen wir uns heute die Frage nach institutionellem Rassismus, der vom Staat ausgeht und nicht notwendigerweise etwas mit Neonazis zu tun hat. Wie konnte sich Rassismus durch die Mordserie hinweg seitens der sicherheitspolitischen und gesellschaftlichen Institutionen – Polizei, Gerichte und Medien – in einem demokratischen Staat weiterhin reproduzieren? Die innenpolitische Kriminalisierung von zuvor innerhalb des Migrationsregimes sozial entrechteten und zu einer »Parallelgesellschaft« erklärten Migrant_innen sowie das Fehlen einer vollen Rechtssubjektivität für Migrant_innen führte dazu, dass selbst aus Opfern des Rassismus Täter_innen gemacht wurden. Institutioneller Rassismus beschreibt also ein Verhältnis, das aus der Hierarchie zwischen dominierenden und ausgeschlossenen sozialen Gruppen entsteht, und nicht allein aus dem individuellen Vorurteil einzelner Beamter oder Mitglieder des NSU.

Antirassismus der 1990er Jahre

Das Wissen um die Wirkungsweise des institutionellen Rassismus und die Erfahrungen des NSU-Komplexes und der Initiative in Gedenken an Oury Jalloh sind zentral. Es hat uns nachwirkend handlungsfähig gemacht, dorthin zu schauen, wohin wir bisher aufgrund von strukturell bedingter Unsichtbarkeit nicht hingeschaut haben oder nicht hinschauen konnten, weil Akten zerstört und Materialien nicht archiviert wurden.

Die Arbeit des NSU-Tribunals findet zu einer Zeit statt, in der es breite antirassistische Initiativen gibt. Das haben die Kämpfe von Migrant_innen und solidarischen Aktivist_innen erreicht. Während des Prozesses haben die Angehörigen der Opfer sich zu Wort gemeldet, sich organisiert, gewehrt, getrauert und angeklagt. Dieses Recht wurde ihnen jahrelang verwehrt. Es haben sich zudem Betroffene unterschiedlicher Konjunkturen rassistischer Gewalt in Deutschland zusammen organisiert. Ibrahim Arslan etwa überlebte im November 1992 während der Pogrome der 1990er Jahre nach der Wiedervereinigung einen Brandanschlag auf das Wohnhaus seiner Familie in Mölln und verlor dabei drei Familienangehörige. Er wurde zu einem zentralen Aktivisten im NSU-Tribunal und solidarisierte sich mit den Betroffenen der NSU-Mordserie.

Dass sich Betroffene und Aktivist_innen während der Pogrome in den 1990er Jahren und heute öffentlichkeitswirksam gegen institutionellen Rassismus organisieren konnten, hat auch viel mit den Strukturen migrantischer Selbstorganisationen und antirassistischer Netzwerke zu tun. Sie haben sich als sichtbare politische Größe in den 1990er Jahren etabliert.

Es stellen sich noch viele Fragen: Kam »der Rassismus« tatsächlich aus dem Osten und nach der Wende? Waren Täter_innen immer organisierte rechte Gewalttäter? Wie haben Gerichte in diesen Fällen entschieden? Wie konnten Opfer rassistischer Gewalt und solidarische Aktivist_innen in den 1980ern, also in Zeiten von aggressiven Rückkehrpolitiken während der wirtschaftlichen Rezession, der Reorganisierung neonazistischer rechter Politik, aber auch Anti-Migrationspolitik in den Volksparteien, sich verteidigen? Wie können wir »Wiedergutmachung« einfordern für viel zu lange vergessene Traumata? Welche Beziehung gibt es zwischen Erinnerungspraktiken, staatlicher Gewalt und Rassismus?

In einem Zeitungsbericht in der Wochenzeitung Die Zeit vom 21. Juni 1980 sagt Do Mui, die Mutter von Do Anh Lan, dass sie nicht mehr alleine um ihren Sohn trauern möchte, der 1980 in Hamburg in seiner Flüchtlingsunterkunft mit Nguyen Ngoc Chau eines der ersten dokumentierten Todesopfer neonazistischer Gewalt ist. Wie viele Opfer, die nicht dokumentiert wurden, sind noch zu beklagen?

Anmerkungen:
1) Unterstützt wurde die Recherche von Tilly, Willi & Bernd Hendricks, Anna Schmidt, Sebastian Friedrich, Meral Akbel, Glokal e.V. und dem Duisburger Institut für Sprach- und Sozialforschung.
2) Gerichte beauftragten Kriminalpsychologen in einem sogenannten forensischen Gutachten, die Schuld-, Einsichts-, oder Steuerungsfähigkeit des Straftäters zu klären, wenn eine vermutete psychischen Erkrankung vorliegt und in Strafprozessen u.a. auch die Rechtsfrage geklärt werden muss, ob die betroffene Person in einem Gefängnis oder in einem Maßregelvollzug bzw. in einer forensischen Psychiatrie untergebracht wird.