»Willkommen in der Hölle der Macht«
Vor zehn Jahren wurde in Griechenland ein linker Ministerpräsident gewählt, die Syriza-Regierung wagte den Aufstand gegen die EU – und scheiterte
Von John Malamatinas

Januar 2015 – auch in Griechenland ist das kein angenehmer, warmer Monat. In der Zentrale der griechischen Linkspartei, Syriza, im Zentrum Athens sind alle Bürotüren geschlossen. Aus verschiedenen Räumen dringen Fernsehgeräusche in die Flure. Im kleinen Büro der linken Internetzeitung left.gr sitzen sechs Medienschaffende, gedrängt um vier zusammengeschobene Schreibtische. Alle starren gebannt auf ihre Bildschirme. Die erste Prognose erscheint: erster Jubel. Die »Koalition der Radikalen Linken« (Syriza) liegt vorn. Der Zigarettenqualm wird dichter. Dann die erste Hochrechnung: 36,5 Prozent. Alles scheint möglich – sogar die absolute Mehrheit. Türen werden aufgeschlagen, und Menschen strömen aus den Büros in die Flure. Alte und womöglich neue Abgeordnete, Parteiangestellte und linke Journalist*innen umarmen sich.
Zum ersten Mal in der Geschichte der EU gewann am 25. Januar 2015 eine Partei mit den Worten »Radikale Linke« im Namen eine Parlamentswahl. Der charismatische Jungpolitiker Alexis Tsipras wurde Ministerpräsident. Für Griechenland-Expert*innen war es eine turbulente Zeit. Der Konflikt um die Staatsverschuldung Griechenlands erreichte seinen vorläufigen Höhepunkt. Heute erinnert sich in Deutschland kaum jemand mehr daran, außer vielleicht Angela Merkel in ihren Memoiren, aber damals war es in Europa – nicht nur für Linke – eine Sensation.
Eine linke Hoffnung für Europa
Seit der globalen Finanzkrise 2008 wurden die sogenannten PIIGS-Staaten (Portugal, Italien, Irland, Griechenland, Spanien) von finanziellen Turbulenzen erfasst. 2010 hatte der damalige griechische Ministerpräsident Giorgos Papandreou von einer Jacht auf dem Mittelmeer erklärt, dass das Land ohne Hilfe der Gläubiger seine Schulden nicht bedienen könne. Nach Vorstellung der Eliten sollte Griechenland durch harte Sparmaßnahmen und letztendlich Verelendung der Bevölkerung wieder kreditwürdig gemacht werden – und somit als einzelne Entgleisung innerhalb des Euroraums präsentiert werden. Die Straßen Athens wurden von 2010 bis 2012 zum Schauplatz massenhafter Proteste. Eine ganze Generation wuchs mit dem Wort »Austerität« auf – zuerst als Konzept, dann als harte Realität. Zugleich war das »Krisenlabor Griechenland« elementar für die Zukunft eines von Deutschland maßgeblich neu geordneten Europa.
Als Syriza die Wahlen gewann, wurde dies in ganz Europa als historischer Moment wahrgenommen. Eine Partei, die aus den sozialen Bewegungen und Straßenkämpfen dieser Zeit hervorgegangen war, stellte die Regierung und versprach eine fundamentale Konfrontation mit der Austeritätspolitik der EU. Bilder von Alexis Tsipras und Pablo Iglesias, Generalsekretär der spanischen Linkspartei Podemos, dominierten die Medien: zwei junge, dynamische Linke, die das europäische Establishment herausforderten. Ihre geballten Fäuste wurden zum Symbol eines linken Europas gemacht.
Einen Plan B zur Austerität gab es nicht. Das »Nein« des Referendums wurde über Nacht in ein »Ja« verwandelt.
Syriza war mehr als eine griechische Angelegenheit – »Ein anderes Europa ist möglich« war nicht nur ein Slogan, sondern eine Verheißung. Linke Kreise sahen Griechenland als Testfall: Konnte eine linke Bewegung in einem EU-Staat bestehen, mehr als die Straßen erobern und die europäische Politik verändern?
Die Realität holte das ambitionierte Projekt schnell ein. »Willkommen in der Hölle der Macht«, sagten damals viele außerparlamentarische Genoss*innen. Am 27. Januar 2015 wurde Tsipras Ministerpräsident – in Koalition mit den rechtspopulistischen Unabhängigen Griechen. Der größte Dämpfer folgte Monate später: Trotz des »Oxi« (Nein) im Referendum, bei dem sich die griechische Bevölkerung gegen die Sparmaßnahmen aussprach, entschied sich Tsipras, die Sanierungsbedingungen von Staat und Wirtschaft der EU anzunehmen.
Angela Merkel, damals Bundeskanzlerin, beschreibt in ihren Memoiren die dramatischen Verhandlungen. Während Wolfgang Schäuble auf den »Grexit«, der Rauswurf Griechenlands aus dem Euroraum, drängte, hoffte sie auf eine Kooperation mit Tsipras. Das plötzliche Referendum überraschte sie zunächst. Sie hielt es für ein riskantes Manöver, behauptete aber später verstanden zu haben, dass Tsipras damit den Eindruck erwecken wollte, alle Optionen ausgeschöpft zu haben, bevor er den Sparmaßnahmen zustimmte. Vielen Linken in Europa wurde klar, dass angesichts der Erpressung, Griechenland aus dem Euro rauszuwerfen, nicht viele Optionen bestanden. Mit Syriza kapitulierte das gesamte progressive Spektrum Europas, weil es nicht geschafft hatte, europaweit eine Vision gegen das Europa von Merkel und zu Schäuble, den scheinbar alternativlosen Plan der sozialen Zertrümmerung, aufzubauen. Die linken Kräfte waren allein zu machtlos für einen Aufschrei, geschweige denn eine grundlegende Veränderung – und die sozialdemokratischen bis grünen zu sehr von Macht besessen.
Die Metamorphose von Syriza begann: Wer schnell die Macht ergreifen will, aber dabei von einer schnellen Veränderung der Gesellschaft faselt, verändert vor allem sich selbst. Interne Strömungen wurden aufgelöst, Parteitage inszeniert, die Macht zunehmend bei Tsipras konzentriert. Ein »Plan B« zur Austerität wurde nie ernsthaft diskutiert – Finanzminister Yannis Varoufakis musste als Bauernopfer herhalten, er trat zurück. Das »Nein« des Referendums wurde über Nacht in ein »Ja« verwandelt. Niemand erwartete eine sofortige Einführung des Sozialismus, doch viele hofften auf eine sozialere Verwaltung der Krise. Gleichzeitig waren die sozialen Bewegungen nach den Jahren der Kämpfe erschöpft. Viele zogen sich resigniert zurück.
2019 gewann der konservative Kandidat Kyriakos Mitsotakis die Parlamentswahlen. Den Niedergang von Syriza besiegelte, nach einer Reihe innerparteiliche Auseinandersetzungen, ein letzter großer Streit: Nach dem Rücktritt von Alexis Tsipras im Juni 2023 nach wiederholten Wahlniederlagen, wurde ausgerechnet ein politischer Nobody, Reeder und Millionär aus Miami zum Vorsitzenden gewählt. Stefanos Kasselakis zeigte mit einer kostengünstigen, aber cleveren Social-Media-Kampagne, wie in einem kleinen Land im Handumdrehen eine ehemalige Massenpartei schnell übernommen werden kann. Obwohl er von der Basis der Partei als Nachfolger von Tsipras gewählt wurde, wollte sich die Parteibürokratie nicht mit ihm anfreunden. Es kam zur mittlerweile Spaltung Nummer drei: Die Partei »Neue Linke« entstand, die sich aber bisher in der Wähler*innengunst nicht etablieren konnte. Kasselakis wurde dennoch vom Rest der Parteibürokratie vertrieben – er gründete eine weitere Partei: die »Demokratie-Bewegung«.
Heute ist Syriza in fünf Parteien zersplittert: MERA25 (Varoufakis), Kurs der Freiheit (von der ehemaligen linken Parlamentspräsidentin Zoe Konstantopoulou), die Neue Linke, Kasselakis Partei und Syriza selbst. Eine vereinte Linke könnte den aktuellen Ministerpräsidenten Kyriakos Mitsotakis ernsthaft herausfordern – eine Allianz mit der sozialdemokratischen Pasok würde diese Chancen gar vervielfachen. Letztere hat sich vom Establishment aber nie wirklich verabschiedet und versucht – noch vergeblich –, vom Niedergang Syrizas zu profitieren. Mitsotakis hat mit seiner Partei Nea Dimokratia in den letzten Jahren ein Regime nach dem Vorbild von Orbáns Ungarn etabliert, das durch Abhörskandalen gegen Politiker*innen und Journalist*innen, schlechtem Katastrophenmanagement und Repression gegen NGOs keine Kritik an sich zulässt. Dabei bedient er eine Wählerschaft vom neoliberalen und konservativen bis zum rechtsextremen Spektrum.
Am 26. Januar gingen Hunderttausende in ganz Griechenland wegen Enthüllungen um die Zugkatastrophe bei Tembi vor zwei Jahren, bei der 57 Menschen starben, auf die Straße. Nach einem Gutachterbericht starben viele Opfer nicht durch den Zusammenstoß zwischen einem Güter- und einem Reisezug, sondern an Sauerstoffmangel infolge des Brands des Güterzugs. Es ist ein Befund, der besonders brisant ist, da die Regierung zuvor die Existenz dieses Waggons bestritten hatte. Doch genau dieser Waggon transportierte wohl entgegen den Sicherheitsbestimmungen hoch-entzündliche Chemikalien. Nun wurden Notrufe der Opfer aus dem tragischen Tag veröffentlicht, die diesen Bericht weiter bestätigten. Darin sagte eine eingeklemmte Person: »Ich habe keinen Sauerstoff.« Am 28. Februar findet am Jahrestag der Kollision ein Generalstreik statt.Parallel zu der Mobilisierung staut sich die Wut über die angebliche Erfolgsgeschichte der Rückkehr des Landes zu den Finanzmärkten, weiter auf, weil davon nichts auf den Lohnabrechnungen und in den Supermarktpreisen zu sehen ist. Die Geschichte Griechenlands zeigt, dass irgendwann der Knoten platzen wird, und oft genug sind aus dieser Wut militante soziale Bewegungen entstanden.
Der Zerfall einer Illusion?
Am 18. März 2015, inmitten der Griechenland-Krise, demonstrierten Tausende in Frankfurt gegen die Eröffnung der neuen EZB-Zentrale. Ein Bündnis namens Blockupy blockierte die Bankenstadt aus Solidarität mit Griechenland. Die Rauchsignale aus Frankfurt erfreuten die Menschen in Griechenland: Zumindest gab es einige Tausend Menschen, die sich eine andere Lösung der Eurokrise wünschten.
Doch anstatt sich jahrelang zu fragen, warum Syriza gescheitert ist, hätte sich die nordeuropäische Linke fragen sollen, woran sie selbst gescheitert ist. Die Hoffnung auf Wandel durch kleine Länder – von der Peripherie ins Zentrum der Bestie – war eine Projektion. Linke Kritik an der EU beschränkte sich auf die Ausschweifungen neoliberaler Finanz- und Sparpolitik, nie auf das undemokratische Fundament der Institution selbst. Heute scheint EU-Kritik fast ausschließlich rechts zu sein. Eine Linke, die sich nur mit Detailkritik begnügt, statt die EU grundsätzlich infrage zu stellen, überlässt das Terrain der extremen Rechten.
Syriza, Podemos & Co. boten eine Steilvorlage für eine Debatte über linken Populismus. Welche Beschränkungen hat er? Und wie kann er eine Bewegung von unten bleiben – nicht nur als wenig ernst zunehmende Propaganda und somit Illusion, sondern als reale Veränderung? Einen Gegenpol zur immer mächtigeren Alt-Right heißt nicht einfach alte Codes zu besetzen, sondern viel mehr einen neuen Raum des Möglichen zu schaffen. Die 68er-Bewegung war so ein Raum, der hegemonial wurde und von feministischen Kämpfen bis zu einem breiten ökologischen Bewusstsein politische Errungenschaften erreichte. Das haben die Rechten verstanden – sie schaffen es aktuell Diskurse in Praxis und somit mögliche konkrete Veränderungen zu übersetzen.
Die Herausforderung bleibt: Wie kann eine linke Bewegung entstehen, die sich nicht nur auf Wahlerfolge verlässt, sondern auch wirtschaftliche und gesellschaftliche Macht aufbaut? Klar ist, dass Syriza eine zentrale Erfahrung war – und eine Warnung.