Hanau Monologe (Fortsetzung)
Von Nadire Y. Biskin
Ich wiederhole mich.
Ich wiederhole mich ungern.
Aber was soll ich machen?
Außer permanent an Thomas Brasch denken:
‚Die nennen das Schrei’ben
Gesammelte Gedsschichter
Lied Stille (1)
Was ich habe, will ich nicht verlieren, aber
Wo ich bin will ich nicht bleiben, aber
Die ich liebe, will ich nicht verlassen, aber
Wo ich lebe, da will ich nicht sterben, aber
Wo ich sterbe, da will ich nicht hin:
Bleiben will ich, wo ich nie gewesen bin.
Ein Brennpunkt ist da, wo es die Polizei gibt Punkt.
Mein Trotz und Widerstand legen sich hin.
Trauer übernimmt die Nachtschicht.
Ich verschließe mich und meine Augen,
es fühlt sich falsch an.
Ich öffne meine Augen, es schmerzt.
Der Brunnen füllt sich mit Wasser und läuft über.
Ich gebe mein Bestes.
Aber was soll ich machen?
Außer mir, mich wiederholen.
Der Appell, die Anklage, die Anprangerung
Bis es sich nicht mehr wiederholt
Das, wofür ich kein passendes Wort habe
Das, was es im Plural gab und gibt
Was nichts gibt, sondern nur nimmt
Guten Morgen, Guten Tag, Gute Nacht, schlaf schön,
träum süß sind meine Faschingskostüme.
Christchurch habe ich am Morgen erfahren
Wir saßen im Klassenrat danach
Ahmten Demokratie im Kreis nach
Ich fragte mich, spreche ich es an?
Sprechen sie es an?
Oder schweigen wir uns an, in dem wir
nicht darüber sprechen?
Hanau erfuhr ich nach dem letzten Klassenrat
Vor Hanau ist nach Hanau
Vor Hanau ist nach Solingen, Mölln,
Rostock-Lichtenhagen, Halle
Und was ist nach Hanau?
Wird die vergangene Geschichte sich von
der gegenwärtigen Geschichte in die
zukünftige wiederholen?
Ich wiederhole mich:
Mehmet, geh nicht in die Moschee.
Mehmet, geh nicht in die Shisha-Bar.
In eure Clubs darf er nicht rein.
In euren Bibliotheken höchstens zu eurer Sicherheit.
Wo soll dieser Junge hin?
In eure Clubs darf er nicht
In euren Bibliotheken darf er nicht
Es kamen Fragen zur Bibliothek
Gläserne Grenzen und Mauern,
in mir die Splitter und Steine,
sie wissen, was sie tun
Ich wiederhole mich:
Es kamen Fragen, deren Antworten ich nicht in den
Büchern fand.
Ich wusste, ich schreibe von mir, aus.
Ich wollte einen Monolog und keinen Dialog,
der aus zwei Monologen besteht.
Eins plus eins ergibt nicht immer zwei.
Man kann das nicht umrechnen.
Die Worte finden.
Ich fragte mich, dich und uns
Darf ich darüber schreiben?
Bin ich die Betroffene?
Oder sind es nur die Angehörige?
Oder sollte es eine Trauerzeit von
vierzig Tagen geben?
Oder sollte ich Carepaket mit Halva und
Reis schicken?
Statt zu schreiben?
Oder schrieben dann andere?
Andere, die es nicht kommen sahen und
mit Sprache schreiben?
Nach Klassenrat kommt das Wochenende mit Mutter.
Sie spricht nicht darüber.
Sie sagt, schreib nicht darüber.
Sie sagt, sie geht Brot und Masken kaufen.
Ich sage, die Masken sind gefallen, habe mehr Angst
vor Deutschland als vor Corona.
Sie sagt, rede nicht drüber, vierzig Mal gesagt
und dann kommt es.
Aber Mutter, sage ich, war es jemals weg oder
nur hinter einer schlechten sitzenden
Maske versteckt?
Aber Mutter, sage ich und denke an all die Mütter,
An das Ende, was kein Ende nimmt.
Wie soll es weitergehen?
Und für wen?
Soll es weitergehen?
Wiederholt sich die Geschichte?
Tritt sie jeden Tag in neuem Gewand auf?
Cihan sagt, Rassismus ist der Vater aller Probleme.
Mütter wissen das.
Sie sind nicht blind.
Es kommen immer Fragen und während sich
alle Fragen stellen
Schmieden sie Pläne mit Hass, Eisen und Blut
Ich habe eine Wunde, du auch.
Wessen Wunde versorge ich zuerst?
Zwei Hände reichen nicht für unsere Wunden.
Wir sind hier
Aber wie sind wir hier? Warum sind wir hier?
Wo ist das hier? Wer ist das wir?
Eine Frage gebärt mir keine Antworten,
sondern nur Fragen.
Deren Antworten ergeben sich aus Worten,
Gesetzen und Schritten
Vielleicht nicht
Anmerkung:
1) Thomas Brasch: Lied-Stille, in: Die Nennen das Schrei, Gesammelte Gedichte, S. 132, Suhrkamp 2015.