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Jenseits der Empörungszyklen

Der Haustürwahlkampf der Linkspartei zeigt Möglichkeiten auf, um Probleme antirassistischer Selbstorganisationen anzugehen

Von Vincent Bababoutilabo

Straßenfoto von einer Gruppe von Menschen, die auf einem Gehweg neben einem Haus laufen. Sie tragen rote Jacken, auf dem steht: "Hier ist die Linke"
Klopf, klopf: Die Arbeit in den Kiezen kam bei den Aktiven und vielen Menschen in den Stadtteilen gut an. Foto: Die Linke

In einer Zeit multipler Krisen und des Erstarkens autoritärer, imperialistischer Projekte gab es im deutschen Wahlkampf eine parteiübergreifende Konstante – von der AfD bis zu den Grünen: Migration wurde als Problem dargestellt, das mit staatlicher Repression, Haftstrafen, Abschiebungen und Passentzug »gelöst« werden müsse. Obwohl damit die antirassistische Bewegung direkt adressiert wurde, konnte sie dem nur wenig entgegensetzen.

In dieser Situation wurde ausgerechnet die Linkspartei zur »Zufallsheldin« des Wahlkampfs. Sie trat als lauteste antirassistische Stimme auf, profitierte davon und feierte das »Comeback des Jahres«. Triebkraft ihres Erfolgs war ein beeindruckender Haustürwahlkampf. Als undogmatischer Linker, der sich in BiPOC-/Migrant*innenselbstorganisationen (MSOs) engagiert, entschloss ich mich, sporadisch an der Wahlkampagne um Ferat Koçak für die Linkspartei in Berlin-Neukölln mitzuwirken. Frustriert von der Reaktivität und Zahmheit antirassistischer Kampagnen suchte ich nach neuen Kontexten, Perspektiven und Menschen – mit Erfolg. Insbesondere die politische Praxis zeigte Möglichkeiten auf, aktuelle Probleme antirassistischer Selbstorganisationen anzugehen.

Schwindende Verankerung in den Communities

In den Wochen unmittelbar vor der Wahl kam es zu einem Vorstoß von verschiedenen MSOs. Die Organisation Generation Adefra, die sich für die Rechte und Sichtbarkeit von Schwarzen FLINTA-Personen in Deutschland einsetzt, veröffentlichte einen Aufruf zu einem symbolischen Streik von BiPoC-Communitys, der am 14. Februar 2025 stattfinden sollte – unter den Hashtags #IhrHabtAngefangen und #EinTagOhneUns.

Der von 20 MSOs unterzeichnete offene Brief fordert eine reflektierte Sprache, die die Würde aller Menschen achtet, eine klare Distanzierung von rechtspopulistischen Forderungen, eine Klärung des Begriffs »Remigration« sowie den direkten Dialog mit den betroffenen Communitys. So weit, so zahnlos.

Ja, sicher: Wenn die 20 Millionen Menschen mit Migrationsgeschichte, die allzu häufig in gesellschaftlich essenziellen Bereichen der Produktion und Reproduktion arbeiten, ihre Arbeit niederlegen würden, wäre das ein gewaltiges Machtmittel gegen autoritäre Politik. Nur leider hat es außerhalb einer sehr begrenzten Bubble kaum jemanden erreicht oder interessiert.

Viele MSOs setzen sich vor allem aus gut vernetzten Intellektuellen, Aktivist*innen oder Expert*innen zusammen. Sie können Debatten beeinflussen und Aufmerksamkeit erzeugen, doch ihre Durchsetzungskraft bleibt begrenzt. Ihre politische Praxis ist nicht darauf ausgelegt, sich in den Kiezen zu verankern und Menschen zu organisieren. Dabei wurden viele dieser Organisationen einst genau mit dem Ziel gegründet, nachhaltige Strukturen für migrantische Selbstermächtigung zu schaffen.

Anstelle langfristiger Organisationsstrukturen, eigener Programmatiken oder strategischer Sitzungen dominieren Hashtags und kleinere Protestaktionen, die sich an den jeweiligen Empörungszyklen orientieren. Während Pressemitteilungen zu aktuellen Skandalen und Social-Media-Trends leicht zu finden sind, bleibt oft unklar, welche mittel- oder langfristigen Ziele diese Organisationen tatsächlich verfolgen – abgesehen von allgemein gehaltenen Forderungen nach Diversität, Partizipation und Inklusion.

Diese Unterwerfung unter volatile Empörungszyklen führt dazu, dass Aktive ausbrennen und Mitglieder wenig attraktive Möglichkeiten zur langfristigen Beteiligung finden.

Der Haustürwahlkampf in Neukölln wurde zum Anziehungspunkt für engagierte Aktivist*innen aus dem gesamten Bundesgebiet, die hier auf ein gut organisiertes Kernteam trafen. Die Aktiven führten Gespräche mit den Neuköllner*innen, begleitet von einem vielseitigen Rahmenprogramm – darunter Panels zu Machtaufbau in Betrieben, Filmgespräche, Workshops, Kiezspaziergänge, Eislaufen und Partys.

Erfolgreiche antirassistische Organisierung braucht lokale Verankerung.

Doch der Wahlkampf ging weit über bloße Mobilisierung hinaus – er wurde zur Bewegung. Die Aktivist*innen setzten neue Maßstäbe: Sie klingelten an zwei Dritteln der Türen im Bezirk, insgesamt 120.000 von 180.000 Haushalten. Wahrscheinlich war es diese intensive Arbeit in den Kiezen, die dazu führte, dass viele Menschen die Partei als ihre politische Stimme wahrnahmen. Der Haustürwahlkampf der Linkspartei liefert wertvolle Impulse für eine erfolgreiche antirassistische Organisierung.

Diese Strategie könnte als Modell dienen, um langfristig politische Mehrheiten zu verschieben und Antirassismus auf lokaler Ebene zu verankern, was ein wirksamer Schutz gegen staatliche Angriffe auf antirassistische Errungenschaften sein würde.

Verstaatlichung und Konkurrenz

Wenige Tage nach der Wahl kam es seitens der Union zu einem direkten Angriff auf die deutsche Zivilgesellschaft. Ins Visier gerieten 16 Vereine, darunter Omas gegen Rechts, Campact, die Amadeu Antonio Stiftung und die MSO Neue Deutsche Medienmacher*innen.

Einige dieser Organisationen hatten nach dem Tabubruch der Union zu Demonstrationen aufgerufen, andere scheinen der Partei aus unterschiedlichen Gründen ein Dorn im Auge zu sein. Mit einer »kleinen Anfrage«, die ganze 551 Fragen umfasste, sollte die politische Neutralität staatlich geförderter Organisationen überprüft werden. In ihrer Argumentation berufen sich die Antragsteller auf Artikel in der WELT, die in diesen NGOs einen sogenannten »Deutschen Deep State« wittern. Dieser würde sich durch Bundesmittel finanzieren und eine »gefährliche Macht« besitzen. Als Beispiel dient ihnen das Bundesprogramm »Demokratie Leben!«, das Projekte und Initiativen fördert, die sich für Demokratie, Vielfalt und gegen Extremismus einsetzen.

Die von diesem Einschüchterungsversuch betroffenen Gruppen reagierten zu Recht empört. ATTAC sprach von einem »Großangriff auf die emanzipatorische Zivilgesellschaft«. Besonders für MSOs war die Botschaft unmissverständlich: »Wir kennen eure Achillesferse – die staatliche Finanzierung, die euch entzogen werden kann.«

Tatsächlich haben sich viele MSOs in den letzten zwanzig Jahren professionalisiert. Initiativen, die ursprünglich ehrenamtlich getragen wurden, gründeten Vereine, stellten Förderanträge, schufen Arbeitsplätze und bauten professionelle Öffentlichkeitsarbeit auf. Durch Programme wie »Demokratie Leben!« entstand ein ganzes Ökosystem aus bezahlten Stellen, Veranstaltungen wie Podiumsdiskussionen und Workshops, das beachtliche Erfolge erzielen konnte.

Doch was ist der Preis, den diese Professionalisierung gekostet hat? Auch ich hatte über zwei Jahre eine von »Demokratie Leben!« finanzierte Stelle und kann aus Erfahrung sagen: Neben der offensichtlichen Abhängigkeit von parteipolitischen Konjunkturen hat sich der Konkurrenzdruck unter den MSOs drastisch verschärft – mit weitreichenden Folgen.

Die Hoffnung war, dass durch die geschaffenen Stellen umso mehr für die Bewegung oder Communities getan werden könnte. Doch allzu oft drehte sich der Arbeitsalltag vor allem um die Einhaltung der Förderrichtlinien des sogenannten Fördergeldgebers. Diese Richtlinien orientieren sich zwangsläufig an den Interessen des bürgerlichen Staates – nicht an den Bedürfnissen marginalisierter Arbeiter*innen. Dies führt zu einer Art bürokratischem Täuschungstanz, bei dem versucht wird, die tatsächlichen Notwendigkeiten mit den vorgegebenen Rahmenbedingungen in Einklang zu bringen.

Selbstverständlich gibt es mehr als einen türkischen, Schwarzen oder migrantisch-queeren Verein. Doch wer etwas aus dem Fördertopf erhält, hängt maßgeblich davon ab, wer – zumindest auf dem Papier – am ehesten mit den staatlichen Interessen übereinstimmt und am besten die Sprache der Verwaltung beherrscht. Dadurch geraten Gruppen ins Hintertreffen, die tiefgreifende Reformen fordern oder radikale Kritik üben, während Organisationen bevorzugt werden, die eher symbolische Anliegen vertreten.

Elite Capture

Als »Elite Capture« bezeichnet der Politikwissenschaftler Olúfémi Táíwò einen Vorgang, bei dem ökonomisch und kulturell privilegierte Milieus politische Bewegungen, Diskurse und Forderungen übernehmen und sie in ihrem eigenen Interesse umformen. In Bezug auf antirassistische Kämpfe zeigt sich das etwa darin, dass Unternehmen oder Institutionen Diversitätsinitiativen fördern, ohne reale Machtverhältnisse zu verändern – zum Beispiel durch symbolische Gesten wie Regenbogen-Logos oder Diversity-Trainings, anstatt durch Umverteilung oder tiefgehende Reformen.

Táíwòs Vorschlag: Statt sich in rein symbolische Anerkennungspolitik oder moralische Appelle zu verstricken, sollten Bewegungen ihren Fokus auf materielle Veränderungen und kollektive Organisierung legen, um Elite Capture zu entgehen.

Der Haustürwahlkampf in Neukölln griff genau diesen Ansatz auf und schärfte ihn immer wieder. Die Gespräche erinnerten nicht zufällig an die militanten Untersuchungen der Operaist*innen: Sie dienten nicht nur dazu, Informationen über die Lebensrealitäten der Menschen zu sammeln, sondern diese zugleich als politische Subjekte ernst zu nehmen, ihre Erfahrungen in den Mittelpunkt zu stellen und daraus kollektive Handlungsperspektiven zu entwickeln.

Doch was könnte das konkret bedeuten? Eine antirassistische Organisierung, die über Wahlkämpfe hinausgeht, muss sich auf nachhaltige Strukturen konzentrieren: Mieter*innen-Gruppen, Arbeitskämpfe, Stadtteilorganisierung und solidarische Netzwerke, die die alltäglichen Lebensrealitäten der Menschen verändern und direkte Verbesserungen erkämpfen. Genau hier könnten die gesellschaftliche Linke und die Linkspartei ein notwendiger Anker werden. In einer politischen Landschaft, in der sich die meisten Parteien entweder offen gegen migrantische Selbstorganisierung stellen oder bestenfalls symbolische Unterstützung bieten, kann die Linkspartei Räume schaffen, in denen sich klassenkämpferisch-antirassistische Perspektiven tatsächlich verankern.

Wichtig ist dabei eine realistische Analyse der bestehenden Sachzwänge. Die Kritik an vielen MSOs ist keine moralische, sondern eine strukturelle: Die Abhängigkeit von staatlichen Förderungen und die damit einhergehende Notwendigkeit, in einer neoliberalen Logik zu funktionieren, sind keine individuellen Fehlentscheidungen, sondern systemische Zwänge im Kapitalismus. Gerade deshalb braucht es Räume der Organisierung, die nicht von Empörungszyklen oder Fördermitteln abhängig sind – sondern von der gemeinsamen materiellen Lage der Menschen und ihrer Fähigkeit, sich kollektiv zu wehren.

Vincent Bababoutilabo

ist ein in Berlin lebender Musiker und Autor. Er hat als politischer Referent für die Initiative Schwarze Menschen in Deutschland gearbeitet.

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