Mit absoluter Härte
In Italien tun die Rechten und das Kapital alles, um von der Krise zu profitieren
Von Jens Renner
Am 21. Februar wurde in Italien offiziell der erste Todesfall im Zusammenhang mit dem Coronavirus bestätigt. In der zweiten Maiwoche ist die offizielle Zahl der Pandemieopfer auf mehr als 30.000 gestiegen. Am schlimmsten betroffen ist die Region Lombardei (Hauptstadt Mailand) und dort insbesondere die Provinz Bergamo. Hier lag – nach Angaben des staatlichen Statistikamtes und der nationalen Gesundheitsbehörde – die Übersterblichkeit bei 568 Prozent.
Die schnelle Ausbreitung des Virus in den reichen Nordregionen ist das Ergebnis gravierender Fehler beim Krisenmanagement und struktureller Defizite des Gesundheitswesens. Dessen öffentlicher Sektor wurde, auch beeinflusst durch die Spardiktate der EU, in den vergangenen 25 Jahren massiv zurückgefahren. Die folgenden Privatisierungen aber waren Ergebnis politischer Entscheidungen. Seit vielen Jahren sind die Nordregionen fest in der Hand rechter Parteien, vor allem Lega und Forza Italia. In der Lombardei war es der Regionalpräsident Attilio Fontana von der Lega, der mit Beschwichtigungen, Lügen und kompletter Unfähigkeit zur Verschärfung der Lage beitrug. Das Coronavirus breite sich zwar aggressiv aus, sei aber harmlos in seiner Wirkung, sagte er am 25. Februar. Sein folgenreichster Fehler war die Einweisung von Infizierten in Altenheime, darunter Il Pio Albergo Trivulzio in Mailand. Wegen der dortigen Todesfälle ermittelt die Staatsanwaltschaft.
Auch wenn in der akut sich zuspitzenden Krise Dummheit und Überforderung der Verantwortlichen eine Rolle gespielt haben – die Gründe für das Versagen liegen in einem System, für dessen Profiteure die Gesetze allenfalls empfehlenden Charakter haben. Zu Recht erinnert Roberto Saviano (»Gomorrha«) an den langjährigen Präsidenten der Lombardei, Roberto Formigoni (Forza Italia). Dieser wurde – »wegen schwerer Korruption im Zusammenhang mit Verbindungen der regionalen Macht zum privaten Gesundheitssektor« – zu fünf Jahren und zehn Monaten Haft verurteilt und sitzt seit Februar 2019 im Gefängnis. Formigoni hatte von den Betreibern zweier Privatkrankenhäuser u.a. Geld und eine Jacht erhalten und diesen im Gegenzug öffentliche Mittel in Höhe von jeweils über 100 Millionen Euro zugeschoben. Schuldig der Korruption ist auch der ehemalige Direktor der Gesundheitsbehörde in Pavia, Carlo Chiriaco, der im Mai 2016 zu zwölf Jahren Haft verurteilt wurde: Er hatte im Auftrag der kalabrischen Mafia ‚Ndrangheta Ausschreibungen für Pflegedienstleistungen manipuliert.
Alles öffnen!
Die Grundregel, in der Corona-Krise nur Betriebe am Laufen zu halten, die lebensnotwendige Produkte herstellen oder unverzichtbare Dienstleistungen bieten, wurde auch während des Lockdowns der »Phase 1« in großem Umfang gebrochen. Unternehmen übten massiven Druck auf die Beschäftigten aus, zur Arbeit zu erscheinen, selbst wenn die Betriebe keine oder nur völlig unzureichende Schutzmittel zur Verfügung stellten. Das war Ende März, als die Zahl der Infizierten und Verstorbenen täglich anstieg. Ungeachtet der Entlassungsdrohungen blieben viele abhängig Beschäftigte der Arbeit fern oder traten kollektiv in den Streik.
Derweil agitierte der legale Arm des Kapitals, der Unternehmerverband Confindustria, täglich für den reibungslosen Weiterbetrieb möglichst vieler Unternehmen oder für deren schnelle Wiedereröffnung. Mit einigem Erfolg. Das vielleicht krasseste Beispiel dafür ist der Rüstungskonzern Leonardo. In dessen Fabrik in Cámeri (Region Piemont) wurde nach kurzer Pause schon Ende März die Produktion des Kampjets F35, der auch mit Atomraketen bestückt werden kann, wieder aufgenommen.
Wenige Wochen später, immer noch mitten in der Krise, setzte dann die Confindustria ein klares Zeichen. Die turnusmäßig anstehende Neuwahl ihres Präsidenten gewann der notorische Scharfmacher Carlo Bonomi. In seiner Dankesrede forderte der Freund und Partner der vereinigten Rechten umstandslos die Öffnung aller Betriebe. Außerdem nutzte er die Gelegenheit für eine Kampfansage an Regierung und Gewerkschaften: »Die Politik« habe die Unternehmer einem »starken anti-industriellen Vorurteil« ausgesetzt, klagte er. Darauf und auf die »Beleidigungen« durch die Gewerkschaften müssten die Unternehmer »mit absoluter Härte antworten.«
Von der Kooperation zur Konfrontation
Im Unterschied zum Unternehmerlager setzte die rechte Opposition aus Lega, Fratelli d’Italia und Forza Italia anfangs eher auf Kooperationsangebote an die Regierung als auf Kritik. Um sichtbar zu bleiben, agierte Matteo Salvini gleichzeitig als eine Art italienischer Provinz-Trump: Er spielte die Gefahr durch das Coronavirus herunter und forderte den Weiterbetrieb sämtlicher Unternehmen. Auf Facebook schrieb er am 27. Februar: »Fabriken, Läden, Museen, Galerien, Sporthallen, Diskotheken, Handelszentren wieder aufmachen«. Knapp zwei Wochen später war er dann doch für eine »rote Zone«: Ganz Europa müsse sich abschotten; am 21. Februar hatte er sich noch mit der »Versiegelung« der italienischen Staatsgrenzen zufrieden gegeben. Dann wieder verbreitete er die Geschichte über das angeblich aus einem chinesischen Labor stammende Virus. In seiner noch einmal zugespitzten Version mutierte es gar zu einer absichtlich hergestellten biologischen Waffe: »Die Chinesen züchten Coronavirus mit Fledermäusen und Mäusen«, twitterte er am 24. März.
Was den Wieder- oder Weiterbetrieb der Fabriken anging, wechselte Salvini im Laufe der folgenden Wochen noch mehrfach den Kurs. Dem Ruf vor allem des norditalienischen Kapitals nach einer Regierung der nationalen Einheit, unterstützt von parteilosen Technokrat*innen, schloss er sich zumindest in der Tendenz an. Im Unterschied übrigens zu seiner wichtigsten Bündnispartnerin, Giorgia Meloni von den neofaschistischen Fratelli d’Italia, die dem Premier schon Anfang März in einem Fernseh-Interview »kriminelles Verhalten« vorwarf. Im Gegensatz zu ihr habe Ministerpräsident Giuseppe Conte nicht das »Vaterland«, sondern sich selbst an die erste Stelle gesetzt.
Die Verteidigung des von außen bedrohten – und von der Regierung schutzlos gelassenen – Vaterlands wurde dann auch das Leitmotiv der eskalierenden rechten Polemiken. Rückgratlos und von Brüssel ferngesteuert wolle Contes Kabinett sich mit ein paar Milliarden aus dem Europäischen Stabilitätsmechanismus (ESM) abspeisen lassen. Eine glatte Lüge, die Conte auf einer Pressekonferenz am Abend des 10. April ungewöhnlich scharf zurückwies, wobei er Salvini und Meloni persönlich angriff.
Damit wurde Conte endgültig zum Hauptfeind der Rechten. Der Premier sei ein Dieb, der Italiens Zukunft stehle, ätzte Meloni. Dass Conte die geforderten Corona-Bonds nicht durchsetzen konnte, liegt aber nicht an seiner Unfähigkeit oder Schwäche, wie Meloni behauptet, sondern an der Stärke seiner Gegner*innen, allen voran Angela Merkel, die mit ihrer Verweigerung der italienischen Rechten wertvolle Hilfe leistet.
Hoffen, verdienen, ausgehen
Inzwischen richtet sich der Zorn der Rechten gegen die aus ihrer Sicht zu zögerlichen Lockerungsmaßnahmen der »Phase 2«. Seit ihrer Verkündung versucht namentlich Salvini, sich zum Wortführer der Ungeduldigen zu machen: Man müsse nur den Italienern vertrauen und sie wieder »hoffen, verdienen, ausgehen, arbeiten, träumen« lassen, riet er – und drohte mit Straßenprotesten: »Viele fordern uns auf, uns zu organisieren, nicht nur im Netz, um uns sehen und hören zu lassen. Wir sind bereit.« Denn: »Neben dem Virus auch noch Hunger und Mangel an Freiheit? Das dürfen wir nicht zulassen. Vor allem anderen Italien und die Italiener.« Womit auch klar ist, wer leer ausgehen soll bei der Bekämpfung des Hungers und der angeblichen Rückeroberung der Freiheit: »die Ausländer«.
Der Status der allermeisten von ihnen, die in der Landwirtschaft, als Pfleger*innen oder Haushaltshilfen arbeiten, war immer schon prekär: Ohne festen Vertrag, der Willkür ihrer Arbeitgeber*innen ausgesetzt, von Abschiebung bedroht, müssen sie für Hungerlöhne schuften. In der Krise verloren sie von heute auf morgen auch noch ihre miesen Jobs. Tausende Afrikaner*innen saßen in Kalabrien fest, weil sie nicht, wie sonst, nach dem Ende der Orangenernte im April in die weiter nördlich gelegenen Anbaugebiete für Erdbeeren und Gemüse weiterreisen durften. Forderungen einer »Regulierung« ihrer Arbeitsverhältnisse und Verlängerung ihres Aufenthaltsstatus konterte Salvini mit rassistischem Geschrei über die »Illegalen«, die er einmal mehr mit Drogen, Terror und Gewalt in Zusammenhang brachte.
Trotz aller Anstrengungen konnte die Lega bislang jedoch nicht von der Krise profitieren. Auch Salvini persönlich verlor deutlich an Zustimmung. Zugleich blieb das rechte Lager insgesamt stabil bei 48 Prozent, weil die Verluste der Lega durch Zugewinne der Fratelli d’Italia wettgemacht wurden – eine weitere Rechtsverschiebung.
Die Politik der Regierung ist nicht dazu angetan, Anhänger*innen der Rechten für sich zu gewinnen. Viele, die durch die Krise von heute auf morgen ihr Arbeitseinkommen verloren haben, und Betriebe, die keinen Umsatz mehr machen, warten auf die zugesagte Unterstützung. Da blieben Conte in seiner Ansprache am 1. Mai nur Selbstkritik und das Versprechen, die langwierigen Prozeduren bei der Auszahlung der Hilfsgelder zu entbürokratisieren – kein leichtes Unterfangen angesichts der Vielzahl von Institutionen, die Ansprüche prüfen und berechnen müssen.
Der Regierung fehlt aber auch der politische Wille zu einer Kurskorrektur. Vorschläge, die zumindest in die richtige Richtung gehen, gibt es reichlich: feste Arbeitsverträge und einen Mindestlohn für alle, ein Grundeinkommen für die Zeit der Krise (reddito di emergenza/rem), Abschiebestopp und dauerhaftes Bleiberecht für Migrant*innen aus Ländern außerhalb der EU. Dass die Rechten die Regierung in der Migrationsfrage vor sich her treiben, stimmt dabei nur bedingt. Denn die Fünf Sterne haben nicht »aus Versehen« mehr als ein Jahr lang mit der Lega regiert, sondern wegen übereinstimmender Positionen zumindest eines großen Teils ihrer Aktivist*innen.