Krankes System
Mit der Mordanzeige* gegen eine »Reinigungskraft« im Hamburger Krankenhaus UKE erreicht das Ausmaß der Absurditäten im Gesundheitssystem einen neuen Höhepunkt
Von Benny Ehlers und Alena Will
Mord in einem Krankenhaus. Mit einem potenziell tödlichen Virus wurden mehrere Menschen mit geschwächtem Immunsystem infiziert, sie sollten sterben. Im Verdacht? Eine Person mit ungehindertem Zugang zu Bereichen mit kranken Menschen. Motiv? Unklar.
Was klingt wie der Anfang eines Krimis, beschäftigt gerade die Hamburger Justizbehörden. Tatsache ist, im Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf (UKE) wurden 20 an Krebs erkrankte Menschen mit dem Coronavirus infiziert, einige davon mussten intensivmedizinisch und -pflegerisch betreut werden. Drei Patent*innen sind bereits verstorben.
Freiwillige Hilfskräfte federn den Personalnotstand ab, sie putzen, füllen auf, übernehmen Transporte und sogar pflegerische und therapeutische Tätigkeiten
Zurzeit sind laut unterschiedlicher Medien »Klinikverantwortliche« und »eine Reinigungskraft« wegen versuchten Mordes angezeigt. In Wirklichkeit handelt es sich nicht um eine Reinigungskraft, sondern um eine sozialdienstleistende Person. Tatsächlich werden solche freiwilligen Hilfskräfte auch als Reinigungskräfte eingesetzt. Warum aber wurde sich medial auf dieses Wording versteift? Weil freiwillige Hilfskräfte als Lückenbüßer*innen eingesetzt werden. Sie federn den Personalnotstand ab, sie putzen, füllen auf, übernehmen Transporte und sogar viele pflegerische und therapeutische Tätigkeiten. Sie sind billige bis kostenlose Arbeitskräfte, oft mit der gleichen Verantwortung wie professionalisiertes Personal. Und sie haben keine andere Wahl, denn wir Beschäftigten im Krankenhaus kommen mit unserem Arbeitspensum schon lange nicht mehr hinterher. Die pflegerische Arbeit könnten wir nie ohne die vielen Assistenzberufe und Freiwilligen ausüben.
Seit der Einführung der Fallpauschalen (DRGs) und der Privatisierung des Gesundheitssystems ist Gesundheit eine Ware, Patient*innen und Beschäftigte in den Krankenhäusern sind ein Kostenfaktor geworden, der dem Profit im Wege steht. Und das bei möglichst hohen Fallzahlen – denn mehr Behandlungen bedeuten mehr Geld.
Und jetzt wird eine Person, ein*e Kolleg*in in diesem Ausbeutungssystem wegen versuchten Mordes angezeigt, weil sie krank zur Arbeit erschien.
Anstatt diese*n Kolleg*in dafür zu verurteilen, sollte man sich anschauen, was dahintersteht. Eigentlich wissen wir es alle, nur wollen es viele nicht sehen: Der Kapitalismus und das ausbeuterische System zwingen Menschen dazu, krank zur Arbeit zu gehen. Viele bleiben erst dann zu Hause, wenn Krankheitssymptome so stark sind, dass es nicht mehr anders geht. Kaum jemand meldet sich wegen eines Schnupfens oder wegen eines leichten Husten krank. Denn viele haben den Eindruck, am Arbeitsplatz immer präsent sein zu müssen, sie befürchten sonst die Kündigung des Jobs, auf den sie angewiesen sind. Und als wäre der gesellschaftliche Druck nicht hoch genug, werden wir durch Vorgesetzte nicht selten psychisch erpresst. Viele bekommen Sätze zu hören wie: »Du bist selber daran Schuld, wenn es den Patient*innen schlecht geht, du lässt deine Kolleg*innen im Stich!«
Wir sind gezwungen, jeden Tag aufs Neue menschenunwürdige Bedingungen im Krankenhaus geschehen und Patient*innen nur einen Bruchteil der Hilfe zukommen zu lassen, die sie eigentlich benötigen. Profite pflegen keine Menschen!
Die Folge fehlender Pflege und Prophylaxen sind vermeidbare Komplikationen und Infektionen von Patent*innen. Auch die Reinigungskräfte sind Teil dieses kaputten Systems: eine schlechte Ausrüstung und Ausbildung, ein utopisches Arbeitspensum – und die Folge? Das Fehlen elementarster Formen der Infektionsprophylaxe. Und jetzt sollen wir auch noch für das Missmanagement und für die menschenverachtenden Bedingungen dieses profitgesteuerten Gesundheitssystems zur Rechenschaft gezogen werden! Wenn wir, die Beschäftigten, neben dem Burnout nicht noch mit einem Bein im Knast stehen wollen, sollten wir uns die Frage stellen, ob wir uns für dieses System weiterhin krumm machen oder gegen diese Zumutungen kämpfen wollen!
Anmerkung: * In einer früheren Version des Artikels war an dieser Stelle fälschlicherweise von einer »Mordanklage« die Rede. Dieser Fehler hatte sich beim Redigieren des Textes eingeschlichten. Die Autor*innen hatten demgegenüber korrekt von einer Mordanzeige gesprochen. Ob es tatsächlich zu einer Anklageerhebung wegen Mordes kommt, ist derzeit noch offen. Der Fall liegt bei der Hamburger Staatsanwaltschaft.