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Die Reihen schließen

Inmitten andauernder Angriffe gegen die kurdische Bewegung erlaubt die türkische Regierung plötzlich Gespräche mit dem inhaftierten PKK-Gründer Öcalan – mit welchen Absichten?

Von Emre Şahin

Eine Bayraktar-Drohne der Türkei auf einer Landebahn
An einem Lösungsprozess scheint die Türkei nicht interessiert zu sein – ihre Angriffe auf Rojava und die Medya-Verteidigungsgebiete in Südkurdistan gehen nach wie vor weiter. Foto: Bayhaluk / Wikimedia, CC BY-SA 4.0

Frieden zwischen der Türkei und der kurdischen Arbeiterpartei PKK? Was sich dieser Tage in der Türkei abspielt, kommt für viele überraschend. Während der plötzliche Aufruf zur Auflösung der PKK durch ihren sich in türkischer Haft befindenden Gründer Abdullah Öcalan für Verwirrung gesorgt hat, sind die Interessen der Türkei deutlich klarer: Der Staat mit der zweitgrößten Nato-Armee will das Ende jener Partei, dessen Guerilla sie in 40 Jahren militärisch nicht schlagen konnte. Warum passiert dieser Prozess ausgerechnet jetzt? Zu einer Zeit, in der Bürgermeister*innen der prokurdischen DEM-Partei durch den türkischen Staat abgesetzt werden, täglich Drohnenangriffe auf kurdische Zivilist*innen außerhalb türkischer Staatsgrenzen verübt werden und sogar der Teil der Presseerklärung, in dem Öcalans Aufruf auf Kurdisch vorgetragen wurde, im türkischen Fernsehen zensiert wurde. Kurz gesagt: Zu einer Zeit, in der es eigentlich keinerlei Anzeichen für einen Frieden, geschweige denn eines guten Willens seitens der Türkei gibt. So haben diese Gespräche in der Türkei auch keinen offiziellen Namen; Begriffe wie Frieden oder Lösung werden vermieden. Bisher dreht sich die Debatte in der Türkei vor allem um die Entwaffnung der PKK, aber nicht um die Beseitigung der Gründe, die diesen kurdischen Aufstand erst hervorgebracht haben.

Es war ausgerechnet Devlet Bahçeli, der Vorsitzende der faschistischen Partei MHP, der im Oktober bei einer Rede gefordert hatte, Öcalan solle vor dem Parlament die Auflösung der PKK verkünden. Dass die Koalitionsregierung aus Erdoğans AKP und der MHP Bahçeli vorschickt, ist wohl kein Zufall: Wenn selbst der rechteste Politiker des Landes, der Tag für Tag Hassreden in Richtung DEM und PKK spuckt und dessen Partei Sinnbild des »tiefen Staates« im Lande ist, für ein Abkommen ist, wer könnte da noch dagegen sein? Damit soll jede Opposition am Vorhaben im Vorhinein erstickt werden. Ähnlich verliefen in den 1990er Jahren die Annäherungen an Armenien; der Anfang des 20. Jahrhunderts begangene Genozid ist ein rotes Tuch in der Türkei. Damals schickte der Staat Tuğrul Türkeş vor, den Sohn des MHP-Gründers Alparslan Türkeş. Die Erklärung Bahcelis und die Gespräche mit Öcalan in den letzten Monaten sind bewusste Schritte und Teil eines Plans: »Wir halten nicht ohne Grund die Hand hin«, so Bahçeli vor einigen Monaten.

Was die Gründe sind, lässt sich aus zwei Reden des türkischen Präsidenten Erdoğan im August und im September vermuten. Er erklärte, Israel habe nach dem Libanon die Türkei als nächstes Ziel im Visier, weshalb die »Heimatfront« gegenüber Bedrohungen gestärkt werden müsse. Er brachte in diesem Zusammenhang ein Verfassungsreferendum ins Spiel: einige kulturelle Rechte für Kurd*innen und Ruhe an der »Heimatfront« im Tausch für eine dann mögliche Wiederwahl Erdoğans 2028. Stand jetzt ist eine weitere Kandidatur nämlich unzulässig. Für eine Abstimmung reicht eine Dreifünftelmehrheit im Parlament. Die Koalition hat 321 Sitze und bräuchte mindestens 39 Stimmen der Opposition. Die DEM verfügt über 61 Sitze. Die derzeitige »Annäherung« könnte der Regierung den Weg für ein Referendum ebnen, das diese für ihre Machtfestigung braucht.

Ein Ende der Kämpfe mit der PKK ist für die Türkei eine notwendige Vorsichtsmaßnahme.

Gleichzeitig stehen die jüngsten Geschehnisse im Zusammenhang mit außenpolitischen Entwicklungen. Die Ereignisse in der Region überschlagen sich, vor allem in Syrien. Israel hat sich im Süden des Landes festgesetzt, die Türkei im Norden; beide beschuldigen einander des Imperialismus (Außenministerium Israels) und Expansionismus (Außenministerium der Türkei). Erdoğan erklärte, Israel müsse seine Truppen aus Syrien abziehen, sonst werde es »ungünstige Folgen für alle« haben. In Israel wiederum hat Anfang Januar der Nagel-Ausschuss zur Prüfung des Kriegshaushalts der Regierung einen Bericht vorgelegt, der vor dem wachsenden Einfluss der Türkei in Syrien warnt. Wie Reuters berichtete, wirbt Israel bereits für eine Rückkehr der russischen Militärbasen in Syrien als Gegengewicht zur Türkei. Kurz nach dem Sturz Bashar al-Assads im Dezember gab es zudem ein Telefongespräch zwischen dem israelischen Außenminister Gideon Saar und der Ko-Vorsitzenden des Außenministeriums der Autonomen Verwaltung Nord- und Ostsyriens, Ilham Ahmed. Selbst der Idee einer möglichen Annäherung zwischen den beiden will die Türkei mit dem jetzigen Prozess einen Riegel vorschieben und verhindern, dass sich die Kurd*innen im Falle eines Konflikts an der Seite Israels einmischen.

Ähnlich verhält es sich mit Blick auf Iran: Teheran hat mit Assad seinen Verbündeten in Syrien verloren und könnte jetzt versuchen, die Kurd*innen aus Rache gegen die Türkei aufzustacheln. Iran sieht die Schuld für den Sturz Assads in der türkischen Unterstützung dschihadistischer Gruppen; der türkische Außenminister Hakan Fidan wiederum kritisierte Irans Außenpolitik, woraufhin beide die gegenseitigen Botschafter einbestellten. Und sollte es zu einem Krieg Israels oder der USA gegen Teheran kommen, oder die Islamische Republik von innen weiter unter Druck geraten, wird das ebenfalls den laufenden Neuordnungsprozess der Region beschleunigen.

Für die Türkei ist ein Ende der Kämpfe mit der PKK eine notwendige Vorsichtsmaßnahme angesichts der Unsicherheiten dieser nächsten Zeit; es geht quasi darum, die Reihen zu schließen. Aufgrund der anhaltenden Wirtschaftskrise und den sich neugestaltenden Kräfteverhältnissen in der Region kann sich das Land keine großen Konflikte erlauben. Wohl nicht zufällig sprach Öcalan daher in seinem Aufruf mit Blick auf die Sorgen der Türkei davon, dass Türk*innen und Kurd*innen stets die Notwendigkeit erkannt hätten, gemeinsam gegen »Hegemonialmächte« zu bestehen.

Emre Şahin

ist freier Journalist.

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