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Der goldene Zahn

Der Essayfilm »Soundtrack to a Coup d’Etat« versucht, die Unabhängigkeit Kongos einzufangen und lässt wichtige Aspekte aus

Von Eric Otieno Sumba

Patrice Lumumba im Anzug hält seine Arme hoch und zeigt Bandagen um seine Handgelenke.
Vom Gefängnis zum Verhandlungstisch: Patrice Lumumba in Brüssel. Foto: ©Grandfilm / Harry Pot /Anefo /Nederlands Nationaal Archief

Im Dezember 2024 beauftragte der Vatikan eine Kommission aus belgischen Archivaren und Historikern damit, die Tugenden des 1993 verstorbenen belgischen Königs Baudouin auszuwerten – für eine Seligsprechung. Es ist unklar, ob »seine« Gewährung der Unabhängigkeit an Kongo als Tugend gezählt wird: Er war nämlich persönlich anwesend. Johan Grimonprez’ Dokufilm »Soundtrack to a Coup d’Etat« (2025) zeigt Baudouin am 30. Juni 1960, wie er die kongolesische Unabhängigkeit unverblümt »dem großen Werk, das die außergewöhnliche Persönlichkeit von König Leopold II. begonnen hat«, zuschreibt. In derselben Rede warnt Baudouin die neu gebildete kongolesische Regierung, »die Zukunft nicht durch übereilte Reformen zu gefährden und die Institutionen, die Belgien ihnen überlässt, nicht zu ersetzen, solange Sie nicht sicher sind, dass Sie bessere schaffen können.« St. Baldwin hat zwar einen guten Klang, allerdings hat der Vatikan den falschen Baldwin erwischt.

»Soundtrack to a Coup d’Etat« (im Folgenden: Coup) lässt sich auf verschiedene Weise in der Genealogie des Essayfilms verorten. Den Essayfilm der Dekolonisierungsära prägte Sarah Maldoror 1968 mit Monangambé. Darin beschreibt sie den repressiven Charakter kolonialer Herrschaft durch die fiktionalisierten Erfahrungen der Protagonist*innen. Dieser Stil ist nach wie vor beliebt und findet sich in einigen Vorgängern von Coup wieder: Göran Olsons »Black Power Mixtape 1967–1975« (2011) und »Concerning Violence« (2014) sowie Raoul Pecks »Lumumba« (2000) und »I am not your Negro« (2016).

»Coup« ist eine teils straffe, teils langatmige Abhandlung über eine »vergessene« Episode des Kalten Krieges. Vor dem Hintergrund der Aufnahme neuer unabhängiger afrikanischer Staaten in die UN wird das Dilemma des Westens im Zusammenhang mit der Entkolonialisierung deutlich. Die Sowjets, im Film vertreten durch einen fröhlichen, übermütigen Nikita Chruschtschow, zögern nicht, den westlichen Imperialismus anzuprangern. Chruschtschow, der in den Filmen von Grimonprez kein Unbekannter ist, hat einen großen Auftritt auf der Leinwand, dieses Mal als Initiator der Dekolonisierungsresolution bei der UN.

Während der Kalte Krieg den Kontext bildet, geht es in der Geschichte um den Staatsstreich des Filmtitels. In einer nicht-linearen, geschichteten Abfolge von Archivmaterial zeigt Grimonprez die sechs Monate vor und nach dem 30. Juni 1960 – dem Unabhängigkeitstag des Kongo. Die Musik der Zeit unterstreicht das manchmal harsche Hin und Her zwischen Multilateralismus und Imperialismus, Brüssel und Kinshasa, der Generalversammlung und dem Palais de la Nation.

»Der Rausch der Emanzipation dauerte kaum drei Tage an«, schreibt Gary Stewart in seinem Buch »Rumba on the River« (2000), eine optimistischere Erzählung der Geschichte Kongos durch die Musik. Der Film stützt diese Theorie. In einer Szene wird der belgische Militärgeneral Emile Janssens, der nun – unbeabsichtigt – den kongolesischen Streitkräften angehört, gefragt, ob er Veränderungen erwarte, da die Demokratische Republik Kongo nun unabhängig sei. Er antwortet kurz und knapp: Es werde sich nichts ändern. Lumumba entlässt ihn Tage später. Heute wissen wir, dass seine zynische Antwort vielleicht objektiver war, als man wenige Tage nach den Feierlichkeiten der Unabhängigkeit zugeben wollte.

Einige Archivfilme in »Coup« sind auf Plattformen wie YouTube zu finden, allerdings meist in Originalsprache und ohne Untertitel. Grimonprez’ Beitrag ist hier also vor allem kuratorisch. Die daraus resultierende transnationale Archiv-Melange ist ein starkes Dokument des Umbruchs in der Mitte des 20. Jahrhunderts und der Käuflichkeit eines multilateralen Systems, in das viele neue Staatschefs, darunter Lumumba selbst, große Hoffnungen gesetzt hatten.

Entscheidende Schwächen

Die nichtlineare Montage verleiht der Erzählung, deren nekromantischer Ausgang – Lumumbas Ermordung und Auflösung in Säure – vielen im Publikum bereits bekannt sein dürfte, einen dramatischen Spannungsbogen. Es gibt viele implizite (aber voraussetzungsvolle) Hinweise auf den extraktivistischen Krieg in der Demokratischen Republik Kongo, der Anfang 2025, als der Film in den deutschen Kinos lief, wieder aufflammte. Fraglich ist, ob das alle im Publikum wahrnehmen.

Der einschränkende Blick des Films, der ausschließlich aus der Perspektive des Kalten Krieges auf die Geschehnisse schaut, erweist sich jedoch als seine größte Schwäche. Es ist ein Blick, der letztlich von westlichen Komplotten und Intrigen regelrecht fasziniert ist.

Somit wird der unglaubliche Kraftaufwand seitens der Kongoles*innen, die zur Unabhängigkeit führte, vernachlässigt. Der Jazz wird zum Teil komplett unter diesem Blickwinkel subsumiert. Die Tatsache, dass die kongolesischen Musiker Vicky Longomba, Joseph »Grand Kallé« Kabasele, Roger Izedi und Nicolas »Docteur Nico« Kasanda während der Unabhängigkeitsverhandlungen wochenlang abendlich in Brüssel spielten, wird nur am Rande erwähnt. Musik hat die kongolesische Unabhängigkeit genauso begleitet wie den ersten Staatsstreich, auch wenn die Formel Rumba gleich Selbstbestimmung und Jazz gleich Imperialismus, wie es im Film suggeriert wird, eindeutig falsch ist.

Musik hat die Unabhängigkeit genauso begleitet wie den ersten Staatsstreich.

Ein weiteres, besonders schwerwiegendes Versäumnis ist Pauline Lumumbas elegischer Marsch mit freiem Oberkörper zum UN-Quartier in Kinshasa, als sie erst vier Wochen später von der Ermordung ihres Mannes erfuhr. Tatsächlich sehen wir Pauline in den 2,5 Stunden des Films kein einziges Mal. Dafür enthält der Film Heimvideos von Lumumbas Redenschreiberin, der einflussreichen Panafrikanistin Andrée Blouin, die auch, basierend auf ihrer nicht autorisierten Biografie, eine der Erzähler*innen ist. Bis zum Ende des Films bleiben diese Fragen bestehen: War es ein Mangel an Filmmaterial, ein ehrlicher Fehler oder schlichtweg Erasure? We don’t know.

Auch die Rolle der bezahlten Killer im wütenden »Mineral-Industrial-Complex« bleibt unterbelichtet, trotz einer eindrucksvollen Szene mit einem selbstbewussten deutschen Söldner, der darauf hinweist, dass er nicht nur vor Ort ist, um n**** zu töten, sondern auch mal Klavierkonzerte im Goethe-Institut besucht. Der Soundtrack gilt also nicht nur dem Staatsstreich, sondern auch die historisch kontingenten Manifestationen des Kolonialismus und die Kolonialität als Hard- und Soft Power im Kongo. Das erwähnte Klavierkonzert des Goethe-Instituts ist hier mitgemeint.

Belgien gab Lumumbas vergoldeten Zahn, den einzigen verbliebenen Teil seines Körpers, im Jahr 2022 an die Demokratische Republik Kongo zurück. Im Nachhinein betrachtet war das Lumumba-Komplott so vorhersehbar und die Mitwirkung der UN so erbärmlich, dass es schwerfällt sich vorzustellen, dass es bis heute ohne Konsequenzen bleibt.

Keine Musik kann diesen Fakt leichter verdaulich machen, im Gegenteil, es gab viele (weiße) Tränen aus dem Publikum. Lumumbas Sturz war nur der erste in einer Reihe von vielen, die schon in den Brüsseler Vorstandsetagen der Union Minière oder im New Yorker UN-Tower geplant waren. Im kongolesischen Kontext ist die einzige historisch angemessene Reaktion auf »Soundtrack to a Coup d’Etat« eine knappe Frage: Which one?

Eric Otieno Sumba

ist freiberuflicher Autor und arbeitet als Redakteur im Haus der Kulturen der Welt, Berlin. Seine Texte über Kunst, Kultur und Politik wurden u.a. von Camera Austria, Contemporary And, Griotmag, frieze und Texte zur Kunst veröffentlicht.

»Soundtrack to a Coup d’Etat« läuft in ausgewählten Kinos im deutschsprachigen Raum.

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