Keine Angst vor Parolen
Zu viel Aufmerksamkeit sollten Linke den Anti-Corona-Maßnahmen-Demos nicht schenken, wichtiger sind gerade jetzt eigene Slogans
Von Daphne Weber
Das Video ging Mitte Mai viral: Ein älterer Mann, der einem Reporter unter Tränen erzählt, dass er seine Ehefrau seit Wochen nicht mehr im Altenheim besuchen darf. Dann grätscht ihm ein Mann mittleren Alters ins Gespräch und weist ihn zurecht, dass das »Merkel-Regime« schuld daran sei und er die »Kontrolle über sein Leben verloren« habe, wenn er mit ARD und ZDF rede. Eine Szene – ein kondensiertes Bild der Situation. Wenn man diese Szene als verdichtetes Bild derzeitiger gesellschaftlicher Konflikte versteht, könnte man fragen: Wo ist in diesem Tableau die gesellschaftliche Linke?
Blickt man auf die Rhetorik der Anti-Coronamaßnahmen-Demos, fällt auf, dass neben personenbezogenen Schuldzuweisungen und Verschwörungsnarrativen (z.B. Bill Gates sei für Corona verantwortlich, »Merkel-Regime«, »Diktatur«) immer wieder Forderungen nach »Frieden« und »Grundrechten« artikuliert werden. Diese würden von einer »geheimen Weltelite« eingeschränkt und zerstört – eine mehr als problematische Erzählung. Zu einem berechtigten Aufschrei führte die Symbolik gelber Sterne, mit denen sich »Impfgegner« als Verfolgte und Ausgegrenzte inszenierten – und damit in ekelerregendster Weise Judenverfolgung und Shoah relativierten. Daneben finden sich wiederum Demoschilder, die »runde Tische« in der Medien- und Politiklandschaft fordern – Demokratisierung also. Man beruft sich auf »Liebe und Toleranz«, die »bedingungslos« seien, auf »Menschlichkeit«. Das könne sich im »Ausnahmezustand« nicht verwirklichen.
Nun sind manchen Forderungen, wie der der Demokratisierung politischer Prozesse, durchaus berechtigte Elemente abzugewinnen. Was diesen diffusen Artikulationen allerdings fehlt, ist die Basis einer fundierten Klassenanalyse. Das macht die Rhetorik so anfällig für die politische Rechte und für Verschwörungsnarrative. Ja, der finanzielle Einfluss von Bill Gates auf die WHO ist kritikwürdig, und das war schon vor Corona der Fall – nur hat es kaum jemanden interessiert, möglicherweise, weil länderübergreifende Seuchen wie Ebola hauptsächlich den afrikanischen Kontinent betrafen. Das Problem der Finanzierung der globalen Gesundheitssysteme ist größer, weitaus prekärer und kann nicht an einer Einzelperson festgemacht werden. Es gibt außerdem ein massives imperiales Gefälle in der Gesundheitsversorgung. Die Forderung nach »Menschlichkeit« ist also sehr selektiv, »Liebe und Toleranz« fordern die Corona-Demonstrant*innen jetzt für sich selbst ein – aber wo waren diese Leute, als die kleinen Demos für die Evakuierung des Lagers Moria und die Unterbringung von Obdachlosen im April stattfanden?
Kurz muss nicht unwahr sein
Es kann nicht vorrangige Aufgabe der gesellschaftlichen Linken sein, wie das Kaninchen vor der Schlange auf die »Corona-Demos« zu starren, sich an Attilas und Kens abzuarbeiten oder aber daneben zu stehen und »Verschwörungstheoretiker raus« zu brüllen. Das erste überschätzt die Bedeutung von ein paar Irrlichtern – die es immer gegeben hat und geben wird –, und das zweite bindet antifaschistische Kräfte, linke Klugheit und aktivistische Zeit. Es ist auch Unsinn, wie manche behaupten, man könne die mediale Aufmerksamkeit, die auf den »Corona-Demos« liegt, für die Gegendemos nutzen. So funktionieren Massenmedien nicht. Die Gegendemos kommen in der Berichterstattung wenn überhaupt nur in einem Satz vor: Es gab eine Gegendemo. Punkt. Reicht uns das?
Es gibt Linke, die Parolen ablehnen. Zu verkürzend, deshalb zwingend falsch, ist ihr Argument.
Nein. Eine eigene Erzählung zu prägen, die auf die kommenden Folgen einer massiven Wirtschaftskrise vom Ausmaß der Depression von 1929 abzielt, ist dringend vonnöten. Nun sind die Zusammenhänge kapitalistischer Ausbeutung eine komplexe Sache, deren Beschreibung und Kritik es in Form der Parole nur schwer mit einer einfachen Schuldzuweisung aufnehmen kann. »Gib Gates keine Chance« lässt sich schnell sagen, es ist catchy und knüpft (in verfälschender Weise) an das kollektive gesellschaftliche Gedächtnis um Aids und die Stigmatisierung schwuler Menschen an (und setzt sich letztlich auf missbräuchliche Art mit ihnen gleich). »Impfmafia stoppen« geht leicht von den Lippen und passt auf jedes Demoschild. Aber wie erklärt man in der Sprache der Straße, der Parole kapitalistische Ausbeutung, Krisenhaftigkeit, Austeritätspolitik, multiresistente Keime, industrielle Landwirtschaft als Begünstiger von Zoonosen (dem Überspringen von Krankheuten vom Tier auf den Menschen), profitorientierte Wirtschaft als Ursache etc.?
Es gibt Linke, die Parolen ablehnen. Zu verkürzend, deshalb zwingend falsch, ist ihr Argument. Eine solche Linke zieht sich selbst aus dem Verkehr. Eine Linke, die sich an die Seite der liberalen Öffentlichkeit stellt, über die »dumme Masse« spottet und deshalb lieber gar keine Deutungsangebote macht, ist überflüssig. Wem gibt die Linke welche Perspektive auf die derzeitige Situation? Wie kann sie Menschen sprechfähig machen, um ihren finanziellen Absturz und ihre Forderungen zu artikulieren? Mit welcher Erzählung kann sie einem Menschen in 60-Prozent-Kurzarbeit, einer im Homeoffice überlasteten Mutter, einem rumänischen Leiharbeiter im Schlachtbetrieb und einer bankrotten Solo-Selbstständigen politische Orientierung anbieten?
Oder um in die kleine Szene vom Anfang zurückzukehren: Was sagt die Linke dem weinenden Mann, der seine Frau vermisst? Der Rechte schreit: »Merkel-Regime«, die Linke ruft: ja was? Es muss kurz sein und emotional affizieren, aber eben richtig und nicht falsch. Die Kürze der Form Parole muss nicht unterkomplex sein, wenn sie von einem Unterbau korrekter, internationalistischer Klassenanalyse und einem Kampf um das gute Leben getragen ist. Und die Jahrtausende alte Kunst der literarischen Formen des Aphorismus oder Sprichworts beweist, dass Kürze nicht zwingend platte Unwahrheit bedeutet.
Die Proteste im Zuge der Bankenkrise 2008 prägten die Parole »Wir zahlen nicht für eure Krise«. Breite Bündnisse wurden gebildet, um Schlagkraft zu entfalten. »Bildet euch, denn wir brauchen all eure Klugheit. Bewegt euch, denn wir brauchen eure ganze Begeisterung. Organisiert euch, denn wir brauchen all eure Kraft«, schrieb einst Antonio Gramsci. Bilden ist nicht nur Theorielesen, sondern auch Bestandteil praktischer kollektiver Organisation. Es wird unbedingt notwendig sein, dass die gesellschaftliche Linke von Gewerkschaften über Partei, kulturellen Akteur*innen, migrantische Initiativen bis hin zu linksradikalen Gruppen Bündnisse schmiedet und sich mit einer gemeinsamen Version einer Krisenerzählung für die kommenden, vermutlich harten Verteilungskämpfe wappnet.
Es mangelt dabei nicht an visionären Ideen: sozial-ökologische Transformation der Auto- und Öl-Industrie, massive Ausweitung betrieblicher Mitsprache, Mietenstopp und Enteignung von Wohnkonzernen oder Gesundheitssystem in öffentliche Hand. Aber wie können diese Ansätze gemeinsam artikuliert werden, außer in dieser unattraktiven Aufreihung? Wie kann eine Parole entstehen, die all diese miteinander zusammenhängenden Bereiche verknüpft? Wie kann Mobilisierung hergestellt werden? Und ist es genug, einfach organisations- und gruppenübergreifend eine Großdemo im Herbst in Berlin zu machen?
»Ich sehe dich. Wir halten zusammen«
Dass das Mobilisierungspotenzial da ist, wenn Dringlichkeit herrscht, zeigen die deutschlandweiten Black-Lives-Matter-Proteste vom 6. Juni. Ihre kraftvolle Intensität scheint die kläglichen Anti-Corona-Demos in einem Aufwasch aus dem Gedächtnis der Geschichte zu schwemmen. Entgegen der Behauptungen mancher Linker, die kommende Wirtschaftskrise werde Fragen von Rassismus und Geschlecht verdrängen, wird sie diese verstärken. Die Ausbeutung der Klasse ist rassifiziert und vergeschlechtlicht, jetzt schon geraten Schwarze, PoC, Frauen und Queers durch verstärkte Armut, Mehrfachdiskiminierung und Doppelbelastung härter zwischen die Zahnräder. Die Forderung nach Intersektionalität ist indes (noch) keine Demoparole, da das Wissen um den Begriff noch nicht weit genug in die Breite der Bevölkerung gesickert ist.
Fest steht aber, dass es ein weiter Dach-Begriff sein muss, der sich in den jeweiligen Verästelungen der unterschiedlichen, thematisch gerichteten Bewegungen gut mit ihren eigenen Forderungen verknüpfen lässt. Das Unteilbar-Bündnis könnte in den kommenden Krisenprotesten sowohl in der breiten Bündnisstruktur als auch dem Begriff nach zu einem solchen Dach werden. Unteilbar: Kündigungsschutz für alle (nicht nur die Kernbelegschaft). Unteilbar: Wahlrecht für alle (nicht nur für Bewohner*innen mit deutschem Pass). Unteilbar: Sorgearbeit gemeinsam tun. Unteilbar: Sozialstaat für alle verteidigen. Unteilbar: solidarisch sein.
Letzteres kann man nicht allein als Parole brüllen. Solidarität erfordert zur Rhetorik eine zusätzliche Praxis, sowohl eine organisierende als auch eine zuhörende. Was haben Schwarze Menschen zu sagen? Was hat der alte Mann zu sagen? Und vielleicht ist hier nicht gleich dem rechten Zurufer das Brüllen und dann Alleinlassen die Antwort, sondern das Zärtlichsein: »Ich sehe dich. Wir halten zusammen.« Die Parole als Form ist entgegen ihrer Diskreditierungen nicht nur zornig oder unerbittlich. In das offene, integrative Wir der Klasse ist sie hoffend und verbindend.