Hier wird gestreikt!
Die Beschäftigten im österreichischen Sozialbereich streiken für eine 35-Stunden-Woche − dabei geht es ihnen nicht nur um ihre eigenen Interessen
Bisher führte Österreich vielleicht die internationale Schnitzel-Ess-Statistik an, aber für seine jährlichen Streikstunden war es nicht bekannt. In den vergangenen Wochen hat sich das geändert. Die Streiks in der Sozialwirtschaft (Pflege, Betreuung, Pädagogik und Soziale Arbeit) weiten sich aus. Es geht um nicht weniger als eine Arbeitszeitverkürzung auf 35 Stunden bei vollem Lohnausgleich.
Eigentlich sind Tarifvertragsverhandlungen in Österreich meist eher routinierte Performance, als durch Konflikte und Arbeitskämpfe geprägt. Doch nach bisher sieben ergebnislosen Verhandlungsrunden zwischen Arbeitgeber*innen und Arbeitnehmer*innen beteiligten sich am 27. Februar allein in Wien über 100 Einrichtungen; österreichweit sogar über 300 Einrichtungen.
Lange hatte die Arbeitgeberseite gar nicht über die Arbeitszeitverkürzung sprechen wollen. Nach der siebten Verhandlungsrunde präsentierte sie einen für die Beschäftigten inakzeptablen Kompromiss: die Verkürzung der Normalarbeitszeit von 38 auf 37 Wochenstunden im Zeitraum von drei Jahren. Den erfolgreichen Kampfmaßnahmen der Arbeiter*innen im Sozialbereich ist es zu verdanken, dass die Arbeitgeber*innen keinen anderen Weg gesehen haben, als nun doch ein Angebot machen zu müssen. Wenngleich es ein schlechtes Angebot ist, denn bereits die Forderung nach einer Wochenarbeitszeit von 35 Stunden war ein Zugeständnis gewesen.
Die Gewerkschaft will aber bei ihrer 35-Stunden-Forderung bleiben und kündigt weitere Streiks und Demonstrationen an. Damit will sie auch einen gesamtgesellschaftlichen Trend setzen. Während sich die Produktivität in Österreich seit 1950 versiebenfacht hat, steigt die durchschnittliche Arbeitszeit seit der letzten Verkürzung 1975 an und beträgt heute 43 Stunden pro Woche.
Immer wieder stellen Kommentator*innen die Frage, warum die Gewerkschaft ausgerechnet im Sozialbereich diese Forderung erhebt und mit der Initiative zur Arbeitszeitverkürzung nicht in der Metallbranche startet. Zweifelsohne hat dies auch mit dem Gegenüber zu tun, denn bestreikt werden nicht nur private Pflegeheimbetreiber, sondern auch zwei der größten nicht-profitorientierten Versorger im Pflege- und Betreuungsbereich, die ihrerseits Löhne und Gehälter unter anderem durch Zahlungen der öffentlichen Hand bestreiten. Indirekt wird also auch die Versorgungspolitik der Politik bestreikt, denn die muss ausreichend finanzielle Mittel für die sozialen Dienstleistungen der Träger zur Verfügung stellen. Hinzu kommen vielfältige Probleme im Pflegesektor und Betreuungsbereich. Herauszustellen sind vor allem der Personalmangel und die hohe Belastung in der Care-Arbeit – auch in Österreich.
Der Pflegebereich braucht Zukunftskonzepte
Vor dem Hintergrund der demografischen Entwicklung und der sich verändernden Haushaltsstrukturen zeigen Studien, dass im Bereich der mobilen und stationären Pflege und Betreuung 79.000 zusätzliche Pflegekräfte bis zum Jahr 2050 benötigt werden. Dieser Bedarf wird unter den aktuellen Arbeitsbedingungen nicht zu decken sein. Schon jetzt können nicht mehr alle Träger offene Stellen besetzen. Denn die Unzufriedenheit der Beschäftigten betrifft vor allem drei Bereiche: Arbeitszeit, Entlohnung und Organisation der Arbeit. Zudem entscheiden sich zu wenige Menschen für einen sozialen Beruf, nicht zuletzt auf Grund der Rahmenbedingungen.
Ein Viertel der Beschäftigten im Gesundheitsbereich denkt einmal im Monat darüber nach, den Job zu wechseln. Knapp die Hälfte der Beschäftigten in der stationären Pflege gibt an, dass sich die Arbeitsbedingungen in den letzten Jahren nur verschlechtert hätten.
Zwischen 2004 und 2014 belief sich die Inflation laut Statistik Austria auf 23,1 Prozent, die Brutto-Einkommen im privaten Gesundheits- und Sozialbereich stiegen lediglich um 29,4 Prozent. Netto blieb ArbeitnehmerInnen quasi nichts übrig. Eine Studie der Gewerkschaft zeigt, dass 29 Prozent der Befragten im Sozialbereich »emotional stark belastet« sind – Teilzeitarbeiter*innen sind davon etwas weniger betroffen, was vor dem Hintergrund des skizzierten Personalmangels ein weiteres gewichtiges Argument für die Arbeitsverkürzung ist. Dafür kämpfen Teilzeitarbeiter*innen mit Löhnen und Gehältern, von denen man nur schwer Leben kann. Neben geschlechterspezifischen Gründen, warum sich insbesondere Frauen für eine Teilzeitbeschäftigung entscheiden, erschweren gerade Sozialberufe eine Aufstockung der Stunden: In den mobilen Diensten etwa werden besonders viele Kolleg*innen in den Morgen- und Abendstunden gebraucht. Unbehagen löst auch die Fragmentierung durch die neoliberalen Umstrukturierungen aus: Für Pflegebedürftige bedeutet diese Taylorisierung, dass mehrmals täglich unterschiedliche Pfleger*innen oder Heimhilfen für minütlich getaktete, einzelne Aufgaben vorbeikommen: 15 Minuten zum Insulin-Spritzen und Blutdruckmessen, 30 Minuten für die wöchentliche Körperpflege. Die Pflege- und Betreuungskräfte können nicht immer auf die Bedürfnisse ihrer Klient*innen eingehen, denn die »Stechuhr im Hinterkopf« erschwert die Beziehungsarbeit, die aber Basis einer Pflegebeziehung ist.
Die auch in dieser Branche geltenden Tarifvertragsverhandlungen könnten zur Arbeitszeitreduktion führen, den finanziellen Mehraufwand der Träger müssten aber Bund und Länder ausgleichen. Das bedeutet, sie entscheiden letztlich, wie viele Ressourcen für welche Pflegesettings, Aufgaben und Leistungen zur Verfügung gestellt werden. Für die Streikenden geht es jedoch um eine grundlegende Reform der Pflege. So ist zu erklären, dass so viele bereit sind, auch in diesem sensiblen Arbeitsbereich zu streiken: Der Aufschrei ist groß, wenn die Nachmittagsbetreuung für Schulkinder oder die Hauskrankenpflege ausfällt. Bleibt der Betrieb dagegen während der Streiks aufrechterhalten, werden die Beschäftigten belächelt und nicht ernst genommen. Doch die Streikenden betonen auf jeder Demo, dass es hier nicht nur um ihre eigenen Interessen geht, sondern natürlich auch um die Interessen der Klient*innen. Wenn es gelingt, dass die Österreicher*innen verstehen, dass sie alle potenzielle Klient*innen sind, werden sich die Kampfbedingungen für die Beschäftigten im Sozialsektor schlagartig verbessern. Je schneller das passiert, desto besser.