Kein Verlass auf den Staat
Fünf Jahre nach dem rassistischen Anschlag in Hanau ist klar: Gerechtigkeit und Veränderungen können nur von unten erkämpft werden
Von Amina Aziz

Mein Sohn wäre noch am Leben, wenn er in der Tatnacht den Notruf erreicht hätte«, ist Niculescu Păun, der Vater von Vili Viorel Păun, einem der neun Menschen, die beim rassistischen Anschlag von Hanau im Februar 2020 ermordet wurden, überzeugt. Er ist sich sicher: Hätte es eine Anweisung der Polizei gegeben, dann hätte Vili den Täter nicht weiterverfolgt. Doch sein Sohn hat die 110 trotz mehrerer Versuche in der Tatnacht nicht erreicht. Niculescu Păun hat deshalb im Januar zum zweiten Mal Anzeige wegen fahrlässiger Tötung gegen mehrere, teils leitende Polizeibeamte erstattet. Bereits 2021 hatte die Staatsanwaltschaft Hanau eine ähnliche Anzeige Păuns, damals noch gegen Unbekannt, mit der Begründung abgelehnt, dass unklar sei, was passiert wäre, hätte Vili die Polizei erreicht. Damals wie heute lehnt die Staatsanwaltschaft es ab, Ermittlungen aufzunehmen.
Im Abschlussbericht des parlamentarischen Untersuchungsausschusses des Hessischen Landtags vom November 2023 ist das Kapitel zum Notruf mit 94 Seiten das längste Kapitel in dem über 640 Seiten langem Bericht. Wer sich ihn durchliest, stößt auf eine Reihe von Rechtfertigungen seitens der Polizei. Zum einen müssen ellenlange technische Erklärungen dafür herhalten, weshalb der Notruf öfter nicht zu erreichen war. Zum anderen wird nach wie vor in Frage gestellt, ob Vilis Tod hätte verhindert werden können. Zeug*innen aus Staatsanwaltschaft und Polizei sagen aus, dass Vili Viorel Păun »grundsätzlich von einer weiteren Verfolgung des Täters abgeraten worden wäre.« Unklar sei jedoch, ob die Polizei in einem Telefonat auf die Schnelle die Info erhalten hätte, dass ein Täter verfolgt werde, um entsprechende Anweisungen zu geben. Fest steht: Die Polizei war für Vili Viorel Păun und viele andere in der Tatnacht nicht zu erreichen. »Wo sind Konsequenzen?« fragt Vilis Vater Niculescu Păun daher zurecht. Denn auch fünf Jahre nach einem der schwerwiegendsten rassistischen Anschläge der Bundesrepublik gibt es keine nennenswerten Konsequenzen.
Aufklärung wird blockiert
Auch Armin Kurtović, der Vater des ermordeten Hamza Kurtović, hat, bevor die möglichen juristisch relevanten Gegebenheiten der Tat verjähren, erneut Strafanzeige bei der Staatsanwaltschaft Hanau eingereicht. Es ist Kurtovićs dritte Anzeige. Er wirft den Behörden Strafvereitelung sowie fahrlässige Tötung vor. Konkret geht es unter anderem um den verschlossenen Notausgang in der Arena-Bar und dem Kiosk nebenan. Bevor der Täter hier eintraf, hatte er bereits Vili Viorel Păun, Fatih Saraçoğlu und Sedat Gürbüz ermordet. Im Kiosk wurden Mercedes Kierpacz, Gökhan Gültekin und Ferhat Unvar erschossen, in der Bar Said Nesar Hashemi und Hamza Kurtović. Said Etris Hashemi, Muhammed Beyazkendir, Piter Bilal Minnemann und andere überlebten teils schwerverletzt. Den Notausgang hatten sie nicht genutzt, da ihnen bewusst war, dass dieser immer verschlossen gewesen sei, wie die Überlebenden und andere Zeug*innen in den vergangenen Jahren mehrfach gegenüber Medien und auch vor dem Untersuchungsausschuss erzählten. Die Staatsanwaltschaft Hanau sieht keinen Zusammenhang zwischen den Morden und dem verschlossenen Notausgang. Es sei unklar, ob die Personen in der Bar den Notausgang auch tatsächlich genutzt hätten, wenn sie gewusst hätten, dass dieser offen ist. Es sei nicht möglich »die authentischen Gedankengänge der Todesopfer zu rekonstruieren«, so die Staatsanwaltschaft. Kurtović ist laut Anzeige der Auffassung, die Behörden hätten nicht genug unternommen, um einen funktionierenden Notausgang zu gewährleisten.
Ein aufwendiges Gutachten, das das Recherchekollektiv Forensic Architecture im Auftrag der Initiative 19. Februar Hanau erstellt hat, kam mithilfe der Aufnahmen der Überwachungskameras bereits 2021 zu dem Schluss, dass wenn die fünf Personen, die zum hinteren Teil der Bar flohen, gewusst hätten, dass der Notausgang offen gewesen wäre, »sie alle den Anschlag hätten überleben können.« Armin Kurtović findet, dass die Staatsanwaltschaft Hanau und die Generalstaatsanwaltschaft Frankfurt die Argumente von Forensic Architecture nicht ausreichend berücksichtigt hätten. Er möchte alle juristischen Mittel ausschöpfen. »Wenn es sein müsse, ziehe er bis vor den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg«, wird er in der hessenschau zitiert.
Die Anzeigen der Angehörigen wären wahrscheinlich nicht nötig gewesen, hätten die Verantwortlichen die Tat aufgeklärt und Konsequenzen aus ihren Fehlern gezogen. Stattdessen reiht sich der Anschlag von Hanau ein in eine Serie zahlloser rassistischer Anschläge in der Geschichte der Bundesrepublik, bei denen seitens des Staates ebenfalls nichts unternommen wurde, um Ähnliches künftig zu verhindern. Der NSU, Hanau, Halle, Solingen, Hoyerswerda – die Liste rassistischer und antisemitischer Anschläge ist lang, ein Ende nicht in Sicht.
Hinterbliebene kämpfen an mehreren Fronten
Die Stadt Hanau und die Hinterbliebenen haben sich derweil auf einen Ort für das neue Mahnmal geeinigt. (ak 765) Das war ein zäher Prozess, denn auch unter den Angehörigen gab es keine Einigkeit darüber, wo es stehen soll. Nun kommt es auf den Kanaltorplatz, der in »Platz des 19. Februar« umbenannt wird. Hier soll anlässlich des Anschlags auch ein »Haus für Demokratie und Vielfalt« entstehen. Das Amt für Sozialen Zusammenhalt und Sport soll dort einziehen, sowie, auch auf Anregung von Serpil Temiz Unvar, zivilgesellschaftlicher Austausch gefördert werden. Saida Hashemi, die Schwester von Said Nesar und Said Etris Hashemi und Stadtverordnete (SPD), nannte das Haus für Demokratie und Vielfalt ein »Symbol für demokratische Werte, ein Haus des Erinnerns und der Hoffnung«. Armin Kurtović hingegen kommentierte auf der Instagramseite der hessenschau, die über das Denkmal berichtet: »Es wäre besser gewesen das die Stadt Hanau und der OB (Oberbürgermeister) die Verantwortung für den verschlossenen Notausgang übernommen hätten.« Der Offenbach-Post gegenüber erwähnte er kürzlich, dass er nicht möchte, dass der Name seines Sohnes auf dem Mahnmal angebracht wird. Emiş Gürbüz sieht das ähnlich. Doch Oberbürgermeister Claus Kaminsky erklärte bereits, dass die Stadt die Anliegen beider Familien ablehnen werde. »Man wolle ›eine dauerhafte Erinnerung an alle Ermordeten schaffen‹«, heißt es unter Berufung auf seine Aussage dazu bei der Offenbach-Post.
Im aktuellen Wahlkampf zeigt sich, wie weit das Post-Hanau-Deutschland in den vergangenen Jahren nach rechts gerückt ist.
Dass die Angehörigen sich nicht immer einig sind, wurde auch deutlich, als auf Postern und Stickern der Initiative 19. Februar auf Wunsch von Ferhat Unvars Familie sein Bild und sein Name in der Aufzählung der neun Opfer fehlten. Doch es wäre vermessen, Einigkeit von der Zufallsgemeinschaft, die die Angehörigen bilden, zu erwarten. Sie kämpfen an vielen Fronten: Für sichtbare Symbole der Erinnerung wie auch dafür, dass der Staat dem strukturellen Rassismus seiner Institutionen begegnet.
Der Staat macht ihnen diesen Kampf nicht leicht. Im aktuellen Wahlkampf wird deutlich, wie weit das Post-Hanau-Deutschland in den vergangenen Jahren nach rechts gerückt ist. Als die Union Ende Januar mit den Stimmen der Afd für einen Antrag zur Verschärfung der Migrationspolitik gestimmt hat, war die Empörung über diese Zusammenarbeit groß. Mit dieser rechtsextremen Partei paktiere man nicht, hieß es unisono aus anderen Parteien. Dabei sind auch Parteien wie die Grünen oder SPD, die in ihrer Regierungszeit eine Verschärfung des Asylrechts mitgetragen haben, Teil des Rechtsrucks, lediglich mit bürgerlichem Anstrich.
Gleichzeitig setzen sich derzeit breite Teile der Zivilgesellschaft auf Demonstrationen gegen rassistische Hetze ein. Der Erfolg dieser Demos misst sich jedoch nicht primär an Teilnehmer*innenzahlen, sondern an ihrer Nachhaltigkeit. Wo sich auf den Staat im Kampf gegen Rassismus nicht verlassen werden kann, ist die Gesellschaft umso mehr gefragt. Wer Rechten in den kommenden Jahren etwas entgegensetzen möchte, wird nicht drumherum kommen, sich stärker mit linken Ideen zu befassen und diese zu leben. Die Saat dafür ist gestreut. Die Ausdauer kann man sich bei den Hinterbliebenen von Hanau abgucken.