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|ak 636 | Alltag |Kolumne: Das bisschen Alltag

Tocotronic

Von Hannah Schultes

Da kann man schon mal nostalgisch werden: Rick McPhail von Tocotronic beim Rock am Ring 2013. Foto: Achim Raschka, CC BY-SA 4.0

Tocotronic können einen halben Regalmeter in der Popkulturbibliothek füllen: Tocotronic-Tourtagebücher, Tocotronic-Chroniken, der »90er Jahre-Provinz-Hamburg-Tocotronic-Roman«, das Tocotronic-Lesebuch. Die Tocotronic-Publizistik, das öffentliche Männertagebuch, wäre egal, wenn es nicht all die anderen Männer geben würde, in deren Welt »Tocotronic-Kritiker« längst eine geschützte Berufsbezeichnung ist. David, Jonas, Björn, Hans und Felix haben Tocotronic-Studienarbeiten geschrieben; auch in ak 635 erschien eine freundlich-unentschiedene Rezension der neuen Tocotronic-Platte.

Während Männer durch Männerbands gerne ihre ersten »amourösen Erfahrungen« wiederaufleben lassen, ist diese Reise in die Vergangenheit für viele Frauen eher nostalgiefreies Territorium: Was den einen »die Adoleszenz überstehen lässt«, ist für andere 14-Jährige der Eintritt in eine Vorhölle, in der sich das kaleidoskopische Spektrum an Übergriffen, Slutshaming und entfremdeter Sexualität entfaltet.

Tocotronic leben derweil ungestört im eigens für sie eingerichteten Kulturschutzgebiet. Für dessen Erhalt kämpfen ihre Baumpfleger mit Leidenschaft: »Verkannt wurde dabei nur allzu häufig, dass im Hintergrund des polarisierenden Hasses auf den Weltenlauf beständig eine verletzte Liebe zur Welt das Fundament der Lieder bildete.«

Wer es wagte, gelangweilt zu sein von Sätzen wie diesen 2005 in ak abgedruckten, wurde auch im Mainstream belehrt: »Wer Tocotronic nach 20 Jahren noch immer angestrengtes Intellektuellen-Dasein vorwirft, unterschätzt ihren Humor.« (Die Welt) Dabei bestehen Tocotronic-Fans zu 80 Prozent aus Männern, die noch nie über einen Witz von einer Frau gelacht haben.

Doch die kulturelle Vormachtstellung des Geschmacks weißer studierter Männer schwindet. Es kann nicht mehr lange dauern, bis die ersten von ihnen dies als weiteres Zeichen dafür interpretieren, dass der Neoliberalismus die Frauenbewegung und den Antirassismus kooptiert hat, nach dem Motto: »Da seht ihr es, überall in der Literatur sind jetzt Schwarze Frauen.« Dahinter verbirgt sich die hilflose Hoffnung, dass die eigenen kulturellen Präferenzen weiterhin als Avantgarde gelten könnten. Dass auch ihr Geschmack subjektiv ist, werden Tocotronic-Fans, Tarantino-Jünger und Kinski-Faszinierte jetzt schmerzhaft lernen müssen.

Hannah Schultes

Hannah Schultes war Redakteurin bei ak.