Motherhoods. True Crime
Von Jacinta Nandi

Willst du die Gabby Petito Doku-Serie gucken?«, fragte ich eine feministische Mama, die bei mir übernachtet. »Ist gerade auf Netflix gelandet.« »Ach, nein«, sagt sie. »Lieber nicht, Jacinta.« »Nein?«, frage ich. »Bist du sicher? Die ist total gut, eigentlich.« »Ich mag kein True Crime«, sagt sie. »Ich gucke sowas nie.« »Echt«, sage ich. »Niemals? Ich gucke ziemlich viel davon, wenn ich ehrlich bin.« »Ich bin ein bisschen überrascht, dass du dir das reinziehst?«, sagt meine Freundin. »Findest du das nicht problematisch? Die True-Crime-Sendungen behandeln die Fälle immer als Einzelfälle, sie sind so unpolitisch … Und sie kritisieren die Polizei nicht.« »Aber …«, sage ich. Ich zögere. »Was?«, fragt sie. »Die True-Crime-Sendungen, die ich gucke, kritisieren die Polizei eigentlich immer.« »Ach ja?« »Na klar«, sage ich. »Wenn die Bullen nicht alles vermasselt hätten, würde das Genre überhaupt nicht existieren!«
Ich verstehe, dass True Crime problematisch ist. Ich bin eine nicht-weiße, antirassistische Feministin, die für eine sozialistische Zukunft kämpft. Ich finde, dass alle Bullen Bastarde sind, und als Feministin, die solidarisch mit nicht-weißen Männern ist, lehne ich nicht nur Polizeigewalt ab – ich sehe das System Polizei als an sich gewalttätig an. Als Unterdrückung. Bullen sind gefährlich, und sie werden jeden Tag gefährlicher. Auch für Frauen sind sie keine Beschützer – wie etwa der Fall Gabby Petito beweist.
Petito war eine junge Amerikanerin, die im Sommer 2021 mit ihrem Freund Brian Laundrie eine Busreise durch die USA machte, die sie dokumentierte, weil sie Van-Life-Vloggerin werden wollte. Am 1. September kehrte Laundrie allein nach Florida zurück, Gabbys Familie meldete sie am 11. September als vermisst. Während der Suche nach ihr tauchten Videoaufnahmen einer Polizeikontrolle vom 12. August in Utah auf, bei der Gabby weinte und über Streitigkeiten mit Brian sprach. Brian lachte brüderlich mit den zu Hilfe gerufenen Polizisten und erklärte, dass sie verrückt sei. Sie sahen offenkundig ihn als Opfer – obwohl sie die beiden aufgehalten hatten, weil jemand berichtet hatte zu sehen, wie ein Mann eine Frau ins Gesicht schlägt. Am 19. September wurde Gabbys Leiche im Grand-Teton-Nationalpark gefunden, die Autopsie zeigte, dass sie durch Strangulation getötet worden war. Laundrie verschwand danach aus seinem Haus. Am 20. Oktober wurden seine Überreste in einem Naturschutzgebiet in Florida entdeckt, neben ihm ein Brief, in dem er die Verantwortung für Gabbys Tod übernahm. Ich glaube, dass der Fall deswegen weltweit berühmt geworden ist, weil Gabby so bildhübsch war, aber auch wegen des Versagens und Verrats der Bullen, die mit Laundrie gemeinsam gelacht haben, als Gabby panisch weinte.
Darf man ACAB predigen und dann nachts, wenn die Kinder im Bett sind, True Crime-Sendungen gucken? Eigentlich nicht, oder? Es ist nicht nur heuchlerisch, es ist das reinste Paradox.
Darf man ACAB predigen und dann nachts, wenn die Kinder im Bett sind, True Crime-Sendungen gucken? Eigentlich nicht, oder? Es ist nicht nur heuchlerisch, es ist das reinste Paradox. Diese reißerischen, emotionalisierten Geschichten, die sich oft (aber nicht immer) um weiße Frauen drehen, oft (aber nicht immer) um hübsche, blonde, weiße Frauen – diese Geschichten sind Geschichten, in denen die Frau das perfekte Opfer ist, der Täter das perfekte Monster. Und die Polizisten die perfektesten Versager. Die Story ist simpel, die Musik dramatisch, Bilder und Sprache sind sentimental. Manchmal gibt es so viel Blut, dass es eklig ist – ist es nicht voyeuristisch, sich das anzuschauen? Die Mischung aus Drama und Ekel führt dazu, dass man das, was man sieht, fast »genießt«. Und ich gebe es zu: Wenn man seine Zimperlichkeit überwindet, haben diese Sendungen manchmal eine nahezu entspannende Wirkung. Ist es nicht problematisch, den Tod von jemandem zu benutzen, um die Zuschauenden zu »entspannen«?
Es ist problematisch, es ist eklig – und noch schlimmer: Irgendjemand macht daraus Geld. YIKES. Noch problematischer finde ich die Tatsache, dass Menschen, die zu viel True Crime gucken, nicht mehr ordentlich denken können. Nie wurde das klarer als im Sommer 2022, da die ganzen Basic Bitches, die den Depp-v-Heard-Gerichtsprozess bei TikTok verfolgten, unfähig waren, kritisch zu denken. Ohne das True-Crime-Phänomen wäre es zu dieser Schande nie gekommen: Nur Menschen, die durch True Crime desensibilisiert worden sind, sind in der Lage, sich einzureden, dass sich die Beschreibungen von sexualisierter und körperlicher Gewalt als Entertainment betrachten lassen. Die Menschen, die im Sommer 2022 dabei zugeguckt haben, waren überhaupt nicht interessiert an der Realität oder an Tatsachen – sie waren hungrig nach schockierenden Hinweisen und überraschenden Plot Twists.
True-Crime-Geschichten sind immer individuelle Geschichten. Sie geben den Toten ein Gesicht, was ich gut finde – aber auch das Versagen der Polizei wird individualisiert. Es wird nicht klar, dass das System Polizei Täter schützt und Opfer im Stich lässt. Dennoch denke ich, dass es einen Grund dafür gibt, warum es ausgerechnet und überdurchschnittlich oft Frauen sind, die diese Sendungen »gerne« konsumieren. Ob Gabby Petito oder Jill Dando – es ist nicht nur eine Faszination mit dem Bösen, sondern ein Versuch, mit dem Trauma umzugehen, das damit verbunden ist, in einer misogynen, gewalttätigen Welt zu überleben.
Und vielleicht lautet die Antwort tatsächlich, dass man kritisch konsumieren sollte: nicht alles und nicht die sensationellsten, peinlichsten Sendungen. Die aktuelle Gabby-Petito-Serie hat mich zu Tränen gerührt, als ihr Vater erzählt, wie er darauf reagierte, erstmals vom »Missing White Woman Syndrome« zu hören. Das Syndrom beschreibt die Tatsache, dass es zu großer Aufmerksamkeit führt, wenn weiße Frauen verschwinden und es dagegen nicht das gleiche mediale (aber auch menschliche) Interesse erzeugt, wenn schwarze Frauen oder People of Colour, insbesondere indigene Menschen, verschwinden. Die Fähigkeit von Gabby Petitos Vater, mit diesem Gedanken umzugehen, ist wirklich inspirierend. Die Wahrheit ist komplizierter als manche Dokusendungen suggerieren wollen.