Wohlkalkuliertes Eigeninteresse
Die Vorschläge für einen EU-Wiederaufbaufonds deuten viele als Kehrtwende. Das langfristige Ziel ist ein altbekanntes
Von Lene Kempe
Wenn Jörg Meuthen, Parteichef der AfD, das von der EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen Ende Mai vorgestellte Konzept für einen Corona-Wiederaufbaufonds als »komplett irre« bezeichnet, kann dies vorläufig als gutes Zeichen gewertet werden. Tatsächlich scheint sich die Kommission mit ihrem Vorschlag für einen um 750 Milliarden Euro erweiterten Finanzrahmen des EU-Haushaltes ein Stück weit vom Pfad nationaler Egoismen wegzubewegen. Zumindest auf den ersten Blick wirkt das Papier wie eine Antithese zur Austeritätspolitik der vergangenen Jahre.
Mit dem Vorschlag übertrifft von der Leyen den Merkel-Macron-Plan, der einen Fonds in Höhe von 500 Milliarden Euro vorsah, quantitativ deutlich. Inhaltlich lehnt sie sich eng an die deutsch-französischen (Steil)Vorlage. Erstaunlich an dem Vorstoß ist indes weniger sein Finanzvolumen als seine inhaltlich-politische Stoßrichtung: So orientiert sich die Auszahlung der Mittel an der Schwere der wirtschaftlichen und sozialen Auswirkungen, dem Stand der Jugendarbeitslosigkeit und dem relativen Wohlstand der Mitgliedstaaten und wird an Vorgaben wie Gleichstellung, Nichtdiskriminierung und Rechtsstaatlichkeit gebunden. Wo zuvor regelmäßig Strukturanpassungen – Sparmaßnahmen, Flexibilisierungen, Privatisierung etc. – gefordert wurden, soll nun Geld in öffentliche Infrastrukturen gepumpt werden.
Mehr als die Hälfte der nicht rückzahlbaren Zuschüsse käme dabei den Südstaaten Europas zu. Wie die Mittel letztlich verwendet werden, darüber sollen diese zumindest mitentscheiden. Die Antragsstaaten müssen selbst Reformpläne vorlegen – auch dies eine Abkehr vom alten Prinzip der Reformen von oben (Stichwort »Troika«).
Mehr Geld für den EU-Haushalt
Der Corona-Wiederaufbaufonds »Next Generation EU« soll sich auf unterschiedliche, bereits vorhandene Töpfe verteilen, aber auch gänzlich neue Haushaltsposten ermöglichen. Kernstück wäre eine neue sogenannte »Aufbau- und Resilienzfazilität« in Höhe von 560 Milliarden Euro, ein Mix aus direkten Zuschüssen (310 Milliarden) und Krediten (250 Milliarden). Damit sollen Investitionen und Reformen für langfristiges Wachstum in den Mitliedstaaten gefördert werden. Mit den restlichen 190 Milliarden Euro sollen weitere, kleinere Posten geschaffen und bereits existierende Töpfe des EU-Haushalts aufgefüllt werden. Neu wäre ein mit 9,4 Milliarden Euro gedecktes europäisches Gesundheitsprogramm (EU4Health). Deutlich aufgestockt würden unter anderem der Europäische Landwirtschaftsfonds und das Programm »InvestEU«, das Investitionen in nachhaltige Infrastrukturen, Innovation und Digitalisierung aber auch in den Aufbau strategisch wichtiger Lieferketten auf europäischer Ebene fördern soll. Mehr Geld soll aber auch in den »Fonds für integriertes Grenzmanagement«, sprich in die Abwehr von Flüchtlingsströmen fließen. Alles Teil der europäischen Krisenbewältigungsstrategie. Ob und in welcher Form der Vorschlag der EU-Kommission durchgeht, ist noch Gegenstand von Verhandlungen.
Erfindet sich Europa also gerade neu? Die Antwort ist kniffelig. Einerseits ist es richtig, den Vorstoß der Kommission auch als eine Art Brüsseler Charmeoffensive zu werten. Denn nicht nur die wirtschaftlichen Krisenerscheinungen, auch die grassierende »Europafeindlichkeit«, die der allzu offensichtlichen Dominanzpolitik von vor allem Deutschland geschuldet ist, wird in Brüssel einen gewissen Reformdruck erzeugt haben.
Krisenbewältigung à la Troika – dieser Weg schien mindestens riskant. Andererseits agiert die Brüsseler Behörde keineswegs uneigennützig: Denn sie kann – sollten die Vorschläge umgesetzt werden – auf einen deutlichen Machtzuwachs hoffen. Das würde ihr nicht zuletzt den Spielraum geben, den eingeschlagenen Kurs schnell wieder zu ändern. Denn nach Vorstellung der Kommission würde die Behörde das Geld nicht nur selbst – an den Finanzmärkten – beschaffen, sie wäre auch die Prüfinstanz für die Verteilung der Mittel. Formal nur vorübergehend, solange der erweiterte Finanzrahmen gilt; dass die Kommission sich ihre neuen haushalts- und finanzpolitischen Kompetenzen nach Ablauf der sieben Jahre wieder nehmen ließe, gilt aber als unwahrscheinlich.
Der Stabilitäts- und Wachstumspakt aber – ein Herzstück der austeritätspolitischen Agenda der EU – ist keineswegs außer Kraft gesetzt.
Wesentliche Prüfsteine für die Mittelgenehmigung wären laut Papier nicht nur die Vereinbarkeit mit den von der EU-Kommissionspräsidentin emphatisch vorgetragenen sozial-ökologischen Zielen. Die Zahlungen aus der sogenannten »Aufbau- und Resilienzfazilität«, die allein 510 Milliarden Euro umfassen würde, sollen sich auch an den Vorgaben des »Europäischen Semesters« orientieren. Damit gemeint sind die jährlichen länderspezifischen Empfehlungen der EU-Kommission mit Blick auf die Wirtschafts- und Fiskalpolitik der Mitgliedstaaten.
Diese bis dato unverbindlich gehandhabten Vorschläge könnten – mit der veränderten Rolle der Kommission – mehr Bindungskraft entfalten. Sie orientieren sich grundsätzlich am Ziel der Wettbewerbsfähigkeit des europäischen Wirtschaftsraumes und beinhalten zumeist Vorschläge, mittels »Strukturreformen« Kosten zu sparen und Märkte weiter zu liberalisieren. Derzeit gelten aufgrund der Krise Ausnahmeregelungen, der Stabilitäts- und Wachstumspakt aber – ein Herzstück der austeritätspolitischen Agenda der EU – ist keineswegs außer Kraft gesetzt. So soll laut den Empfehlungen denn auch sichergestellt werden, dass die Mitgliedstaaten ihre »Schuldentragfähigkeit« wieder herstellen, sobald die wirtschaftlichen Bedingungen dies zulassen.
Dies wäre umso entscheidender, sollte der Rückzahlungsplan der Behörde für die Kreditschulden (ab 2028) scheitern: Brüssel strebt an, hierfür Eigenmittel zu generieren – aus der Besteuerung von Großunternehmen, dem Ausbau des Emissionshandels sowie einer Digital- und CO2-Grenzsteuer. Industrieverbände aus Deutschland, Italien und Frankreich machten in einer gemeinsamen Stellungnahme schon Anfang Mai deutlich, dass sie solche Maßnahmen zurückweisen. Alternativ kämen neue Kredite, ergo mehr vergemeinschaftete Schulden infrage, was politisch schwer durchsetzbar sein dürfte. Oder eben Sparmaßnahmen – und damit eine austeritätspolitische Wende.
Noch ist unklar, ob oder in welcher Form der Vorstoß der EU-Kommission durchgehen wird – Mitte Juli finden wieder Verhandlungen statt. Politische Kampfbegriffe wie »Schulden-« und »Transferunion« sowie die Forderungen nach Auflagen und mehr Krediten und weniger Zuschüssen bestimmen derzeit die Debatte. Der kleinste gemeinsame Nenner der tonangebenden EU-Staaten ist und bleibt das Ziel der Wettbewerbsfähigkeit: Die EU soll wieder zu einem »strong global Player« werden und im Konkurrenzkampf mit den USA und China aufschließen.
Für Friedrich Merz (CDU) etwa steht mehr denn je die Frage im Raum, wo die EU hingehöre – an die Weltspitze oder in die hinteren Reihen, »Champions League oder Kreisklasse«? Die Bundesrepublik ist dabei als Exportnation mehr als alle anderen angewiesen auf eine starke Wettbewerbsposition gegenüber den chinesischen und US-amerikanischen Konkurrenz auf dem Weltmarkt, aber auch auf »gesunde« Absatzmärkte innerhalb der EU und auf zahlungskräftige Konsument*innen. So kann sich von der Leyen der Unterstützung Merkels und der CDU sicher sein. Der Plan ist also aus (nord)europäischer und insbesondere aus deutscher Sicht das Gegenteil von »komplett irre«. Er ist wohlkalkuliertes Eigeninteresse jener Staaten, die schon immer am meisten von der Wettbewerbsstrategie der EU profitiert haben – allen voran Deutschland.