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|ak 661 | Alltag |Kolumne: Torten & Tabletten

Risiken und Nebenwirkungen

Von Frédéric Valin

Es gibt einige – viele – in den Sozialen Berufen, die die Infektionsgefahr nach wie vor nicht übertrieben ernst nehmen. Die Gründe dafür sind vielfältig. Ich hab mal fünf herausgesucht, weil sie, glaube ich, auch viel über die Situation, in der Menschen in Sozialen Berufen sind, erzählen.

1. Misstrauen gegen Ärzt*innen. Wir haben viel mit Ärzt*innen zu tun, und bei so viel Kontakt bröckelt der Nimbus. Jede*r von uns kann von Situationen berichten, in denen Ärzt*innen teils verheerende Fehlentscheidungen getroffen haben, einfach, weil sie nicht wussten, wie sie mit den Menschen kommunizieren können, die vor ihnen saßen. Als krassestes Beispiel ist mir ein Bewohner mit weit fortgeschrittener Demenz in Erinnerung, dem tatsächlich noch eine Vorhautverengung wegoperiert wurde, mit der er sein Leben lang gelebt hatte. Die Vollnarkose löste einen massiven Demenzschub aus. Der Eingriff hat ihn wahrscheinlich ein bis zwei Jahre seines Lebens gekostet. Entschieden hat den Eingriff eine gerichtlich bestellte Betreuerin, die natürlich mehr auf das Wort der behandelnden Ärztin vertraute als auf die Pflegekräfte.

2. Mangelndes Fachwissen: So gut wir wissen, wie man mit den Bewohner*innen kommuniziert, so schlecht ist das medizinische Fachwissen. Das zeigt sich jetzt, wo die Medizin quasi täglich dazulernt, besonders deutlich. Kaum ein*e Kolleg*in ist in der Lage, eine medizinische Studie zu lesen, und das muss eigentlich auch nicht sein, weil das keine Eigenschaft ist, die man braucht, um ein*e hervorragende Betreuer*in zu sein. Trotzdem sind die Anforderungen zu niedrig, auch die Anforderung daran zu verstehen, woher Informationen kommen. Es gibt Kolleg*innen, die schicken mir heute noch Artikel aus der Augsburger Allgemeinen von Anfang März, um zu begründen, warum sie die Pandemie so und so sehen. Sie kommen nicht an für sie aufbereitete Informationen heran, das betrifft insbesondere die Treatments des Robert Koch Instituts: Die sind in einer Sprache verfasst, die die Kolleg*innen nicht verstehen.

3. Zu wenig Besorgnis: Der tägliche Umgang mit Krankheiten und auch mit dem Tod stumpft ab. Vieles, was draußen als absolut verheerend gilt, ist in der Einrichtung nur noch halb so schlimm. Teils, weil es tatsächlich eine übertriebene Angst vor Erkrankungen draußen gibt – zum Beispiel ist die Angst vor Kontrollverlust bei Demenz alles beherrschend im öffentlichen Diskurs, obwohl ich täglich Leute sehe, die Freude, Liebe, Sinn in ihrem Leben und gleichzeitig Alzheimer haben. Teils aber auch, weil man als normal akzeptiert, was nicht normal sein sollte: Es sterben nunmal Menschen an Grippe in den Einrichtungen, was soll man tun. Es gäbe genug zu tun, aber es wurde nicht getan; weil an manchen Stellen der – im übrigen durchaus notwendige – Fatalismus obsiegt.

4. Ableismus: Es gibt eine große Kluft zwischen Betreuer*innen und Bewohner*innen. Alle sprechen davon, dass man die Bewohner*innen schützen muss; an sich selbst denken sie nicht. Zwar wollen sie es auch nicht unbedingt kriegen, aber selbst langjährige Raucher*innen mit Diabetes halten alle Bewohner*innen für gefährdeter als sich selbst. Weil die ja anders sind. Wenn sie sich schützen, dann vor allem, weil sie so gute Menschen und Mitarbeitende sind (und davon ausgehend kann man ja schon hier und da kleine Ausnahmen machen, aus denen dann größere Ausnahmen werden usw.).

5. Institutionelles Versagen: Die mittlere Führungsebene, die als Korrektiv wirken sollte, scheint in erster Linie daran interessiert, dass sich alle wohlfühlen. Sie tut sich sehr schwer damit, Entscheidungen zu treffen, vor allem unpopuläre. Das führt dazu, dass Dutzende Meinungen zum Thema Maskenpflicht nicht nur existieren, sondern auch ausgelebt werden: FFP2, Stoff, gar nicht. Alles mit dabei. Jede*r Betreuer*in wurschtelt nach eigenem Gusto vor sich hin. Das wiederum verunsichert die Bewohner*innen; von denen aber weiß die mittlere Führungsebene nicht viel. Da kriegt sie häufiger die Akten zu Gesicht als die Menschen.

Ich könnte noch ein halbes Dutzend Seiten vollschreiben, aber das muss erstmal reichen, es gibt nämlich keinen

Frédéric Valin

ist Autor. In ak schreibt er (endlich wieder!) die Kolumne »Torten & Tabletten«. Zuletzt erschien sein autobiografischer Roman »Ein Haus voller Wände« (Verbrecher-Verlag 2022) über seine Arbeit als Pfleger.