Anti-Ableismus und der linke Corona-Diskurs
Ermöglicht die Erfahrung des Lockdowns ein besseres Verständnis der Situation depressiver und ableistisch ausgegrenzter Menschen?
Während die staatlichen Maßnahmen zur Eindämmung von Covid-19 gelockert werden und sich ein Eindruck relativer »Normalität« einstellt, scheint auch die etwas vorschnelle Corona-Textproduktion zurückgefahren zu werden. Weder war die Corona-Krise eine »Chance«, wie optimistische Linke zunächst meinten. Noch waren staatliche Restriktionsmaßnahmen zur Seuchenbekämpfung der Schritt in einen absoluten Ausnahmezustand oder Polizeistaat.
Eine Extremform der pessimistischen Positionen nimmt der italienische Philosoph Giorgio Agamben ein, der den linken geisteswissenschaftlichen Diskurs durch seine immer aggressiver werdenden Beiträge stark strukturierte. Für den Theoretiker des Ausnahmezustands war Covid-19 mit einer normalen Grippe vergleichbar; Hochschullehrer*innen, die sich wegen der Corona-Krise auf das – Zitat Agamben – »Diktat einer Online-Lehre« einließen, das »perfekte Äquivalent« zu denen, die dem italienischen Faschismus 1931 die Treue schworen.
Aber die Corona-Krise ist auch nicht einfach nur »neutral«, wie zum Beispiel der Ex-Maoist und »kommunistische« Ereignistheoretiker Alain Badiou suggerierte. Für ihn war die Pandemie schlicht ein »Nicht-Ereignis«. Angesichts der Lockerungen der Restriktionsmaßnahmen scheint diese Deutung der Corona-Krise an Überzeugungskraft zu gewinnen. War sie nur ein kurzer Betriebsunfall im globalen Kapitalismus? Und welche Lehren können aus ihr gezogen werden, bevor zum »Business as usual« zurückgekehrt wird?
Zunächst und am offensichtlichsten hat sie gezeigt, dass der Staat auch heute – unter kapitalistischen Bedingungen – Produktion einschränken und verändern kann, Flüge verbieten und vieles mehr, wenn der politische Wille vorhanden ist. Theoretisch ausgedrückt: In der Krise gab es ein Primat der biopolitischen Seuchenbekämpfung gegenüber einer kurzfristigen Kapitalakkumulation. Von Mitte Februar bis Mitte März brach der DAX um etwa 5.000 Punkte (mehr als 35 Prozent) ein. Auch wenn die Restriktionen immer unternehmensfreundlich geregelt, Treffen von mehr als zwei Personen draußen untersagt waren, während Arbeiter*innen in der Re-Produktion einem hohen Ansteckungsrisiko ausgesetzt waren, so war klar erkennbar, dass es einen Wert der relativen Gesundheit der Bevölkerung gibt.
Neue Erfahrungen mit Isolation und Einsamkeit
Zweitens und vielleicht nicht ganz so offensichtlich wurde zum ersten Mal für alle potenziell erfahrbar, was es bedeuten kann, grundsätzlich eingeschränkt zu sein – und dass es um die gesellschaftliche Reproduktion möglicherweise nicht gut bestellt ist. Die*der ganz normale weiße Deutsche wie die*der durchschnittliche Aktivist*in kann in Quarantäne die Erfahrung depressiver Einsamkeit genauso machen wie die, temporär eingesperrt zu sein, sich gegebenenfalls als verletzlich und genuin von anderen und der Gesellschaft abhängig zu begreifen und darüber auch die politische Frage stellen, wie be_hinderte oder eingesperrte Personen in einer ableistischen, klassistischen und rassistischen Gesellschaft überhaupt teilhaben können.
Eine Möglichkeit, die in der gegebenen Situation liegt, auch wenn sie jetzt wahrscheinlich nicht erfüllt wird, könnte damit das Erlernen einer grundsätzlich anti-ableistischen Praxis sein. Wie können Menschen in Zukunft allgemein weniger einsam sein oder trotz Einschränkungen an der Gesellschaft, an Re-Produktion und Politik teilhaben?
Dabei scheint manchmal eine Projektion zu passieren, bei der Depressive als Minderheit genannt werden, die angeblich besonders schlimm unter den Folgen des Lockdowns leiden würde. Depressive sind als Teilgruppe von Be_hinderten gesellschaftlich als »schwach« markiert, und die Annahme lautet in etwa, dass unter Bedingungen der Krise diese Schwachen am schlimmsten leiden.
Während das für Personen, die physisch zu einer »Risikogruppe« gezählt werden, plausibel erscheint, ist es bei psychischen Erkrankungen und besonders bei Depressionen zumindest unklarer. Es könnte nämlich auch das Gegenteil der Fall sein: dass Personen mit Depressionen Lockdown-ähnliche Erfahrungen im Prinzip die ganze Zeit machen; nur mit dem Unterschied, dass niemand versteht, wie sich das anfühlt und wie schrecklich der reguläre »Ausnahmezustand« einer depressiven Person eigentlich ist.
Außerdem haben Depressive möglicherweise in langen Prozessen Care-Netzwerke aufgebaut, bei denen die Sorge um die Anderen oftmals ohnehin online passiert, weil wegen der Depression das Haus kaum verlassen werden kann. Aus depressiver Perspektive wäre den gesunden Personen, die unter den Einschränkungen leiden, gegebenenfalls zu entgegen: Hört auf, Depressive vorzuschieben, und lernt, über eure eigene Verletzlichkeit zu sprechen.
Das bedeutet, dass sich der Lockdown für Depressive auch wie eine Angleichung der allgemeinen Lebensbedingungen an die der Depression anfühlen kann. Einerseits kann dass zu dem Bewusstsein führen, dass ein dreimonatiger Lockdown im Vergleich zu einer sechsmonatigen schweren Depression wesentlich weniger schlimm erscheint. (In deutschen Verhältnissen war es für durchschnittliche Bürger*innen in der Regel jederzeit möglich, einkaufen und spazieren zu gehen, ohne unter Angstzuständen oder Suizidalität leiden zu müssen.) Zudem bringen nun alle anderen potenziell mehr Verständnis für diese Situation auf, sei es, dass sie selbst unter Einsamkeit leiden oder vielleicht auch einfach nur mehr Zeit haben.
Lehren für eine anti-ableistische Praxis?
Nun wäre die politische Lektion daraus natürlich nicht, das Leben allgemein dem von Depressiven anzugleichen, wie es auch nicht der Sinn antirassistischer Praxis ist, dass alle in Lagern eingesperrt werden. Es geht viel eher darum, erstens ein Verständnis dafür zu bekommen, dass es – entlang der Achsen class, race, gender, aber eben auch: ability – radikal unterschiedliche Lebens-, Ausschluss und Gewalterfahrungen gibt, die so allerdings nicht notwendig sind. Zweitens geht es um eine symbolische Aufwertung, dass durch äußere Zwangslagen eben potenziell jede*r in eine solche Situation geraten kann. Depressive sind nicht nur zu »faul« oder zu »dumm«.
Depressionen sind an sich eine »neutrale« Krankheit, aber dass Depressive vollkommen isoliert oder stigmatisiert – in der marx’schen Formulierung »zu geknechteten und verlassenen Wesen« – werden, sich jedes Jahr über 5.000 von ihnen allein in Deutschland suizidieren, ist auch ein politisch-ökonomisches Verhältnis. (1)
Die »Corona-Krise« hat nun potenziell für alle sichtbar gemacht, dass Einsamkeit ein sozialer Skandal ist, wobei das »social distancing«, das so viel kritisiert wurde, eher »nur« ein »physical distancing« war. Sowohl Covid-19 als auch zum Beispiel Depressionen sind in ihrer Entstehung natürlich nicht »neutral«, sondern auch Produkte genau dieser Ausbeutungs- und Entfremdungsverhältnisse.
In dieser Hinsicht kann vielleicht eine spekulative These im Anschluss an Alain Ehrenberg und Gilles Deleuze interessant sein. Sie argumentieren in unterschiedlichen Kontexten etwa, dass die mechanische und kollektivistische Disziplinierung der Arbeiter*innen im Industriekapitalismus einer eher abstrakten und individualistischen Kontrolle im postindustriellen oder digitalen Kapitalismus weicht. Sehr schematisch gesagt: Während die Arbeiter*innen in der Fabrik kollektiv einem direkteren Zwang ausgesetzt sind, müssen sich die prekär scheinselbstständigen Techarbeiter*innen eher individualistisch selbst optimieren. Während der äußere Zwang eher zu Neurosen führe, führten die internalisierten Leistungsnormen eher zu Depressionen.
Gewiss gibt es andere Gründe für Depressionen wie biochemische Prozesse, Gewalt, Krieg, Rassismus, Sexismus etc., aber die Depression ist möglicherweise zum Teil auch die Verinnerlichung der Klassengesellschaft in den Arbeiter*innen.
Wenn sich familiäre und andere soziale Beziehung im neoliberalen Kapitalismus tendenziell lösen und sich die Kontrolle internalisiert, können die vollkommen vereinzelten Homeoffice-Abeiter*innen in der Corona-Krise geradezu als Reinform der Subjektivität dieses Re-Produktionsmodells verstanden werden. Gewiss können findige Kapitalist*innen die Corona-Krise als Chance begreifen, einerseits die Maßnahmen zur Regulierung der Gesundheit der Bevölkerung durch Apps zu vertiefen und andererseits diese Lohnarbeiter*innen produktiver für die Kapitalakkumulation arbeiten zu lassen. Dieser Dystopie ist entgegenzuhalten, dass technologische Arbeitsmittel wie Zoom auch Mittel der sozialen Interaktion und politischen Organisierung sein können.
Freiheit und Ausnahmezustand
Entgegen der Position von Agamben begrüßten die meisten Linken die gesundheitspolitische Priorisierung gegenüber bürgerlich-liberalen »Freiheiten«. In bekannter Weise kann der liberale Freiheitsbegriff von links als vor allem konsumentische Freiheit kritisiert werden. Die »Freiheit«, Lohnarbeit und Ski-Urlaub zu machen, ist immer schon eine bürgerliche-ableistische-kapitalistische Freiheit. Eine begrenzte Freiheit an sich und gleichzeitig auch eine Freiheit privilegierter Personen, besonders im »globalen Norden« oder in den kapitalistischen Metropolen.
Das Problem ist deswegen nicht die Priorisierung von Gesundheit über Konsum, sondern die Ausführung entweder in einer technokratischen oder in einer autoritären Version. Ersteres entspräche einer Auslagerung von politischen Entscheidungen an Expert*innen – hier im Prinzip bestenfalls Epidemiolog*innen und eigentlich gerade nicht Virolog*innen –, zweiteres den Sehnsüchten nach dem »Durchregieren« eines »starken Mannes«.
Die Kritik von Agamben ist insofern richtig, dass selbst mit Staatsbürgerschaft privilegierte Bürger*innen von diesem politischen Prozess ausgeschlossen sind. Selbst unter den Normen von parlamentarischen Demokratien erscheint das Ankreuzen des Wahlzettels alle vier Jahre eine vollkommen entfremdete Praxis. Mit und gegen Agamben gilt allerdings festzuhalten, dass dies kein Spezifikum der Corona-Krise ist, wie auch Ausnahmezustand, Grenzregime und Lager ja nicht corona-krisen-spezifisch sind, sondern viel eher die Regel im biopolitischen, ableistischen und rassistischen Kapitalismus.
Anmerkung:
1) Insgesamt suizidieren sich in Deutschland etwa 10.000 Personen im Jahr. Es wird geschätzt, dass etwa die Hälfte unter schweren Depressionen leidet. Womöglich ist die Zahl noch höher.