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Linke Positionen zu Ukrainekrieg, europäischer Sicherheitspolitik und sich neu ordnender Welt gibt es einige – Versuch einer Sortierung

Von Jan Ole Arps

Jede Menge alte Aufnahmekassetten liegen auf einem Haufen, die Etiketten sind auf Russisch beschriftet
Manche linke Stimmen zur Aufrüstung und neuer europäischer Weltpolitik schlagen unerwartet schrille Töne an, andere klingen wie von vorvorgestern. Foto: Bulbfish / Pexels

Seit der Ankündigung der neuen US-Regierung, mit Wladimir Putin über die Zukunft der Ukraine zu verhandeln, spätestens aber seit der öffentlichen Demütigung Wolodymyr Selenskyjs im Oval Office am 28. Februar ist in Europa große Hektik ausgebrochen. Vielfach wurde seither von Politiker*innen wie Journalist*innen das Ende des transatlantischen Bündnisses beklagt. Russland werde nun für seinen imperialistischen Angriffskrieg belohnt und damit noch ermutigt, in den nächsten Jahren einen Angriff auf weitere Staaten, wenn nicht gleich ganz Europa vorzubereiten, so ein in den vergangenen Wochen eingehend erörtertes Szenario. Die Schlussfolgerung: Der Kontinent müsse aus seinem »sicherheitspolitischen Dornröschenschlaf« aufwachen, den, vor allem in Ländern wie Deutschland verbreiteten, »naiven Pazifismus« abschütteln und endlich selbst die Verantwortung für seine Sicherheit übernehmen.

Vielerorts, auch in der Bundesrepublik, ist seitdem ein neuer Rüstungsrausch ausgebrochen, der jenen des Frühjahrs 2022, als Olaf Scholz die »Zeitenwende« ausrief und der Bundestag das 100-Milliarden-Sondervermögen für die Bundeswehr beschloss, weit in den Schatten stellt.

Von Beginn des Ukrainekrieges an waren linke Stimmen in dieser Debatte randständig. Daran hat sich bis heute nichts geändert – im Gegenteil scheint eine linke Verständigung zum Ukrainekrieg und über eine mögliche Neuordnung der Welt mit allen Konsequenzen, die das mit sich bringt, festgefahren. Zum einen sicherlich, weil es schwer ist, Verhältnisse im Umbruch zu analysieren. Zum anderen aber auch, weil grenzübergreifende Diskussionsformate drei Jahre nach dem Überfall Russlands auf die Ukraine nach wie vor kaum existieren.

Auch wenn sich diese Situation wohl nicht so ohne Weiteres ändern lässt, könnte es doch helfen, sich zu vergegenwärtigen, welche Positionen überhaupt von links im Umlauf sind und von welchen Prämissen sie ausgehen. Im Folgenden soll daher eine zwangsläufig unvollständige und mitunter etwas grobe Übersicht versucht werden.

Neue Blockkonfrontation und Entspannungspolitik

Unter anderem vertreten von dem Mitarbeiter der Rosa-Luxemburg-Stiftung, Ingar Solty, steht bei dieser Perspektive im Mittelpunkt, dass der Krieg in der Ukraine vor dem Hintergrund wachsender Konkurrenz zwischen den Blöcken USA und China zu verstehen sei. Die Ukraine haben den Krieg gegen die Atommacht Russland nie gewinnen können, schnell sei der Kampf zu einem Stellvertreterkrieg größerer Mächte geworden. Den USA habe er vor allem dazu gedient, die Nato zu stärken, die europäisch-russischen Beziehungen zu zerschlagen und Europa in eine Blockkonfrontation an der Seite der USA gegen Russland und vor allem China zu zwingen, die in der Konsequenz auf einen Dritten Weltkrieg zulaufe. Moralische Linke und Linksliberale hätten sich hier eingereiht. Jetzt sei das Wichtigste, der neuen Blockkonfrontation entgegenzuarbeiten: durch Entspannungspolitik, etwa die Einbindung Russlands in eine neue Friedensarchitektur, und durch ein Ende der Sanktionen, die nur eine Brücke zu weiteren Kriegen seien und ohnehin niemandem schadeten außer Deutschland und dem Westen selbst.

Gegen russischen Imperialismus, für Europa

Viele ukrainische und russische Linke sowie nordeuropäische Linksparteien betonen dagegen, dass die Ukraine einen legitimen Verteidigungskampf führe. Sie warnen, ein Sieg Putins werde Imperialisten überall auf der Welt ermutigen und das Recht des Stärkeren in den internationalen Beziehungen zementieren – zumal Putin mit Trump einen Bruder im Geiste habe, der ebenfalls daran arbeite, die Demokratie zu untergraben und den Autoritarismus in Europa zu stärken. Ein Diktatfrieden zu Putins Bedingungen bringe nur neue Monster hervor. Demokratische Länder könnten aber nicht glaubwürdig gegen Putin vorgehen, wenn sie Ungerechtigkeiten »zu Hause« akzeptierten. Europa müsse demnach zwar die Militärausgaben erhöhen und die Ukraine militärisch weiter, auch stärker als bisher unterstützen, aber nicht auf Kosten von Sozialem. Ähnlich wird auch in Bezug auf die politischen Verhältnisse innerhalb der Ukraine argumentiert.

Exemplarisch für diese Strömung steht etwa die ukrainische Historikerin Hanna Perekhoda, die kürzlich im Freitag schrieb: »Eine gerechtere Gesellschaft mit stärkerem Zusammenhalt ist besser in der Lage, internationale Verpflichtungen und Verteidigungshaushalte zu unterstützen, deren Notwendigkeit unbestritten ist.« Ähnlich argumentieren die polnische linksliberale Partei Razem oder das finnische Linksbündnis – beide Parteien unterstützen übrigens sowohl Gaza als auch die Ukraine; eine Position, die in Deutschland selten zusammen aufritt.

Neue demokratische Sicherheitsarchitektur

Eine Ergänzung zu dieser Position machen die russischen linken Autoren Greg Yudin und Ilya Budraitskis. In einem Beitrag in der Schweizer WOZ schreiben sie: »Zwei Hauptfaktoren treiben die Fortsetzung des Krieges gegen die Ukraine voran: die imperialistischen Ambitionen des russischen Präsidenten und die Teilung Europas in zwei rivalisierende Blöcke, was auf beiden Seiten ein Bedrohungsgefühl befeuert.« Der Beitrag nimmt nicht nur (ost-)europäische, sondern auch russische Sicherheitsbedenken ernst – anders als jene, die ausschließlich den Expansionismus Putins betonen – und stellt Überlegungen an, wie die Sicherheitsarchitektur verändert werden könnte: Beibehaltung der Nato, auch wenn sie Blockdenken fördere, aber Ergänzung um eine Organisation, die beide europäischen Blöcke einschließt, sowie Demokratisierung in Europa, damit ein solches Instrument nicht missbraucht werde.

Keine Waffenlieferungen, aber ein gerechter Frieden

Für einen »gerechten Frieden«, gegen Waffenlieferungen an die Ukraine – das ist die Mehrheitsposition der deutschen Linkspartei, wie sie prominent etwa der Co-Vorsitzende Jan van Aken vertritt, der sich auch für gezielte harte Sanktionen gegen Russland stark macht, was in der Partei allerdings umstritten ist. Zu dieser Haltung gehört die Fokussierung auf Verhandlungen bei gleichzeitiger Betonung, dass es keinen Diktatfrieden auf Kosten der Ukraine geben dürfe. Das deutsche Militär solle ausschließlich auf Verteidigung ausgerichtet werden. Außenpolitisch solle sich Deutschland auf die Stärkung von Friedenspolitik und Verhandlungsansätzen konzentrieren, unter Einbindung anderer Länder wie China. Jetzt, wo es von der Trump-Administration diktierte Verhandlungen gibt – aber eben nicht für einen »gerechten« Frieden –, betont van Aken, dass ein solcher ohne breite Akzeptanz in der ukrainischen Bevölkerung nicht halten könne.

Europas Demokratie »wehrhaft« machen

Diese auch bei Linksliberalen verbreitete oder zumindest anschlussfähige Position vertritt unter anderem Albrecht von Lucke, Redakteur der Blätter für deutsche und internationale Politik. Sie sieht die transatlantische Partnerschaft als beendet, nun drohe eine neue Aufteilung Europas unter den Großmächten, »Jalta 2.0« ist das Stichwort. Unter dem neuen US-Präsidenten seien die USA von Demokratieförderern zu Helfern der Demokratieverächter geworden. »Europas Selbstbehauptung« gegen die Autokraten werde zur größten Aufgabe der nächsten Jahre, was auch Aufrüstung zwecks Abschreckung einschließe.

Krieg und kapitalistische Krisendynamik

Ganz anders argumentiert der Wertkritiker Tomasz Konicz. Er schreibt, etwa in einem Beitrag in ak 712, dass »die neue Volatilität in der Geopolitik, der auch in den Zentren zunehmende Hang zum Krieg als Mittel der Politik, die Bereitschaft, immer größere militärische Risiken einzugehen, Ausdruck der neuen Krisenphase, in die das kapitalistische Weltsystem nach der Erschöpfung der neoliberalen Ära eintritt«, sei. Nun beginne die Phase »offener autoritärer Krisenverwaltung, staatlicher Erosion und militärischer Auseinandersetzungen auf allen Ebenen – auch zwischen den politischen und ökonomischen Zentren der Welt«. Realpolitische Antworten werden von Konicz zwar diskutiert, aber im Prinzip für wenig aussichtsreich gehalten. Wichtiger sei, dass Linke die Ursachen der zunehmenden Kriegsbereitschaft erkennen (»die sozioökologische Krise des Kapitals«) und ihr Handeln danach ausrichteten.

Primat des Internationalen und Politik der Desertion

Der linke Politologe und Professor für politische Wissenschaft an der Universität Bologna, Sandro Mezzadra, kann schließlich für eine Strömung als stellvertretend gelten, die das Primat des Internationalen und eine »Politik der Desertion« propagiert. Mezzadra hat in einem Gespräch mit Raul Zelik im nd formuliert, dass erstens internationalistische Politik nicht mehr vom Nationalstaat ausgehen könne, sondern vom Transnationalen ausgehen müsse und zweitens in der kriegsanfälligen Übergangszeit, in der ein alter Hegemon (die USA) abtritt, aber kein neuer antritt, als Anhaltspunkt für praktischen Internationalismus die Logik der Desertion, also die Verweigerung des Krieges infrage komme. Die Forderung, sich dem Krieg zu »verweigern«, erheben auch viele Linke, die sich an der Parole »No war but classwar« orientieren. Mezzadras Position hebt sich insofern von diesen ab, als er eine konkrete Betrachtung der einzelnen Kriege und ihrer Bedingungen fordert (»Wie soll man in Gaza, wo die Menschen eingesperrt sind und nicht fliehen können, desertieren?«) und als Handlungsmaxime ausgibt, Beziehungen mit den Menschen aufzubauen, die angegriffen werden.

Imperialismus und Fossilismus

Eine Kritik an allzu simplen Parolen, die »die Wirklichkeit« verbiegen, formulierte kürzlich Tom Strohschneider in seinem Blog – und machte sich für eine Analyse der Besonderheiten konkreter Kriege, darauf aufbauend für eine Debatte um einen »konkreten Pazifismus« stark. Strohschneider ruft auch Überlegungen des marxistischen Philosophen Etienne Balibar von 2022 in Erinnerung, die versuchen, die unterschiedlichen Dimensionen des Ukrainekrieges zu erfassen. Hier ist vor allem das »Paradox der nationalen Souveränität« relevant. Zitat Balibar: »Nationen, die um ihre Unabhängigkeit kämpfen, insbesondere wenn sie es mit einem Imperium oder einem politischen System zu tun haben, das die Form eines alten Imperiums wieder aufleben lassen will, haben als Hauptziel die Anerkennung und Achtung ihrer Souveränität.« Aber: Dies sei heute selbst für größere, umso mehr für kleinere Nationen nur durch die »Unterwerfung unter eine Instanz, die größer ist als die Nation« (sprich: einen der großen Machtblöcke), möglich – wobei Balibar darauf verweist, dass die mehrheitliche Wahl der ukrainischen Bevölkerung auf jenen Machtblock fällt, der mehr Freiheit und auch ökonomische Entfaltungsmöglichkeiten verspricht. Balibar wirbt für eine prinzipiell pazifistische Haltung, die sich aber mit dem Unabhängigkeitskampf der ukrainischen Bevölkerung solidarisiert, jedoch ohne sich zum Advokaten für die Militarisierung der Gesellschaften zu machen. Als Horizont plädiert er für eine internationalen Ordnung, in der Interessen im Vordergrund stehen, »die die gesamte menschliche Gattung vereinen«.

Strohschneider bringt an dieser Stelle den Gedanken ein, die Debatte um die Geopolitik des Ukrainekriegs auf ihre stofflich-ökonomischen Grundlagen zurückzubeziehen. Die Invasion Russlands begreift er auch als einen »Energiekrieg« zur Verteidigung eines fossilen Modells, die Annäherung zwischen Trump und Putin als Ausdruck ebenjener Orientierung, da auch Trumps Machtbündnis auf einem Fossilismus basiere, »in dem die Interessen des in Öl- und Gas-Kapazitäten gebundenen Kapitals mit ultralibertärer Marktfreiheitsideologie und einer technofeudalistischen solutionistischen Mentalität zusammenfinden«. Sein Fazit: »Hier könnten auch Ansatzpunkte für so etwas wie einen ›neuen Antiimperialismus‹ zu finden sein, der nicht nur nach den jeweils ›auferlegten Formen der Unterwerfung‹ unterscheidet, sondern auch nach dem stofflichen Charakter der Entwicklungsmodelle.«

In dieser knappen Übersicht fehlen sicher wichtige Positionen, vor allem aus der internationalen Debatte. Die Diskussion über linke Friedenspolitik und einen zeitgemäßen Amtiimperialismus könnte gewinnen, wenn sie den nationalen Bezugsrahmen überwinden, die mögliche Unzulänglichkeit der eigenen Positionen stärker in Betracht ziehen und diese auf Schwachstellen und politische Konsequenzen überprüfen würde, statt halbgare Standpunkte mit größter Überzeugung zu vertreten.

Jan Ole Arps

ist Redakteur bei ak.

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