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Fragile Waffenruhe in Gaza

Hat die israelische Regierung nur kurzzeitig dem Druck der Straße und Trumps nachgegeben, um einen Geiseldeal zu akzeptieren und danach den Krieg fortzusetzen?

Von Gil Shohat

Eine Menschenmenge mit Fahnen und Schildern, dahinter weißer und blauer Rauch.
Ihr Ziel war ein Geiseldeal: Demonstration in Tel Aviv. Foto: ליזי שאנן / Wikimedia Commons, CC BY 2.5

Am Abend des 15. Januar war der »Platz der Geiseln« im Zentrum Tel Avivs ein Ort der ungläubigen Erleichterung. Neben mindestens einem Dutzend ausländischer und nationaler Fernsehkorrespondent*innen und ihren Kamerateams waren auch zahlreiche Angehörige israelischer Geiseln sowie mit ihnen solidarische Israelis auf diesem symbolischen Platz versammelt. Sie lauschten Musik, vertieften sich in Zwiegespräche und boten einander Trost an. Sie schienen zu ahnen: Die nervenaufreibendste Zeit scheint erst jetzt zu beginnen.

Die Bilder der Freilassung gingen seitdem um die Welt: erleichterte, noch ungläubige Familien der drei israelischen Geiseln, die ihre Liebsten im Krankenhaus nach über 470 Tagen in die Arme schließen konnten. In Ramallah und im restlichen Westjordanland sahen wir Bilder von ganzen Reisebussen voller Frauen und Jugendlicher, die aus israelischen Gefängnissen (vor allem dem Ofer-Gefängnis in der Nähe von Ramallah) entlassen und mit Jubel im Zentrum der Stadt empfangen wurden. Diese Bilder vermittelten, trotz oder wegen der immensen Zerstörung der letzten 15 Monate, einen Hauch von Hoffnung auf eine Atempause in diesen existenziellen Zeiten voller Tod, Traumata und politischer Perspektivlosigkeit.

Es war letztendlich wohl eine Kombination aus sowohl US-Druck als auch innergesellschaftlichem Druck in Israel, die den politischen Spieler Netanjahu zu diesem Schritt drängten.

Seit dem Beginn des Abkommens waren die vergangenen zwei Wochen in Israel geprägt von einer Mischung aus nervenaufreibender Spannung, nationalem Taumel und Selbstvergewisserung, Erleichterung, Trauer und Wut. Es waren die Tage, an denen die ersten zwei Stufen des am 15. Januar verabschiedeten Plans zum Geisel-Gefangenenaustausch zwischen Israel und der Hamas umgesetzt wurden: Am 19. Januar wurden drei israelische Geiseln, ausschließlich Zivilistinnen, freigelassen, im Gegenzug dafür kamen 90 inhaftierte Palästinenser*innen, allesamt Frauen und Jugendliche, aus israelischen Gefängnissen frei.

Am vergangenen Samstag wurden vier israelische Soldat*innen, alle entführt aus ihrer Armeebasis in Nahal Oz an der Grenze zum Gazastreifen, gegen 200 palästinensische Gefangene freigelassen (von denen einige, die etwa während der zweiten Intifada direkt für Selbstmordattentate in Israel verantwortlich waren, ins Exil verbannt wurden). Die vier Frauen wurden in den vergangenen Monaten in den israelischen Medien zum Symbol der Vernachlässigung der grenznahen Soldat*innen, die der Attacke der Hamas am 7. Oktober 2023 schutzlos ausgeliefert waren (während gleichzeitig mehrere Bataillone von der Grenze Gazas zum Schutz messianischer Siedler*innen ins Westjordanland verlegt worden waren). Ihre Rückkehr nach Israel geriet am vergangenen Wochenende, bei aller gerechtfertigten Freude über die Freilassung dieser vier jungen Frauen aus der Gefangenschaft, zu einer weiteren Demonstration der derzeitigen medial aufgeladenen Sehnsucht vieler Menschen in Israel nach nationaler Selbstvergewisserung und Rückversicherung der eigenen moralischen Überlegenheit gegenüber den Palästinenser*innen. Das palästinensische Schicksal und Leid in Gaza, dem Westjordanland und auch innerhalb Israels in Zeiten des Krieges wurde und wird nahezu komplett ausgeblendet.

Druck von außen und unten

Nach über 15 Monaten brutalem Krieg zwischen Israel und der Hamas im Anschluss an das Massaker vom 7. Oktober 2023, bei dem insgesamt (vorsichtigen Schätzungen zufolge) über 47.500 Menschen ihr Leben verloren – davon etwa 45.900 Palästinenser*innen und etwa 1.700 Israelis, sieht die aktuelle Vereinbarung zur Waffenruhe eine stufenweise Beendigung des Krieges vor. In Stufe eins soll die Hamas 33 Israelis (Soldat*innen sowie Zivilist*innen) freilassen, im Gegenzug für je zwischen 30 und 50 Palästinenser*innen aus israelischen Gefängnissen. Zudem soll humanitäre Hilfe wieder in den Gazastreifen eingeführt werden dürfen.

Bereits in den ersten Tagen seit Inkrafttreten der Waffenruhe wurde ersichtlich, was möglich ist, wenn die Grenzübergänge geöffnet sind: Etwa 650 Lastwagen konnten seitdem pro Tag in den Gazastreifen dringend benötigte humanitäre Hilfe bringen, bisherigen Erkenntnissen zufolge ohne dass diese Hilfsgüter signifikant geplündert wurden. Weiterhin kehren seit Anfang dieser Woche (Stand: 28. Januar 2025) hunderttausende vertriebene Palästinenser*innen in ihre Wohnorte im Norden des Gazastreifens zurück.

Gespräche über Stufe zwei und drei des Abkommens haben bereits begonnen. Am Ende von Stufe eins sollen alle 98 Israelis in Händen der Hamas (auch die in Geiselhaft Ermordeten) nach Hause zurückkehren, entsprechend des obigen Schlüssels für Palästinenser*innen in israelischen Gefängnissen ­– darunter auch verurteilte Attentäter, aber auch viele Frauen und Jugendliche, die teilweise Jahre in Administrativhaft waren und ohne Anklage festgehalten wurden.

Drei zentrale Fragen stellen sich viele Menschen in Israel, wenngleich aus unterschiedlichen Perspektiven und mit unterschiedlicher Gewichtung. Erstens: Wieso wurde erst jetzt der Plan für eine Waffenruhe umgesetzt? Medienberichten zufolge lag er bereits im Mai 2024 vor. Vom – nun ehemaligen – US-Präsidenten Joe Biden in seinen Grundzügen ausgearbeitet, musste er acht Monate und etwa 12.000 weitere Tote auf seine Umsetzung warten. War es tatsächlich der sogenannte Trump-Faktor, also die unverblümte Drohung des mittlerweile alten und neuen US-Präsidenten Donald Trump, dass wenn bis zu seinem Amtsantritt am 20. Januar 2025 kein Deal vorläge, in der Region die »Hölle auf Erden losbrechen werde«? Ungeachtet dessen, dass mindestens für Palästinenser*innen in Gaza sowie die Angehörigen der israelischen Geiseln und der am 7. Oktober durch die Hamas Ermordeten diese Hölle längst ausgebrochen war. Einiges deutet darauf hin, dass es tatsächlich der Druck von Trumps neuem Nahost-Gesandten, Steve Witkoff, war, der Netanjahu Anfang Januar einknicken und dem Biden-Plan vom Mai 2024 zustimmen ließ.

Ziel Westjordanland

Oder waren es der innenpolitische Druck aus der israelischen Gesellschaft, die monatelangen Proteste der israelischen Geiselfamilien, Netanjahus wieder angelaufener Korruptionsprozess, die immer höher werdenden Zahlen getöteter israelischer Soldat*innen in Gaza, die den Ausschlag gegeben haben?

Tatsächlich ist in den vergangenen Monaten die öffentliche Unterstützung in Israel für einen Geiseldeal durch einen Stopp des Krieges gegen Gaza immer weiter angestiegen. Aktuelle Umfragen sehen die Zustimmung für den jetzigen Deal in all seinen Stufen und der damit zusammenhängenden Freilassung aller israelischen Geiseln (tot oder lebendig) bei etwa 70 Prozent in der Bevölkerung. Auch die offizielle Position des Hostages and Missing Families Forum, dem größten Verbund israelischer Geiselfamilien, lautet mittlerweile: Es gibt kein Ende des Krieges ohne die Freilassung der Geiseln und es gibt keine Freilassung der Geiseln ohne ein Ende des Krieges.

Wenn die Antwort auf die erste Frage lautet, dass es letztendlich wohl eine Kombination aus sowohl US-Druck als auch innergesellschaftlichem Druck in Israel waren, die den politischen Spieler Netanjahu zu diesem Schritt drängten, dann wird auch klar, wie offen die Antwort auf die zweite große Frage ist: Hält das Abkommen bis zum Schluss? Die Gegner des Abkommens innerhalb der israelischen Regierung um die rechtsextremen, messianisch-fundamentalistischen Minister, den nun zurückgetretenen nationalen Sicherheitsminister Itamar Ben-Gvir sowie den Finanzminister Bezalel Smotrich, setzen Netanjahu massiv unter Druck. Smotrich ist, im Gegensatz zu Ben-Gvir, unter der Zusicherung Netanjahus in der Regierung geblieben, dass der Krieg nach der ersten Phase des Abkommens wiederaufgenommen werde. Weiterhin dürfte er durch den erneuten Einmarsch der israelischen Armee in den palästinensischen Städten Jenin und Tulkarem im Westjordanland, ganze zwei Tage nach Beginn des Waffenstillstands in Gaza, sowie die weiter voranschreitende Vertreibung von Palästinenser*innen im Süden des Westjordanlands durch illegale israelische Siedler*innen mithilfe der israelischen Armee besänftigt worden sein.

Damit wird deutlich, wie fragil die Einhaltung dieses Abkommens in seinen drei Stufen von israelischer Seite ist. Sowohl in der Protestbewegung für die Freilassung der Geiseln, die sich mittlerweile eindeutig zu der Notwendigkeit einer Beendigung des Krieges bekennt und sich schon vor Monaten mit den breiten Anti-Regierungsprotesten zusammengeschlossen hat, als auch in den israelischen Medien wird daher lautstark für eine Umsetzung des gesamten Deals geworben. Bewegungen und Medien nehmen durchaus wahr, dass die neue US-Regierung um Trump und ihr Gesandter Wittkof offensichtlich an einer Umsetzung aller drei Stufen des Geiselabkommens/der Waffenruhe interessiert sind.

Von der Antwort auf die zweite zentrale Frage nach der Überlebensfähigkeit des Abkommens von israelischer Seite hängt auch die Antwort auf die dritte zentrale Frage dieser Tage ab: Was kommt danach? Viel ist seit Beginn dieses Krieges vom »Tag danach« geschrieben und gesprochen worden, häufig unter Missachtung des Grauens, das dieser Krieg tagtäglich hervorbringt und den daraus resultierenden zusätzlichen Wunden, die über Generationen das so schicksalhafte, verwobene und asymmetrische Verhältnis von Palästinenser*innen und Israelis prägen wird. Wir erleben, wie seit Trumps Amtsantritt wieder regionale Formeln für die Beendigung dieses Konflikts, der sowohl ein nationaler als auch ein kolonialer Konflikt ist, in die Welt gesetzt werden. Gleichzeitig spricht der US-Präsident von Auswanderungsplänen für Palästinenser*innen aus Gaza nach Ägypten und Jordanien. Wir erleben jedoch gleichzeitig, wie auch innerhalb der israelischen progressiven Zivilgesellschaft und Wissenschaft der Versuch unternommen wird, aus dieser existenziellen und unhaltbaren Situation friedenspolitische Perspektiven zu entwickeln und in der israelischen Bevölkerung zu verbreiten, etwa das Positionspapier »Der Tag heute« einer Gruppe von Intellektuellen und Regionalwissenschaftler*innen um Dr. Assaf David vom Jerusalemer Van Leer Institut oder auch die politische Mobilisierung von Initiativen wie Peace Partnership oder Standing Together.

Der Raum für diese grundlegenderen Ideen und Debatten ist in der israelischen Gesellschaft angesichts der tagtäglichen Dramatik beschränkt – es dominiert die Ungewissheit über die nächsten Wochen. Denn es bleibt offen, ob die rechtsextremen, messianischen Kräfte in- und außerhalb der Regierung die Umsetzung des aktuellen Abkommens blockieren oder die Befürworter*innen des Deals mit emotionalem Rückenwind durch jede gelungene Freilassung israelischer Geiseln sowie genug internationalem Druck die Oberhand gewinnen. Erst dann werden wir absehen können, wie die politischen Perspektiven für diese so von Gewalt geprägte Region aussehen können.

Gil Shohat

ist als Sohn israelischer Eltern in Bonn aufgewachsen. Er ist Historiker und leitet derzeit das Israel-Büro der Rosa-Luxemburg-Stiftung in Tel Aviv.