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»Senken wir die Mieten!«

In Spanien gibt es kaum noch bezahlbaren Wohnraum, Mieter*innengewerkschaften befinden sich im Aufwind

Von Jonathan Welker

Mitglieder der Mieter*innengewerkschaft protestieren im September 2024 vor dem Parteibüro von Junts per Catalunya. Sie schwenken rote Fahnen und schreien etwas. Es sind viele junge Frauen dabei.
Selbstorganisierung als Schlüssel: Mitglieder der Mieter*innengewerkschaft protestierten im September 2024 vor dem Parteibüro von Junts per Catalunya. Foto: Ivan Giesen / Sindicat de Llogateres de Catalunya

Es wird Abend an der Sagrada Família, dem Wahrzeichen Barcelonas, mitten im touristischen Herzen der Stadt. Während es langsam dunkel wird, drücken sich überraschte Tourist*innengruppen an Polizeisperren und Protestierenden vorbei. Einige machen Fotos von den etwa 100 Leuten, die mit Transparenten die Straße blockieren.

Der Zugang zur Zentrale der rechtsliberalen katalanischen Partei Junts per Catalunya wird von einer Polizeikette versperrt. Wenige Stunden zuvor hatte die Partei im spanischen Parlament gemeinsam mit dem rechtskonservativen Partido Popular und der rechtsradikalen Vox gegen ein Gesetzespaket der sozialdemokratischen Minderheitsregierung gestimmt. Neben der Streichung von Zuschüssen zum öffentlichen Verkehr stehen Rentenzahlungen und das landesweite Moratorium für Zwangsräumungen vor dem Aus.

Um ihrer Wut darüber Luft zu machen, haben spontan Mitglieder verschiedener Wohn- und Mieter*innenorganisationen gemeinsam mit der Bewegung der Rentner*innen mobilisiert. Juanjo Ramon, Sprecher der traditionsreichen Plataforma por los Afectados por la Hipoteca (PAH), die Wohnungsbesitzer*innen, die ihre Kredite nicht mehr bedienen können, organisiert sind, platzt vor Pressevertreter*innen der Kragen: »Vollmundig reden sie davon, für die Bevölkerung zu regieren, aber das Einzige, was sie wirklich tun, ist, sämtliche sozialen Errungenschaften zu zerschlagen.« Ramon fürchtet, dass die landesweit 58.000 Zwangsräumungen, die während der Hochphase der Covidpandemie ausgesetzt wurden, jetzt durchgesetzt werden könnten. »Ein Tsunami der sozialen Zerstörung« könnte das werden, sagt Óscar Blanco, Aktivist beim Sindicat de Llogateres de Catalunya (Mieter*innengewerkschaft Kataloniens / SLL).

Ob es wirklich so weit kommt, ist derzeit noch offen. Denn noch kann die spanische Regierung einzelne Vorhaben aus dem Gesetzespaket getrennt zur Abstimmung bringen und sie so umsetzen. Deutlich wird aber die ambivalente Lage der sozialen Bewegung für ein Recht auf Wohnen in Spanien. Einerseits kann sie auf Ebene der Gesetzgebung kaum auf Mehrheiten bauen und muss sogar die Abschaffung vorübergehender Errungenschaften fürchten. Andererseits befindet sich die Bewegung auf Ebene der Mobilisierung und Organisation in einer Hochphase. Im Oktober 2024 gingen in Madrid 150.000, im November 120.000 Menschen in Barcelona gegen hohe Mieten und den Zustand auf dem Wohnungsmarkt auf die Straße. »Die Mieter*innenbewegung im spanischen Staat befindet sich in einer historischen Situation«, sagt Carme Arcarazo, Sprecherin des Sindicat de Llogateres. »Was wir im Oktober und November erlebt haben, sind Mobilisierungen bisher unbekannten Ausmaßes. Dass so viele Menschen ihre Wut auf die Straße getragen haben, hat auch uns als Organisator*innen überwältigt«, so Arcarazo.

Teurer als Berlin

Anlass für beide Großmobilisierungen war die sich seit Jahren zuspitzende Lage auf dem spanischen Wohnungsmarkt. Spanienweit stiegen allein im vergangenen Jahr die Angebotsmieten um im Schnitt knapp zwölf Prozent; der durchschnittliche Quadratmeterpreis liegt bei fast 14 Euro. Die Angebotsmieten sind auch deshalb so relevant, weil es in Spanien kaum unbefristete Mietverträge gibt. In der Regel laufen Verträge über drei oder fünf Jahre. Im Anschluss kann ein neuer Vertrag unterschrieben werden, umfassende Mieterhöhungen inklusive. In Barcelona stellt sich die Situation noch drastischer dar: Hier stieg die Durchschnittsmiete in den vergangenen zehn Jahren um über 30 Prozent. Die Angebotsmiete liegt bei 20 Euro/qm und damit über der in Berlin – bei einem erheblich niedrigeren Durchschnittseinkommen.

Unter diesen Umständen kann es kaum verwundern, dass Zehntausende Mieter*innen ihren Unmut auf die Straße trugen. Ausschlaggebend war aber die Mobilisierungsstrategie der Mieter*innengewerkschaften: »Diskursiv haben wir die verbreitete Wut zugespitzt auf die Frage: Warum sollten wir vier Stunden am Tag arbeiten, für die Profite eines privaten Rentiers?«, sagt Sprecherin Arcarazo. Die Öffentlichkeitsarbeit setzte dabei, neben klassischer Pressearbeit, zentral auf Kooperationen mit Influencer*innen auf Social Media und die Teilnahme an reichweitenstarken Podcasts. Noch wichtiger war jedoch die dezentrale Mobilisierung in den Vierteln und Kiezen. Die Massendemonstration organisierte sich entsprechend in Blöcken, die nach den Vierteln der Teilnehmer*innen aufgeteilt waren. In Barcelona konnte die Mieter*innengewerkschaft auf Jahre systematischer Aufbauarbeit zurückgreifen. »Wir haben in allen Vierteln Barcelonas Mitglieder und konkrete Kämpfe, auf die wir aufbauen konnten«, sagt Aktivist Óscar Blanco. Man habe deshalb im Vorfeld der Demonstration dezentrale Versammlungen zur Vorbereitung einberufen und mit Haustürgesprächen für die Teilnahme geworben. »Das wurde sehr gut angenommen, die Leute haben uns die Tür eingerannt«, erinnert sich Blanco sichtlich zufrieden.

Organisieren für den Mietenstreik

Diese breite Verankerung soll durch den Erfolg der vergangenen Mobilisierung jetzt noch weiter vorangetrieben werden. Die Zeichen dafür stehen gut: In den vergangenen Wochen hat das Sindicat de Llogateres starken Zulauf erfahren, die Anzahl zahlender Mitglieder ist auf über 5.000 gestiegen. In einem nächsten Schritt wollen die Gewerkschafter*innen lokale Auseinandersetzungen zuspitzen und gewinnen. So befinden sich derzeit mehrere Wohnungsblocks im Mietstreik – große Teile der monatlichen Zahlungen an Banken und Immobilieninvestor*innen werden zurückgehalten. »Ein Mietstreik ist keine einfache Angelegenheit, eine Teilnahme kann schnell gefährlich werden. Wir sagen immer: Einen Streik ruft man nicht aus, einen Streik organisiert man«, sagt Carme Arcarazo.

Für das Frühjahr plant die Gewerkschaft eine Ausweitung der Streikbewegungen und legt einen Fokus auf die größte Vermieterin der Region, die Bank Caixa. Geplant ist außerdem eine neue Großdemonstration im April. Die enge Verzahnung von großen Mobilisierungen und dem Aufbau von Gegenmacht durch verbindliche Verankerung in den Vierteln, samt der gezielten Zuspitzung lokaler Konflikte, gehört dabei zu den derzeit spannendsten bewegungspolitischen Dynamiken.

Auch in Fragen der internen Organisation stehen für die Gewerkschafter*innen und Aktivist*innen wichtige Entscheidungen an. Diskutiert wird über eine Konföderation aller Wohn- und Mieter*innenorganisationen in Katalonien. Ziel ist die organisatorische Vereinheitlichung und die gegenseitige Bestärkung und Unterstützung in den lokalen Kämpfen um Mieten und Wohnen, beispielsweise bei der Verhinderung von Zwangsräumungen, juristischer Expertise oder der Öffentlichkeitsarbeit. Eine solche Fusion unterschiedlicher wohnungspolitischer Organisationen birgt selbstverständlich Konfliktpotenzial. Zentrale Kontroversen sind die Frage nach einem Organisationsmodell, das auf bezahlter Mitgliedschaft basiert, und – damit verbunden – die Frage, ob es bezahlte Stellen innerhalb der Konföderation braucht, die das Organizing der Mieter*innen vorantreiben, administrative Aufgaben erledigen oder sich der Öffentlichkeitsarbeit widmen.

Das Sindicat de Llogateres hat sich für ein entsprechendes Organisationsmodell mit bezahlten Stellen entschieden – und kann auf Jahre erfolgreicher Praxis zurückblicken. Seit seiner Gründung vor sieben Jahren wuchs die Mieter*innengewerkschaft stetig und wurde sowohl zur zentralen Katalysatorin für lokale Konflikte als auch zur sichtbarsten Akteurin der Mieter*innenbewegung und zum Gegenüber für die institutionelle Politik. In der Bewegung für ein Recht auf Wohnen bleiben diese Fragen dennoch umstritten.

Und so ist es offen, wie einheitlich die kommende Konföderation organisiert sein wird. In jedem Fall aber wird die Bündelung der Kräfte der Bewegung zu mehr Schlagkraft führen. Eine Schlagkraft, die bei ausbleibender staatlicher Regulierung des Wohnungsmarktes und sich zuspitzenden Konflikten auch in Zukunft dringend benötigt werden wird.

Jonathan Welker

ist Historiker und stadtpolitisch aktiv in Berlin.