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Tödliche Institutionen

Wenn Geflüchtete sterben, spielt struktureller Rassismus oft eine Rolle – ein Skandal bleibt aus

Von Jan Ole Arps, Hannah Schultes und Bahar Sheikh

Amad Ahmad starb am 29. September 2018 nach einem Brand in seiner Zelle in der JVA Kleve.

Tödliche Schüsse, brennende Unterkünfte und Tod durch Erfrieren: Jedes Jahr kommen Geflüchtete in Deutschland gewaltsam ums Leben. Fast immer lässt sich eine Mitverantwortung staatlicher Behörden, meist in Form von strukturellem Rassismus, erkennen.

Ein solcher Fall ist der von Amad Ahmad. Am 29. September 2018 erlag der Geflüchtete den schweren Verletzungen, die er bei einem Feuer erlitten hatte, das am 17. September unter noch nicht geklärten Umständen in seiner Zelle in der JVA Kleve ausgebrochen war.

Der Tod von Amad Ahmad

Amad Ahmad saß zu diesem Zeitpunkt bereits länger als zwei Monate unschuldig in der JVA. Der 26-Jährige war am 6. Juli an einem Badesee im niedersächsischen Geldern festgenommen worden, weil er dort vier Frauen belästigt haben soll. Laut internem Vermerk der Polizei hätten die Beamt_innen Amad Ahmad mitgenommen, weil er ihrer Meinung nach dem Phantombild eines Mannes ähnlich sah, der wegen Vergewaltigung gesucht wurde.

Auf der Wache verwechselte die Polizei Ahmad dann mit einem anderen Mann: Amedy G., einem Asylsuchenden aus Mali, der einen falschen Namen benutzt habe, der dem des aus Syrien stammenden Kurden Amad Ahmad ähnelte. Amedy G. hatte eine Strafe wegen Diebstahls nicht ganz abgesessen – von einer neunmonatigen Gefängnisstrafe waren sieben Wochen noch nicht verbüßt – und eine Geldstrafe nicht gezahlt, weswegen er außerdem 57 Tage Ersatzfreiheitsstrafe leisten sollte.

Weil sie ihn für den Mann aus Mali hielten, nahmen die Beamt_innen Amad Ahmad sofort in Haft. Ob er wirklich der Gesuchte war, überprüften sie nicht. Ob er über seine Rechte aufgeklärt wurde oder ein Dolmetscher anwesend war, ist unklar – dafür spricht aber wenig. Freunde des Toten berichteten gegenüber der Zeitung neues deutschland von Erfahrungen mit rassistischen Polizeibeamt_innen in Geldern.

Bei der Erstbelehrung des Gefangenen in der JVA Kleve war kein Dolmetscher anwesend. Freund_innen sagen, dass Ahmads Deutschkenntnisse nicht ausreichten, um ein Konto bei der Sparkasse zu eröffnen. Es ist also möglich, dass Ahmad zunächst nicht verstand, weshalb genau er in Haft war – und so auch die Verwechslung nicht aufklären konnte.

Inzwischen stellte sich heraus, dass die Vergewaltigung, wegen der er zunächst festgenommen wurde, offenbar erfunden war. Der Psychologin der JVA Kleve erklärte Ahmad Anfang September zudem, dass er nicht der Gesuchte sei. Sie leitete ein Protokoll in der JVA weiter, doch nichts geschah.

Amad Ahmad saß nicht nur zu Unrecht in Haft, er hätte auch viel früher freikommen können. Auf dem Haftbefehl wegen der 57-tägigen Ersatzfreiheitsstrafe war vermerkt, dass die Haftstrafe des Gesuchten (der Ahmad nicht war) gegen Zahlung von 285 Euro sofort außer Kraft gesetzt werden könne. In diesem Fall hätte Ahmad schon nach siebenwöchiger unrechtmäßiger Haft Ende August freikommen können.

Doch der Haftbefehl mit diesen Informationen erreichte die JVA Kleve erst mehrere Tage nach seiner Inhaftierung. Offenbar gingen die Beamt_innen in Kleve auch den Hinweisen auf die Verwechslung im Haftbefehl nicht nach. Dem Spiegel zufolge gibt es keine Hinweise darauf, dass Ahmad über die Möglichkeit, gegen eine Zahlung von 285 Euro freizukommen, informiert wurde. Zwar gibt es einen Polizeivermerk, dass er erklärt habe, er könne das Geld nicht zahlen, doch ist unklar, ob sich seine Aussage auf die Summe von 285 Euro bezieht oder auf die offenen Verfahrenskosten von fast 1.500 Euro.

Vor seiner Verhaftung lebte Ahmad in einer Unterkunft für Asylsuchende. In Syrien hatte er drei Jahre in einem Gefängnis des Regimes gesessen, wo er auch misshandelt wurde. Freunde sprechen davon, dass er traumatisiert gewesen sei. 2013 wurde er aus der Haft entlassen. Später floh die Familie in die Türkei, sein Vater gelangte von dort nach Europa. Nachdem Versuche, die Familie nachzuholen, fehlschlugen, floh im Winter 2016 auch Amad Ahmad nach Deutschland. Im Mai 2018 wurde er als Flüchtling anerkannt.

In der Zelle verbrannt

Am 17. September brach unter noch nicht geklärten Umständen ein Feuer in Ahmads Zelle aus. Laut einem Bericht des nordrhein-westfälischen Justizministers Peter Biesenbach (CDU) erhielt ein Justizvollzugsbeamter an jenem Tag um 19.19 Uhr über die Gegensprechanlage einen Ruf aus der Zelle. Da er beschäftigt gewesen sei, habe er diesen nach wenigen Sekunden weggedrückt; noch ist unklar, ob er überhaupt mit Ahmad gesprochen hat. Zu diesem Zeitpunkt habe die Zelle schon seit mindestens 15 Minuten gebrannt.

Vier Minuten später lösten Häftlinge in benachbarten Zellen wegen der Rauchentwicklung den Feueralarm aus. Die JVA-Bediensteten, die die Zelle aufschlossen, trafen dort auf den schwer verletzten Amad Ahmad.

Die Staatsanwaltschaft Kleve ermittelt nun gegen sechs Mitarbeiter_innen der Polizei wegen des Verdachts der Freiheitsberaubung und gegen einen Anstaltsarzt wegen möglicher Tötung durch Unterlassen. Die Staatsanwaltschaft geht davon aus, dass Ahmad das Feuer in suizidaler Absicht selbst legte. Eine Fremdeinwirkung schließt auch Justizminister Biesenbach aus. In dem Bericht an den Landtag erklärte Biesenbach Anfang November unter Berufung auf die Polizei und einen Brandsachverständigen, das Bettzeug sei zu einem »Nest« zusammengelegt und vorsätzlich in Brand gesetzt worden. Eine zufällige Brandentwicklung, zum Beispiel durch die Glut einer Zigarette, könne ausgeschlossen werden.

Allerdings hatte der Brandsachverständige erst zweieinhalb Wochen nach dem Brand Zugang zur Zelle; Brandbeschleuniger können schon nach wenigen Tagen kaum noch nachgewiesen werden. Den Notruf erklärt Biesenbach damit, dass Amad Ahmad aufgrund starker Schmerzen möglicherweise doch um Hilfe habe rufen wollen.

Dass es überhaupt einen Ruf aus der Zelle gab, konnte erst ein externer IT-Dienstleister rekonstruieren. Der Justizminister hatte das, gestützt auf Angaben der JVA Kleve, zunächst verneint. Stefan Engstfeld, rechtspolitischer Sprecher der Grünen in Nordrhein-Westfalen, nennt Biesenbachs Bericht lückenhaft und nebulös. Insbesondere bezeichnet er die zeitlichen Abläufe des Brandes als unklar; ungeklärt sei zudem, ob sich Amad Ahmad schon früher bemerkbar gemacht habe. Auch sei das medizinische Personal der JVA Ahmads Hinweisen, dass er nicht der Gesuchte sei, nicht nachgegangen. Zudem kann bisher nicht beantwortet werden, warum trotz des offenbar labilen psychischen Zustands keine Beobachtung angeordnet wurde. Anstaltsärzt_innen stellen bei der Aufnahme sowohl in der JVA Geldern als auch in der JVA Kleve im Juli noch Suizidgefährdung fest. Anfang August notierte ein Anstaltsarzt, ebenfalls in Kleve, dass keine Suizidgefährdung gegeben sei.

SPD und Grüne fordern wegen mehrfacher Falschauskünfte den Rücktritt Biesenbachs und einen Untersuchungsausschuss. Ein Statement, das unter anderem von der Oury Jalloh Initiative, der Initiative Schwarzer Menschen in Deutschland und dem NSU-Tribunal veröffentlicht wurde, macht strukturellen Rassismus für die vielen Fehler der Polizei verantwortlich und fordert lückenlose Aufklärung. Der Tod von Oury Jalloh in einer Dessauer Polizeiwache habe zudem gezeigt, dass nur eine öffentliche Begleitung der Ermittlungen für Aufklärung sorgen könne. (1)

Brände in Lagern

Amad Ahmads tragischer Tod war in den letzten Wochen Thema in den Medien. Andere Fälle, bei denen behördliches Versagen und struktureller Rassismus Geflüchtete das Leben kostete, wurden von den Medien kaum zur Kenntnis genommen oder gerieten schnell aus dem Fokus der Öffentlichkeit.

Gefährdet sind Geflüchtete auch durch die Lebensbedingungen in den Einrichtungen, in denen sie leben müssen. In zahlreichen Unterkünften geht regelmäßig der Feueralarm los – als Fehlalarm wegen angebranntem Essen, angelassener Herdplatten oder brennender Zigaretten. Welche Folgen die häufigen Fehlalarme in den Unterkünften haben, zeigt ein Artikel der Rhein-Neckar-Zeitung vom 12. Oktober 2018 über einen »Brandbrief« der Weinheimer Feuerwehr. Im Artikel heißt es über einen Feuerwehreinsatz: »So steht, als die Weinheimer Wehr bei ohrenbetäubendem akustischen Signal am ehemaligen Ebert-Park-Hotel in der Freiburger Straße eintrifft, lediglich ein Bewohner mit einem in eine Decke gewickelten Kind draußen. Was die anderen 80 dort lebenden Menschen zu dieser Zeit machen oder wo sie sind, ist aus Sicht der Feuerwehr unklar. Dabei hätte das Gebäude eigentlich geräumt werden müssen.«

Zum einen scheint also eine hohe Frequenz von Fehlalarmen in vielen Geflüchtetenunterkünften zu existieren, mit der Bewohner_innen und Angestellte umgehen müssen. Zum anderen scheint die Brandgefahr in diesen Einrichtungen hoch. Insgesamt verfestigt sich dadurch der Eindruck, dass die Bewohner_innen von Geflüchtetenunterkünften in Deutschland einem hohen Risiko ausgesetzt sind, in den Unterkünften durch Brände verletzt zu werden.

Gefährdet sind Geflüchtete auch durch die Bedingungen in den Einrichtungen, in denen sie leben müssen.

So verbrannte in der Nacht vom 14. auf den 15. November 2017 ein 28-jähriger Mann aus Eritrea in der Aufnahmeeinrichtung Oberfranken (AEO), dem sogenannten Ankerzentrum von Bamberg. 14 Menschen wurden verletzt, die meisten durch Rauchgasvergiftungen, sechs Personen kamen ins Krankenhaus. Einen Anschlag schlossen die Ermittler aus. Dem Bayerischen Rundfunk gegenüber schilderte ein Bewohner, dass der Rauchmelder gegen halb drei losgegangen sei. Er habe der Security im Lager Bescheid gegeben, diese hätte die Feuerwehr auch nach seinem Hinweis auf das Feuer jedoch zunächst nicht gerufen. Der Notruf sei eine halbe Stunde zu spät abgesetzt worden.

Einen Tag später sagte der Polizeisprecher, man habe mit dem Mann gesprochen, könne aber »seine Vorwürfe nicht verifizieren«. In einer Pressemitteilung der oberfränkischen Polizei und der Bamberger Staatsanwaltschaft heißt es: »Belastbare Hinweise, dass das Feuer schon einige Zeit vorher gemeldet wurde, ergaben sich im Zuge der bisher geführten Ermittlungen nicht.« Einem Bericht des Bayerischen Rundfunks vom 17. November 2017 zufolge gingen die Ermittler von Fahrlässigkeit beim Rauchen als Brandursache aus.

Am 22. September 2018 kam es in derselben Einrichtung in Bamberg zu einem Großbrand, bei dem das Dachgeschoss ausbrannte. 144 Bewohner_innen wurden evakuiert, verletzt wurde niemand. Gegenüber infranken.de sagte Heiko Mettke, Sprecher des Polizeipräsidiums Oberfranken, am 25. September: »Wir schließen zum derzeitigen Stand der Ermittlungen einen politischen Hintergrund und jede Einwirkung von außen aus.« Ob in dem Vorzeigelager der CSU in Bamberg Geflüchtete weiterhin gefährdet sind, bei einem Brand umzukommen, wie der junge Mann aus Eritrea, ist in der Öffentlichkeit kein Thema.

Arnsdorf: erfroren im Wald

Rassismus war für die Sicherheitsbehörden auch bei einem Fall rassistischer Gewalt in Arnsdorf kein Thema: Saleh Schabas Al-Aziz wollte im Mai 2016 im sächsischen Arnsdorf in einem Supermarkt eine Telefonkarte umtauschen. Dort kam es zu Verständigungsschwierigkeiten. Beim dritten Versuch soll der 21-jährige irakische Mann die Kassiererin bedroht haben. Ein Video zeigt, wie vier Männer ihn mit Gewalt aus dem Supermarkt zerren und an einen Baum fesseln. Danach rufen sie die Polizei.

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Das Video zeigt einen Teil des Übergriffs auf Saleh Schabas Al-Aziz im Netto-Supermarkt in Arnsdorf.

Im Prozess wegen Freiheitsberaubung, der am 24. April 2017 im Amtsgericht Kamenz gegen die Angreifer eröffnet wurde, hätte Schabas Al-Aziz als Zeuge gehört werden sollen. Jedoch erfriert Schabas Al-Aziz im Januar 2017 in einem Wald in der Nähe seiner Unterkunft. Seine Leiche wird drei Monate später von einem Jäger gefunden.

Am Tag des Prozesses betreten die vier wegen Freiheitsberaubung Angeklagten unter Applaus einer großen Gruppe angereister Unterstützer_innen das Gericht. Kurze Zeit später verkündet der Richter die Einstellung des Verfahrens »wegen geringer Schuld« der Angeklagten und »fehlenden öffentlichen Interesses an der Strafverfolgung«. Die rassistische Dimension der Tat findet keine Erwähnung. Im Gegenteil: Die Freiheitsberaubung wird zur »Zivilcourage« umgedeutet. Der Görlitzer Polizeipräsident stärkt die rassistische Darstellung des Angriffs in seiner Stellungnahme: »Durch die Erregtheit des Asylbewerbers war das Festhalten sinnvoll, ich tu mich schwer zu sagen, notwendig.«

Neben dem Freispruch der Angeklagten haben deutsche Behörden auch die fehlende medizinische Versorgung des an Epilepsie erkrankten Geflüchteten zu verantworten. Eine Ärztin, die Schabas Saleh Al-Aziz damals behandelte, erzählte der taz: »Im Fall von Al-Aziz habe das Sozialamt Pirna in der Regel die Kostenübernahme für die Epilepsie-Medikamente verweigert. Die Folge war, dass er wiederholt mit epileptischen Anfällen in die Notaufnahme eines Freitaler Krankenhauses eingeliefert wurde.« Es sei sehr schwierig für Schabas Al-Aziz gewesen, an seine Medikamente zu kommen, sagt die Ärztin.

Als er aus dem Krankenhaus entlassen wurde, bekam er Tabletten für drei Tage. Sobald sie aufgebraucht waren, musste er beim Sozialamt Pirna die Kostenübernahme für weitere Medikamente beantragen. Der Antrag wurde oft nicht bewilligt. Elf Mal muss der Krankenwagen kommen, um ihn in die Notaufnahme zu bringen. Als das Amtsgericht Kamenz feststellt, dass er nicht in der Lage ist, für sich selbst zu entscheiden, wird ihm ein gerichtlicher Betreuer zugeordnet. Der AfD-Politiker und Berufsbetreuer Steffen Frost ist fortan für ihn verantwortlich. Wieso Schabas Al-Aziz im Wald erfror, bleibt unklar. Was man aber weiß: Er litt an Epilepsie und könnte im Wald einen Anfall erlitten haben.

Fulde: Tod durch Polizeischüsse

Ein anderer, medial kaum beachteter Fall ist der eines 19-jährigen afghanischen Geflüchteten, der im April 2018 in Fulda von einem Polizisten erschossen wurde. Er soll vor einer Bäckerei randaliert und Mitarbeiter*innen bedroht haben. Auch Beamte hätte er angegriffen. Der Polizist feuerte zwöf Schüsse ab, vier von ihnen trafen den jungen Mann. Die Obduktion ergab, dass zwei der Schüsse tödlich waren; sie trafen ihn im Bauch- und Brustbereich. Nach der Tat warf Abdulkerim Demir vom Fuldaer Ausländerrat die Frage der Verhältnismäßigkeit auf. Das LKA nahm die Ermittlungen wegen eines Tötungsdelikts auf. Die Ermittlungen wurden im Oktober dieses Jahres beendet, über den Inhalt des Gutachtens des Fuldaer Staatsanwalts ist noch nichts bekannt.

Bahar Sheikh

war Redakteurin bei ak und arbeitet heute als freie Journalistin.

Hannah Schultes

Hannah Schultes war Redakteurin bei ak.

Jan Ole Arps

ist Redakteur bei ak.

Anmerkung:
1) Die Initiativen sammeln daher Spenden, damit die Familie Ahmads einen Rechtsanwalt bezahlen kann.