Soziale Verbesserungen im Hamsterrad
Durch die Corona-Krise wird auch die Frage aufgeworfen, wie es mit dem Sozialstaat und Hartz IV weitergeht
Von Harald Rein
Von der Bundesregierung sind zur Abmilderung der Corona-Krise viele Schutzschirme aufgespannt worden, ein Schutzschirm für Arme ist nicht darunter. Wieder einmal zeigt sich die Klassenrealität in Deutschland. Denn der Virus trifft zwar alle, aber vor Corona sind nicht alle gleich. Zu Hause bleiben in der kleinen Wohnung ohne digitale Verbindung zur Außenwelt, ohne Zuverdienstmöglichkeiten oder Zugang zu Tafeln oder Kleiderkammern ist ein anderes Leben, als das Leben von Zahnärzt*innen, die Soforthilfen des Bundes in Anspruch nehmen können oder Facharbeiter*innen, die Kurzarbeitergeld erhalten. Es zeigt sich, dass der größte Teil der Erwerbslosen weiterhin mit einem kargen Arbeitslosengeld II abgespeist wird, die Mitwirkungsverpflichtungen bleiben erhalten. Lediglich für eine Zeit lang wurde ein vereinfachtes Verfahren der Beantragung von Arbeitslosengeld II eingeführt.
In der Krise lässt sich aber auch feststellen, dass Dinge, die früher im ideologischen Standardrepertoire der Politiker*innen gang und gäbe waren, plötzlich keine maßgebliche Rolle mehr spielen, so wird beispielsweise weniger Druck zur Arbeitsaufnahme eingefordert. Offensichtlich ist es möglich, das Recht auf materielle Absicherung direkt und ohne große Kontrollen auszuführen, etwa indem einfach und unbürokratisch sofortige und materielle Unterstützung geleistet wird.
Diese Erfahrung kann zum Ausgangspunkt genommen werden, um auf die aktuelle Situation armer Menschen aufmerksam zu machen und wichtige Forderungen mit Nachdruck in der Öffentlichkeit zu präsentieren (siehe zum Beispiel den Forderungskatalog des Erwerbslosenvereins »Tacheles«). Wer allerdings glaubt, mit dieser Argumentation über die Krise hinaus eine grundlegende Verbesserung der Lebensbedingungen armer Menschen zu erreichen, unterliegt einem großen Irrtum und versteht die entscheidenden sozialstaatlichen Regulierungsfunktionen nicht. Von seiner ökonomischen Grundlage her gesehen kann der kapitalistische Sozialstaat die Ursachen von Armut nicht beseitigen, sie sind im System angelegt.
Sozialversicherungen sind Disziplinierungsinstrumente
Der kapitalistische Sozialstaat verwaltet die entstehenden Notlagen mit dem Ziel, notdürftig die Interessen verschiedener Gruppen klein zu halten und sie einer möglichen Verwertung im Produktionsprozess zuzuführen. Der viel gelobte deutsche Sozialstaat ist ohne den Sicherheitsstaat nicht zu denken. Der Soziologe Heinz Steinert stellte fest: »Die Sozialversicherung ist also so konstruiert, dass lebenslange Erwerbsarbeit und Karriere notwendig sind. Die Sozialversicherung ist damit ein Instrument, um die disziplinierte Arbeitskraft herzustellen und zu reproduzieren.« Wer da nicht mithalten will oder kann, gerät in die Mühlen der Wohlfahrt. Deren Unterstützung muss sich aber erst »verdient« werden, und wer sich dem entgegenstellt, wird bestraft. Vor diesem Hintergrund gilt es, sich klarzumachen, dass es einen »besseren« Sozialstaat nie gegeben hat – und deshalb auch nicht darauf verwiesen werden kann. Soziale Verbesserungen sind eingebettet in einem Hamsterrad, in dem es manchmal schneller, manchmal langsamer zugeht, aber es dreht sich immer weiter – zumindest so lange, bis der Käfig geöffnet wird.
Damit soll allerdings nicht gesagt werden, dass der Kampf für soziale Forderungen armer Menschen aussichtslos ist. Er orientiert sich in einem ersten Schritt direkt an dem Staat, da dieser über die notwendigen Mittel verfügt und in der Lage ist, diese partiell – bei entsprechendem Druck – auch zur Verfügung zu stellen. Forderungen an die Jobcenter nach guter Beratung und schneller Hilfe sowie nach höheren Regelsätzen ohne Sanktionen sind aus der Bewegung von armen Leuten, aus ihren tagtäglichen Erfahrungen auf den Ämtern und im Umgang mit Sozialleistungen, entstanden und bilden die Grundlage für den Widerstand.
Der immer wieder hochgelobte deutsche Sozialstaat ist ohne den Sicherheitsstaat nicht zu denken.
Obwohl die weitere ökonomische Entwicklung nicht absehbar ist, lassen sich schon einige Tendenzen infolge der Corona-Krise erkennen. In Deutschland wurde für jeden dritten Beschäftigten Kurzarbeit angemeldet (SZ, 17.4.20). Für viele bleibt nur der Gang zum Grundsicherungsamt, der Antrag auf Hartz IV. So rechnet das Bundesarbeitsministerium damit, dass es in den kommenden sechs Monaten bis zu 1,2 Millionen zusätzliche Bedarfsgemeinschaften geben werde (FAZ, 7.5.20). Armut wird während und nach Corona zunehmen. Diese »Neuzugänge« treffen auf erfahrene Mitarbeiter*innen in den Jobcentern, die wissen, mit welchen Methoden sie den Willen dieses Personenkreises brechen können, damit alle neu geschaffenen Jobs auch besetzt werden können – unabhängig von den eigenen beruflichen Wünschen, den beruflichen Vorerfahrungen, der Qualität der Arbeit und der Höhe des möglichen Lohnes.
Die Widerständigkeiten armer Leute aufgreifen
Bereits zu einem früheren Zeitpunkt zeigte sich, dass linke Ansätze einer emanzipatorischen Politik die Einsichten und die Widerständigkeit armer Leute nur sporadisch aufgreifen (siehe ak 636). Das prekär-lab in Frankfurt hat daraus Konsequenzen gezogen und Menschen aus unterschiedlichen prekären Feldern gefragt: Habt ihr trotz eurer tagtäglichen beruflichen oder politischen Arbeit Interesse an einer Zusammenarbeit? Daraus entwickelte sich eine kleine Gruppe von Aktivist*innen, die in verschiedenen Aktionen Armut und prekäre Arbeitsverhältnisse in Frankfurt in den Mittelpunkt stellen. Wichtig für das prekär-lab war, dass alle von ähnlichen Prekaritätserfahrungen ausgehen konnten. Diese ermöglichten es, aktiv einzugreifen, Beistand zu leisten und Gemeinsames erlebbar zu machen.
Ein erweiterter Widerstandsbegriff ist unumgänglich, um die stillen und lauten Auflehnungen zu unterstützen. Dazu gehört auch, die »illegalen« minimalen materiellen Aufstockungen armer Menschen (z.B. Einkommen, die auf die Hand gezahlt werden) nicht zu diskriminieren, sondern aufzunehmen, solange es dazu keine Alternativen gibt. Natürlich gilt es angesichts der Corona-Krise, unmittelbar auf eine Erhöhung der Regelsätze ohne Sanktionen zu dringen.
Darüber hinaus kann die Forderung nach einem bedingungslosen Grundeinkommen die Frage nach einer ausreichenden Existenzsicherung am besten beantworten. Wenn sie aber als ausschließliche Ein-Punkt-Forderung propagiert wird, ist sie völlig ungenügend. Benötigt wird die Einbettung in eine anti-kapitalistische Agenda, denn ein Grundeinkommen allein sorgt noch nicht für ein anspruchsvolles Transport-, Erziehungs- oder Gesundheitssystem.
Aber auch die Frage nach dem Aufbau institutioneller Gegenkräfte, die der kapitalistischen Kommodifizierung entgehen und neue gesellschaftliche Bindungskräfte gestalten können, ist damit noch lange nicht beantwortet. In einer ersten Phase wird es ohne den (Sozial-)Staat nicht gehen. Stabile Lebensverhältnisse angesichts unsicherer Existenzmöglichkeiten benötigen eine entgeltfreie soziale Infrastruktur, eine Grundversorgung für Energie, Wasser, Mobilität und digitalen Zugang sowie ein kostenloses Recht auf Gesundheit und Bildung. Solcherart Vorschläge sind nicht neu, aber es gibt kaum eine politische Gruppe in Deutschland, die auch nur ansatzweise eine praktische Umsetzung angeht.
Anders in anderen Ländern. So hat zum Beispiel die Piqueteros-Bewegung argentinischer Erwerbsloser eine Politik der sozialen Reproduktion jenseits von Armut und Erwerbslosigkeit entwickelt, indem sie aus ihrer sozialen Lage heraus mit spektakulären Aktionen (Straßenblockaden) eine Erhöhung der Sozialprogramme erreichte. Dieses Geld wurde von einer eigenen Institution (Union Trabajadores Desocupados, Gewerkschaft der arbeitslosen Arbeitnehmer) verwaltet und als wiederangeeignetes Sozialprogramm, jetzt aber für kollektive Zwecke, an die Aktiven weitergegeben. Die beteiligten Erwerbslosen konnten so selbst bestimmen, was als notwendige Arbeit erforderlich ist und wie diese gestaltet werden kann.
Vielleicht werden soziale Reproduktionskämpfe in den nächsten Jahren eine größere Bedeutung für Alternativen jenseits von Erwerbsarbeit und Markt darstellen, denn wer will schon dauerhaft in einem Hamsterkäfig verweilen!?