Nicht jeder Gig ist geil
Die Gig Economy steht für die Schattenseiten des digitalen Kapitalismus - aber auch für neue Formen des Arbeitskampfes
Von Janis Ewen
Als Anfang des Jahres die Essenskurier*innen von Deliveroo und Uber Eats in London die Arbeit niederlegten, war es nicht wie sonst. Diesmal ging es nicht gegen niedrige Löhne oder Scheinselbstständigkeit. Diesmal war der Anlass ein Todesfall: Am 3. Januar starb der Essenskurier Takieddine Boudhane während einer seiner Fahrten. Er geriet mit einem Autofahrer aneinander und wurde erstochen. Um seiner zu gedenken und für bessere und sicherere Arbeitsbedingungen zu kämpfen, traten seine Londoner Kolleg*innen in einen zweitägigen Streik. Was wie ein tragischer Einzelfall klingt, ist keiner. Boudhane ist einer von vielen: In mehreren Ländern kam es zu Todesfällen, weil Rider, wie die Fahrer*innen der Lieferplattformen genannt werden, mit ihren Fahrrädern oder Motorrollern von Autos erfasst wurden. Manchmal, weil sie Opfer von Gewalt wurden.
In der britischen Öffentlichkeit hat der Fall erneut Fragen zu den in jeder Beziehung unsicheren Arbeitsverhältnissen in der sogenannten Gig Economy aufgeworfen. Auf den letzten Metern des Lieferprozesses wird die harte Arbeit hinter der glatten Welt der Online-Plattformen sichtbar. Hier zeigt sich die brutale Realität des digitalen Kapitalismus. Die Gig Economy, in der Arbeitskräfte webbasiert für einzelne Auftritte (Gigs) vermittelt werden, steht wie kaum ein anderer Wirtschaftsbereich dafür, dass vermehrt Risiken der Unternehmen und des Marktes auf die Arbeitenden abgewälzt werden. Für die Rider der Lieferplattformen heißt das, sich zügig im gefährlichen Straßenverkehr zu bewegen, krank zu arbeiten und über das eigene Limit zu gehen. Schließlich sind sie auf jeden Auftrag angewiesen.
Verstärkt wird dieser Druck durch die Smartphone-App der Plattformen, die den gesamten Arbeitsprozess Schritt für Schritt steuert und kontrolliert. Der Algorithmus strukturiert und verteilt die Aufträge, erfasst per Tracking die Routen und registriert, ob die Lieferungen wie gewünscht erfolgten. Wo sonst das betriebliche Umfeld als Ort der Regulation von Arbeitsleistung funktioniert und Beschäftigten gewisse Aushandlungsspielräume gewährt, steht hier der Druck des Algorithmus, der auf individuelle Bedürfnisse keine Rücksicht nimmt.
Modell Lieferando in Deutschland
In Deutschland hat sich der Bereich der Essenslieferdienste jüngst neu strukturiert. Mit Deliveroo zog sich im August 2019 eine große Plattform überraschend aus Deutschland zurück. Nur vier Tage vor Betriebsschluss erhielten die über 1.000 – formal selbstständigen – Rider von Deliveroo eine E-Mail, die sie über das bevorstehende Ende informierte. Nun beherrscht Lieferando den deutschen Markt; bereits im Frühjahr 2019 hatte das Unternehmen den Konkurrenten Foodora geschluckt.
Das Modell von Lieferando setzt auf angestellte Fahrer*innen mit befristeten Arbeitsverträgen. Bezahlt wird pro Stunde und nicht pro Auftrag. Jede Woche werden über die App neue Dienstpläne erstellt und die Rider hoffen, angemessen viele Schichten zu vertretbaren Zeiten zu ergattern. Teils stellt Lieferando E-Bikes zur Verfügung, aber etliche Rider müssen weiterhin ihr eigenes Fahrrad als Arbeitsmittel mitbringen. Der geringe Lohn wird oft unregelmäßig und unvollständig ausgezahlt, Mobilfunkkosten werden nicht übernommen und die Reparaturkosten für Fahrräder nur in Ausnahmefällen.
Die individuelle Belastung der Fahrer*innen ist hoch. Todesfälle sind in Deutschland bisher nicht bekannt, doch auch hierzulande leiden die Fahrer*innen unter den prekären Arbeitsbedingungen. Viele fühlen sich der technischen Steuerung durch die App »ausgeliefert«. Die Identifikation mit der Arbeit ist gering. Nur eine kleine Minderheit von 14 Prozent sieht keinen Anlass für Streik oder Protest – zu diesen Ergebnissen kam 2019 eine Onlinebefragung von angestellten und selbstständigen Ridern. (1)
Kreativer Protest in Großbritannien
In Großbritannien, das aufgrund der liberalen Arbeitsgesetze als Pionierland der Gig Economy gilt, kommt es seit 2016 regelmäßig zu Protesten und Streiks. Vor allem von Ridern, aber auch von anderen Plattform-Beschäftigten wie Uber-Fahrer*innen. Anfänglich folgten diese Arbeitskämpfe keiner durchdachten Gewerkschaftsstrategie. Sie entstanden aus der Eigeninitiative der Arbeiter*innen. Die Rider vernetzten sich über WhatsApp- oder Telegram-Gruppen, auch erste Protestaufrufe und Einladungen zu persönlichen Treffen wurden über die Messanger versandt.
In vielen Städten erweiterten die Essenskurier*innen das klassische Streikkonzept um neue Widerstandsformen. Ihre auffälligen Outfits brachten ihnen eine sichtbare Präsenz als Streikende. Mit öffentlichen Versammlungen und Motorroller- und Fahrradkorsos nahmen sie sich die Stadt, die sonst ihr Liefergebiet ist. Durch Kundgebungen vor Restaurants, die mit den Lieferplattformen kooperieren, erhöhten sie den Druck. Es gelang ihnen mitunter Bündnisse mit den Kund*innen zu schließen, die selbst oft ein ambivalentes Verhältnis zu den Plattformdiensten haben. Gezielt griffen die Gig-Worker so das Image der hippen Start-ups an. Zugleich diente jeder Konflikt dazu, die sozialen Netzwerke unter den Fahrer*innen auszubauen und darüber die Organisationsmacht zu erhöhen.
Mit öffentlichen Versammlungen, Motorroller- und Fahrradkorsos nahmen sie sich die Stadt, die sonst ihr Liefergebiet ist.
Die erst 2012 gegründete Gewerkschaft Independent Workers‘ Union of Great Britain (IWGB) hat viele von ihnen als Mitglied gewonnen. Ihr ist es gelungen, in dem vielen etablierten Gewerkschaften als unorganisierbar geltenden Bereich Fuß zu fassen. Die überwiegend migrantischen Arbeiter*innen, die nun bei der IWGB organisiert sind, haben das Gesicht der britischen Gewerkschaftslandschaft verändert, in der sie früher kaum repräsentiert waren. (Siehe ak 327) Im Januar dieses Jahres haben sie mit Arbeiter*innen aus 23 Ländern von sechs Kontinenten die International Alliance of App-Based Transport Workers (IAATW) ins Leben gerufen, um Erfahrungen der Kämpfe zu teilen und sich zu vernetzen.
Hierzulande hat die Freie Arbeiter*innen Union (FAU) früh die Stimmung unter den Ridern erkannt und sie in mehreren Städten unterstützt und bei sich organisiert. Gerade in der Anfangsphase der Arbeitskämpfe konnte sie unbürokratische Hilfe anbieten. Zuletzt haben mit Unterstützung der FAU mehrere ehemalige Deliveroo-Fahrer*innen vor dem Berliner Arbeitsgericht geklagt und das Vielfache der angebotenen Abfindungen erstritten. In mehreren europäischen Ländern klagten organisierte Fahrer*innen außerdem gegen die verbreitete Scheinselbstständigkeit bei Deliveroo und anderen Lieferplattformen – teilweise mit Erfolg.
Nach den ersten Jahren der Auseinandersetzungen mit den Lieferplattformen, in denen öffentliche Proteste sowie kleinere Streiks dominierten, haben heute institutionalisierte Formen von Interessenpolitik an Bedeutung gewonnen. Die anfänglich selbstorganisierte Kampagne »Liefern am Limit« hat sich im Jahr 2018 in die Gewerkschaft Nahrung-Genuss-Gaststätten (NGG) eingegliedert. Obwohl die Plattformen alles versuchten, um die Gewerkschaft draußen zu halten, konnten mittlerweile in mehreren Städten bei Foodora und später Lieferando Betriebsräte gegründet werden. Langfristig soll auch ein Tarifvertrag durchgesetzt werden.
Neuer Typ Arbeitskraft
Gesamtgesellschaftlich betrachtet ist die Gig Economy (noch) ein randständiges Phänomen. Sie ist für die Kapitalseite jedoch ein wichtiges Experimentierfeld in Sachen neuer Arbeitsorganisation und digitaler Kontroll- und Steuerungsformen. Daher kommt den Arbeitskämpfen hier eine besondere Bedeutung zu. In der Gig Economy verbinden sich verschiedene gesellschaftliche Trends, von denen Digitalisierung nur einer ist. Auch die Flexibilisierung von Arbeitszeiten und die Prekarisierung von Arbeits- und Lebensverhältnissen trugen dazu bei, dass sich das Geschäftsmodell etablieren konnte. In dieser Gemengelage hat sich ein neuer Typ Arbeitskraft herausgebildet.
Die Kernidee hinter dieser neuen Form der Arbeit ist das »Crowdsourcing«, das erst durch das Internet möglich wurde. Online-Plattformen organisieren eine Masse an potenziellen Arbeitskräften – die Crowd – und bieten diese ihren Kund*innen als Dienstleistung an. Bezahlt wird überwiegend pro Auftrag; die Plattformen streichen für jeden erledigten Job einen Anteil für die Vermittlung ein. Sie verstehen sich mehrheitlich als Intermediäre zwischen den Arbeitskräften und den Kund*innen. Da die Plattformen die Arbeiter*innen als Selbstständige (und nur selten als Angestellte) betrachten, entfallen viele Regelungen zu Arbeitszeiten, Kündigungsschutz, Lohnfortzahlung im Krankheitsfall oder Urlaubsanspruch, die für abhängig Beschäftigte gelten.
Die Essenslieferdienste sind dabei nur die sichtbare Spitze des Eisberges: Mittlerweile existiert eine Vielzahl an Plattformen, die verschiedene Dienstleistungen anbieten und die Erwerbsarbeit neu organisieren. So zum Beispiel der Paketlieferdienst Amazon Flex, der Reinigungsservice Helpling oder die von IKEA aufgekaufte Plattform Taskrabbit, die kleine Haushalts- und Handwerkstätigkeiten vermittelt.
Bislang schreiben diese Plattform-Dienste größtenteils rote Zahlen. Sie setzen auf maximale Expansion und die Aussicht, irgendwann die Märkte als Monopol zu beherrschen. Die Start-up-Phase, in der massenweise Risikokapital in die unsicheren Geschäftsmodelle investiert wurde, scheint aber langsam vorüber. Die Anleger*innen werden sich nicht ewig mit zukünftigen Gewinnerwartungen zufriedengeben; sie erwarten baldige Profite. So sind die Plattformen gezwungen, zügig rentabel zu werden, wollen sie nicht vom Markt verschwinden. Sie werden deshalb versuchen, erstens die Provisionen der Kund*innen (wie der Restaurants) zu erhöhen und zweitens den Verwertungszwang an die Arbeiter*innen weiterzugeben, etwa über das Lohnniveau und verstärkten Leistungsdruck. Der Bundesminister für Arbeit und Soziales, Hubertus Heil (SPD), und andere Politiker*innen haben sich bereits für eine stärkere Regulierung der Plattformarbeit ausgesprochen. Auch über Fragen der Scheinselbstständigkeit wird diskutiert. Doch passiert ist von Seiten der Politik bisher wenig, was die Arbeitsbedingungen substanziell verbessern würde.
Die Basisgewerkschaften und selbstorganisierten Netzwerke haben sich mit ihren Konfliktstrategien dagegen als durchaus handlungsfähig erwiesen und über die Verbindung von aktiven Fahrer*innen, kritischen Kund*innen und Medien den öffentlichen Diskurs zu ihren Gunsten beeinflussen können. Wenn solche Strategien erfolgreich sind, treiben sie die Kosten für die Kapitalseite nach oben und stellen damit unweigerlich das gesamte Modell der schlanken Plattformen infrage. In Deutschland kann »Liefern am Limit« durch den Anschluss an die NGG zudem auf bedeutend größere organisatorische Ressourcen zurückgreifen, muss aber auch sicherstellen, dass diese im Interesse der Rider eingesetzt werden. Denn ein sozialpartnerschaftlicher Kompromisskurs der Gewerkschaft kann auch die Möglichkeiten der Fahrer*innen schwächen, kreative Wege zu gehen und radikalere Forderungen durchzusetzen. Ob langfristig selbstorganisierte Proteste, Imagekampagnen und spontane Streiks oder aber Formen institutionalisierter Interessenpolitik durch Betriebsräte und große Gewerkschaften erfolgreicher sind, wird die Zukunft zeigen. Vielleicht ist es auch keine Frage des Entweder-oder. Nach mehreren Jahren Arbeitskonflikten um die Gig Economy ist jedenfalls klar: Ohne den Widerstand der Beschäftigten und ihr ständiges Drängen auf Veränderung sind auch zukünftig keine substanziellen Verbesserungen zu erwarten. Diese aber sind dringend geboten. Denn nicht erst seit Takieddine Boudhane wissen wir, dass die neue Arbeitswelt der Plattformen nicht »nur« prekär, sondern im Zweifel sogar tödlich ist.
Anmerkung: 1) Heiner Heiland: Plattformarbeit im Fokus. Ergebnisse einer explorativen Online-Umfrage zu plattformvermittelter Kurierarbeit. In: WSI-Mitteilungen 72(4) 2019, S. 298-304.