EZB-Urteil: Lob von rechts
Von Guido Speckmann
Stand Ende März liefen 76 EU-Vertragsverletzungsverfahren gegen Deutschland. Bald könnte ein weiteres hinzukommen. Derzeit nämlich prüft die EU-Kommission, ob sie gegen die Bundesrepublik vorgeht, weil das Bundesverfassungsgericht am 5. Mai mit markigen Worten dem Europäischen Gerichtshof (EuGH) die Gefolgschaft verweigert hat. Gegenstand des Streits: das Anleihekaufprogramm der Europäischen Zentralbank (EZB) von 2015. Der EuGH hatte dieses gebilligt. Das werteten die Karlsruher Richter als »schlechterdings nicht mehr nachvollziehbar« und »willkürlich«, weil die Verhältnismäßigkeit und die wirtschaftlichen und sozialen Folgen für die EU-Bürger*innen ausgeklammert worden seien.
Die EZB-Entscheidung für den milliardenschweren Staatsanleihekauf sei zudem kompetenzwidrig. Karlsruhe stellt jedoch nicht die Praxis der Notenbank an sich in Frage; es verlangt lediglich, dass diese binnen drei Monaten eine ausreichende Begründung vorlegt. Anderenfalls müsse die Bundesbank, die im Auftrag der EZB die umstrittenen Anleihekäufe tätigt, aus dem Programm aussteigen. Die Botschaft der Richter in den roten Roben lautete mithin: Mach mal halblang, lieber EuGH, und du, EZB, spiele dich nicht als »Master of the Universe« auf.
Wirtschaftspolitisch kommt die Klatsche aus Karlsruhe zur Unzeit – mitten in eine neue Krise.
Das Urteil lässt sich juristisch, wirtschaftlich und politisch bewerten. Juristisch ist es Ausdruck des schon länger schwelenden Streits zwischen dem Bundesverfassungsgericht und dem EuGH. Es ist eine weitere Episode im jahrelangen Ringen um Ziele und Grenzen der europäischen Integration. Das Karlsruher Urteil ist in diesem Prozess ein Einschnitt und wird zu Recht als historisch bezeichnet. Denn es ist das erste Mal, dass das Verfassungsgericht des wichtigsten EU-Mitgliedsstaates den Vorrang europäischen Rechts in Zweifel zieht.
Wirtschaftspolitisch kommt die Klatsche aus Karlsruhe zur Unzeit. Gerade hat die EZB sich erneut als die EU-Institution erwiesen, die den Staatenbund notdürftig zusammenhält. Sie hat, um die Folgen des Lockdowns abzumildern, ein neues, noch umfangreicheres Anleihekaufprogramm aufgelegt. Diese Rolle hatte die EZB 2012 erstmals übernommen, als deren damaliger Präsident, Mario Draghi, seine inzwischen berühmte »Whatever-it-takes«-Rede hielt. Die »Eurokrise« war damit erst einmal Geschichte.
Gerade in Deutschland wurde die neue Praxis der EZB – Negativzinsen und quantitative Lockerung durch Anleihekäufe am Sekundärmarkt (übrigens eine Gewinngarantie für Banken und Finanzinvestoren) – offen kritisiert. Das sei eine monetäre Staatsfinanzierung durch die Hintertür, und die sei verboten. Die geringen Zinsen würden die Sparer*innen enteignen. Und überhaupt dürfe sich die EZB doch nur um die Geldwertstabilität kümmern, nicht um Wirtschaftspolitik. Das ist größtenteils Ideologie, fußend auf monetaristischen und neoklassischen Wirtschaftskonzepten, beliebt bei Neoliberalen und Konservativen. Höchstes Gut ist ihnen die Geldwertstabilität, also die Vermeidung einer Inflation. Hierin drückt sich das Interesse von Vemögensbesitzer*innen aus.
Um die deutschen Sparer*innen sorgt sich Karlsruher denn auch besonders. Eine unberechtigte Sorge, weil Sparer*innen zumeist auch Lohnabhängige sind. Verlieren sie ihren Job, wird ihnen die Möglichkeit zum Sparen genommen. Und so wäre es EU-weit noch vielen mehr ergangen, hätte die EZB nicht so interveniert, wie sie es getan hat. Kurz nach dem Karlsruher Urteil veröffentlichte das Institut der deutschen Wirtschaft eine Studie mit dem zentralen Ergebnis, dass die EZB-Politik eine positive Wirkung auf die Vermögensbildung deutscher Sparer*innen habe. Unter dem 2015 begonnenen Anleihekaufprogramm habe sich die Vermögensbildung in Deutschland sogar besser als in anderen Ländern des Euroraums entwickelt. Eine herbe Rüge für die ökonomische »Urteilskraft« der Richter in Karlsruhe.
Politisch hat das EZB-Urteil die verheerendsten Folgen: Es stärkt die Nationalist*innen aller Länder in ihrem Widerstand gegen das »Diktat aus Brüssel«. Schon sprach der polnische Regierungschef von »einem der wichtigsten Urteile in der Geschichte der Europäischen Union«. Die Gefahr der weiteren Desintegration der EU sehen selbst Unionspolitiker, die sich in der Vergangenheit oft skeptisch zur EZB äußerten. Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble (CDU) sieht gar die Existenz des Euro und damit der EU insgesamt auf dem Spiel stehen.
Und die Linke? Sie steht vor einem Dilemma: Soll sie sich auf die Seite der EU schlagen, um nationalistische Interessen aus Deutschland und anderswo abzuwehren? Oder soll sie EuGH und EZB kritisieren, weil auch sie feste Bestandteile des sogenannten neoliberalen Konstitutionalismus sind?