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|ak 711 | Diskussion

Der Reiz der Roten

Orthodox-kommunistische Gruppen gewinnen an Einfluss – was hat die antiautoritäre Linke falsch gemacht?

Von Sebastian Bähr

Denkmal von Ernst Thälmann in Berlin, auf den Sockel hat jemand in großen Buchstaben das Wort "Held" geschrieben.
Faust Hoch! Rotfront! Der von den Nazis ermordeten KPD-Führer Ernst Thälmann ist eine Ikone vieler roter Gruppen. Gruppenbilder am Berliner Denkmal und Filmabende (»Sohn seiner Klasse«) gehören zum Programm. Foto: Singlespeedfahrer / Wikimedia Commons, Public Domain

Sie tragen rote Halstücher und Fahnen, zeigen im Front-Block demonstrativ Entschlossenheit, ihre Parolen und Transparente wirken manchmal wie die Folklore vergangener Zeiten. Seit geraumer Zeit wird in der gesellschaftlichen Linken über das Phänomen der »roten Gruppen« diskutiert. Gemeint sind damit dogmatisch und autoritär geprägte Organisationen und Kleinstgruppen, die sich auf unterschiedliche orthodox-kommunistische Traditionslinien berufen. Diese Gruppen waren nie weg, führten aber seit dem Ende der Sowjetunion ein Nischendasein, während antiautoritäre und antihierarchische Strömungen an Einfluss gewannen – vor allem als Reaktion auf die Erfahrungen des Realsozialismus.

Ob diese roten Gruppen aktuell wirklich zahlenmäßig mehr werden, ist schwer zu bestimmen – in den vergangenen Jahren sind sie jedoch bundesweit in Großstädten sichtbarer und selbstbewusster geworden. Ihre Praxis scheint einerseits geprägt zu sein von heftigen internen Programmdebatten, andererseits aber auch von dem Versuch, Politik im Stadtteil und für Arbeiter*innen zu machen. Zudem spielen antirassistische und internationalistische Kämpfe eine große Rolle: Man sah entsprechende Gruppen etwa auf den Black-Lives-Matter- und Hanau-Demonstrationen, aktuell häufig auch bei Palästinaprotesten. Sie versuchen, insbesondere jüngere Menschen anzusprechen, bei offenen Jugendtreffs, in der Klimabewegung oder auf Social Media.

Antiautoritäre linke Gruppen sehen sie vielerorts kritisch, werfen ihnen Instrumentalisierung von Bewegungen, Antizionismus mit Tendenz zum Antisemitismus, starre Hierarchien oder die Romantisierung von Arbeiter*innen vor. In mehreren Städten kam es bereits zu Konflikten. Verschiedene Zusammenschlüsse fordern mittlerweile, die Zusammenarbeit mit ihnen zu beenden, etwa in Leipzig, Dresden oder NRW.

Stärke statt Schwäche

Der Reiz der roten Gruppen kann auf individual-psychologischer Ebene nachvollzogen werden: In den aktuellen Zeiten der vielen Krisen, in denen die gesellschaftliche Linke schwach ist, verspricht ihre Inszenierung von Stärke, Entschlossenheit und Einheit ein Heilmittel gegen die empfundene Ohnmacht. Angesichts komplexer Konflikte sind einfache Antworten und Feindbilder attraktiver als die Reflexion von Widersprüchen und der eigenen Verstrickungen in Machtsysteme.

Die aktuelle Hoffnungslosigkeit bei vielen Linken wird bei ihnen ersetzt durch den Glauben, mit genügend Einsatz auch unabhängig von den äußeren, ungünstigen Faktoren Weltgeschichte schreiben zu können. Die aktuelle Studie »Jugend in Deutschland 2024« zeigt zudem, dass insbesondere jüngere Menschen von der herrschenden Politik enttäuscht sind und kaum noch positive Zukunftsperspektiven haben. Während ein Teil sich zur AfD hin radikalisiert, könnte ein anderer offen werden für linksautoritäre Angebote.

In den aktuellen Zeiten der vielen Krisen verspricht die Inszenierung von Stärke, Entschlossenheit und Einheit der Roten Gruppen Heilmittel gegen die empfundene Ohnmacht.

Gesellschaftspolitisch spiegeln sich in der wachsenden Bedeutung dieser Gruppen verschiedene Entwicklungen. Möglicherweise sind sie wie das Bündnis Sahra Wagenknecht ein Ausdruck des gesamtgesellschaftlichen Rechtsrucks, der auch in der Linken das Bedürfnis nach autoritären Krisenlösungen, exklusiven Solidaritätsvorstellungen oder herrschaftsnahen Positionen wachsen lässt. Noch viel mehr zeigt sich in ihrer wachsenden Resonanz jedoch umgekehrt eine zunehmende Schwäche der antiautoritären Linken. Diese Perspektive wurde bereits von verschiedenen Politiker*innen, Aktivist*innen und Gruppen geäußert, darunter der Bremer Basisgruppe Antifaschismus oder der sächsischen Linken-Landtagsabgeordneten Juliane Nagel.

Diese Schwäche der antiautoritären Linken zeigt sich auf nationaler wie auch globaler Ebene. In Deutschland haben die Jahre der Pandemie zu einem Rückgang der politischen Aktivitäten geführt. Seit dem Ende der Lockdowns gelingt es nur schwer, wieder größere Mobilisierungen zu erreichen. Die rasante Zuspitzung der Klimakrise und der aufsteigende Faschismus lähmen viele. Die Klimabewegung zerfasert. Die Linkspartei hat sich gespalten und kämpft – trotz vieler Parteieintritte – um ihre Existenz. Postautonome Gruppen stoßen zugleich immer stärker an inhaltliche und praktische Grenzen. Aktionen des zivilen Ungehorsams sind zu kontrollierbaren Ritualen geworden, erklärte die Interventionistische Linke selbstkritisch in ihrem zweiten Zwischenstandspapier. Abseits von Leuchtturmprojekten wie der Kampagne »Wir fahren zusammen« von ver.di und Fridays for Future gelingt es nur schwer, Arbeitskämpfe zu politisieren und Bündnisse mit Beschäftigten zu schließen.

Die Defizite der antiautoritären Linken

Anhaltende Suchbewegungen nach einer funktionierenden Strategie und Praxis, das Fehlen einer geteilten Utopie und mangelnde gesellschaftliche Verankerung sind übergreifende Herausforderungen. Konflikte durch die Kriege in der Ukraine und Gaza tun ihr übriges. Undogmatische linke Politik ist in der Folge viel mit sich selbst beschäftigt und in der Öffentlichkeit wenig präsent. Das Bedürfnis nach verbindlicher Organisierung, Schlagkraft und Gegner*innenschaft zur herrschenden Politik kann damit nur noch schwer von antiautoritärer Seite aufgefangen werden – und sucht sich nun andere Wege.

Nicht nur in Deutschland hat es emanzipatorische Politik zuletzt schwer gehabt. Auch global konnte die antiautoritäre Bewegung in der vergangenen Dekade keinen Stich machen – und das trotz vieler Aufstände und Revolutionsversuche, erst in den Jahren nach der Weltfinanzkrise mit einem weltweiten Höhepunkt 2011, dann in den Jahren vor Beginn der Corona-Pandemie.

Der Journalist Vincent Bevins hat mithilfe zahlreicher Interviews in seinem Buch »If We Burn: The Mass Protest Decade and the Missing Revolution« untersucht, warum diese weltweiten Protestbewegungen der 2010er Jahre gescheitert sind. Im Interview mit ak fasste er die Gespräche mit den Aktivist*innen dahingehend zusammen, dass die antiautoritär geprägten Massenproteste und Platzbesetzungen in vielen Ländern zwar die Macht besaßen, Regierungen zu stürzen, letztlich aber nicht in der Lage waren, die Situationen zu nutzen und konterrevolutionären Gegenbewegungen standzuhalten. Die Risse, die sie in die Machtsysteme schlugen, wurden so von anderen geschlossen. Die Aktivist*innen haben laut Bevins politische Lehren gezogen: »Weg von Strukturlosigkeit und hin zu einer eher leninistischen Organisierungstradition – was nicht bedeutet, dass sie alle Leninist*innen geworden sind. Aber keine*r der Aktivist*innen kam mit dem Wunsch nach mehr Spontaneität aus dem Jahrzehnt hervor.« (ak 700)

Diese Differenzierung von Bevins ist wichtig, denn sie bedeutet eben nicht, dass besagte Aktivist*innen plötzlich autoritär geworden sind – sie haben gleichwohl die Notwendigkeit von schlagkräftiger Organisierung erkannt, um sich in den politischen Auseinandersetzungen nach dem Zusammenbruch der Ordnung behaupten zu können. Zudem schätzten die Aktivist*innen am Ende der Protestdekade auch die Bedeutung von Gewerkschaften, einem breiten Aktions- und Streikrepertoire und internationaler Organisierung höher ein als am Anfang. Bevins verweist darauf, dass die meisten seiner Gesprächspartner*innen trotz der Niederlagen die Hoffnung nicht aufgegeben haben und auf neue Gelegenheiten warten.

K-Gruppen reloaded?

In der aktuellen Situation zeigt sich auch eine historische Erfahrung: Die heutigen roten Gruppen erinnern nicht zufällig an die dogmatischen »K-Gruppen« der 1970er Jahre in Westdeutschland. Volkmar Wölk, Forscher zur extremen Rechten und ehemaliges K-Gruppen-Mitglied, hat bei Veranstaltungen mehrfach darüber berichtet, wie diese autoritär geprägten Organisationen als Reaktion auf den Verfall der Studierendenbewegung von 1968 und die Selbstauflösung des Sozialistischen Deutschen Studentenbundes 1970 entstanden waren. »In der Analyse aller dieser Gruppen war die Studierendenbewegung gescheitert und damit auch ihre Ideologie und Strategie von antiautoritärer Politik«, sagte Wölk.

Die verblassten Hoffnungen auf die Revolte, der Wegfall des organisatorischen Trägers, des SDS, und die Isolation von der restlichen Gesellschaft führten zu den Suchbewegungen, die unter anderem in den autoritären K-Gruppen mündeten. Auch in den heutigen roten Gruppen sieht Wölk eine Reaktion auf ein Scheitern, insbesondere der autonomen Bewegung und einer linksradikalen Politik, die über ihren Kiez kaum noch hinauskommt. Er plädiert für eine Auflösung des Widerspruchs: »Wir brauchen andere Formen von Organisierung, die Spontanität und Demokratie von unten zulassen und Aktivität und Schlagkraft fördern.«

Mit Blick auf die roten Gruppen wäre es in diesem Sinne fatal, die Antworten wieder im kompletten Gegenteil zu suchen – in der Verabsolutierung von losen Zusammenhängen und Spontanität oder in der Abwendung von Klassenpolitik. Ihr Auftreten zeigt vielmehr ein Begehren, für das es antiautoritäre Antworten braucht. Der Weg dafür könnte sein, die Defizite antiautoritärer Politik organisatorisch zu überwinden.

Das alles bedeutet gewiss nicht, dass das Streben nach Organisierung bereits an sich die Lösung wäre. Slave Cubela wies in ak 710 darauf hin, dass große Organisationen die Tendenz haben, sich vom Willen der Basis zu lösen, und dass Arbeiter*innen und Menschen mit weniger Ressourcen es immer schwer haben, gleichberechtigt zu partizipieren. Und es gibt auch historische Beispiele, wo etwa wilde Streiks ohne die Hilfe der Gewerkschaftsapparate bedeutende Siege erringen konnten. Auch hier gilt im Umkehrschluss wiederum, dass der bewusste Verzicht auf Organisierung die Chancen langfristig auch nicht verbessert.

Vincent Bevins’ Gespräche mit den Aktivist*innen der vergangenen Dekade machten eine historische Erfahrung deutlich: Es ist wichtig, in gesellschaftlichen Krisenmomenten demokratische Organisationen zu haben, die flexibel genug sind, um auf unvorhergesehene Ereignisse zu reagieren. Das bedeutet auch, innerhalb eines bereiten Aktionsrepertoires auf die Macht von Beschäftigten und Streiks zurückgreifen zu können.

Es macht wenig Sinn, insbesondere in Zeiten der Defensive, Programme am Reißbrett zu entwerfen. Eine gemeinsame Diskussion über die Fragen, wo man in diesen Zeiten hinwill, wie man sich als Klassenbewegung stärker aufstellen kann, wie man sich effektiv international vernetzt, und welche demokratischen Strukturen und Mittel geeignet sind, zumindest potenziell Massen zu erreichen, wäre dennoch wertvoll.

Sebastian Bähr

ist Journalist und lebt in Berlin.

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