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Das Lumpenproletariat der Bildschirme

Macht Liebe blind für Ausbeutung? In den USA haben sich Love-is-Blind-Darsteller*innen gegen die Zustände in der Dating-Show organisiert

Von Kornelia Kugler

Eine Frau von hinten blickt auf eine erleuchtete Tür, in der eine Männersilhouette zu sehen ist
Wer wartet hinter der Tür, der Partner fürs Leben oder ein Gewerkschafter und Klassenbruder? Foto: Paul Huttemann / Netflix © 2024 Netflix Inc.

Einer Person einen Antrag machen, ohne sie je gesehen zu haben – das ist die Prämisse der Reality-TV-Serie »Love is Blind« auf Netflix, von der nach großem Erfolg und Staffeln in diversen Ländern im Januar auch eine deutsche Edition erschien. »Love is Blind« soll kein trashiges »guilty pleasure« wie andere Dating-Shows sein, sondern ein Experiment über menschliche Gefühle und Beziehungen. In einer Welt, in der die Suche nach Liebe unter anderem durch Onlinedating stark von visueller Attraktivität bestimmt wird, will »Love is Blind« den Kandidat*innen die Möglichkeit bieten, die »inneren Werte« zuerst kommen zu lassen.

Die Teilnehmer*innen, 15 Männer und 15 Frauen, daten einander in sichtdichten Räumen, wo sie sich nur in Gesprächen kennenlernen und schließlich einen Heiratsantrag machen sollen. Erst danach treffen sie physisch aufeinander. Es folgen ein gemeinsamer Urlaub, Zusammenwohnen und Treffen mit Eltern und Freund*innen – nach vier Wochen geht es vor den Altar. Das ist wenig Zeit, um die »wichtigste Entscheidung des Lebens« zu treffen, Drama ist vorprogrammiert. Und weil immer wieder auch Begegnungen mit anderen Paaren auf dem Programm stehen, also auch mit Nebenbuhler*innen und Zweitfavorit*innen aus der Dating-Phase, steigern sich Momente des Zweifels, Eifersuchtsszenen und jede Menge Enttäuschungen bis zum Ende der Staffel kontinuierlich.

Die Hoffnung, dass Liebe über äußere Erscheinung, aber auch gesellschaftliche Normen und Zugehörigkeiten hinausgehen kann, ist der Unique Selling Point von »Love is Blind«. Die immer wieder gestellte Frage, »ob Liebe wirklich blind ist«, und die Verbindungen tatsächlich bestehen können, wird Mal um Mal schmerzhaft auf die Probe gestellt – zum Grusel und Vergnügen von uns, dem voyeuristischem Publikum.

Wenig Essen, viel Alkohol

Zum Gruseln sind auch die Bedingungen, unter denen die Serie hergestellt wird: Kandidat*innen der US-Show berichten, dass sie kaum Essen und Wasser bekamen, während sie mit Alkohol regelrecht überschüttet wurden. Einige berichten von Drehtagen, die bis zu 20 Stunden dauerten, was zu erheblichem Schlafmangel führte. Die Zustände seien bewusst herbeigeführt worden, um sie an ihre Grenzen zu bringen und mehr Drama zu erzeugen. Einige Kandidat*innen erklärten, dass sie während der Produktion in den Hotelzimmern festgehalten und rund um die Uhr überwacht wurden, ohne Zugang zu Kommunikationsmitteln oder persönlichen Gegenständen. Zwei Teilnehmerinnen erhoben Vorwürfe von sexuellen Übergriffen durch andere Kandidaten und gegen die Produktion wegen mangelnder Unterstützung nach Meldung der Vorfälle. Kandidat*innen werden in ihren Verträgen Geldstrafen bis zu 50.000 US-Dollar angedroht wurden, falls sie die Show ohne Zustimmung der Produktion verlassen. Die Produktionsfirmen Kinetic Content und Delirium TV haben die Vorwürfe zurückgewiesen und betont, dass sie strenge Protokolle zum Schutz der Teilnehmer*innen implementiert hätten.

Da die Kandidat*innen nicht als Beschäftigte, sondern als »Teilnehmer*innen« gelten, sind sie nicht durch Gewerkschaften geschützt, wie es bei traditionellen Schauspieler*innen der Fall ist.

Die Berichte ähneln denen über andere Reality-TV-Shows: Das Genre ist für seine ausbeuterische Schattenseite bekannt. Da die Kandidat*innen nicht als Beschäftigte, sondern als »Teilnehmer*innen« gelten, sind sie nicht durch Gewerkschaften geschützt, wie es bei traditionellen Schauspieler*innen der Fall ist. So können sie keine Tarifverträge und arbeitsrechtliche Vorschriften geltend machen, für die in der US-Unterhaltungsindustrie immer wieder gekämpft wird.

Bezeichnenderweise haben die beiden letzen Streiks der Autor*innen in Hollywood in den Jahren 2007/08 und 2023 (ak 695) den Boom von Reality-Formaten indirekt befördert: Da sie zwar meist durchgeplant und inszeniert, aber nicht auf Drehbücher (»scripts«) angewiesen sind, waren sie während des Streiks von 2007/08 eine schnelle und billige Lösung für das Fehlen von neuem, geskripteten Serienmaterial. Während der Streiks wurde der Markt mit Reality-TV-Shows regelrecht überschwemmt, die es ermöglichten, weiter zu produzieren, zu senden und zu streamen. Betroffen davon sind auch diejenigen, die hinter der Kamera arbeiten: Produzent*innen, Setarbeiter*innen oder Cutter*innen. Ohne eigene Gewerkschaft wurde der ungeregelte Status von nicht-geskripteten Produktionen während der Streiks zu ihren Ungunsten ausgenutzt.

Eine Klage mit weitreichenden Konsequenzen

In den letzten Jahren haben ehemalige Love-is-Blind-Kandidat*innen mehrere Klagen eingereicht. Ein Kandidat der zweiten Staffel argumentierte, dass die Aufwandsentschädigung von etwa 1.000 US-Dollar pro Woche bei 20-stündigen Arbeitstagen den Mindestlohn unterschreite. Er einigte sich mit Kinetic Content, Delirium TV und Netflix in einem Vergleich auf fast 1,4 Millionen Dollar, die zwischen Anwält*innen und etwa 144 ehemaligen Kandidat*innen und Crewmitgliedern aufgeteilt werden sollen. Er und andere ehemalige Kandidat*innen haben als Interessenvertretung das Unscripted Cast Advocacy Network (UCAN) gegründet; sie wollen erreichen, dass sich Reality-Darsteller*innen bestehenden Gewerkschaften anschließen können.

Auch in Deutschland ist der arbeitsrechtliche Status von Reality-Darsteller*innen ungeregelt, sie werden meist als Freiwillige oder, falls sie beruflich in der Branche tätig sind, als Selbständige betrachtet. Je nach Bekanntheitsgrad erhalten sie individuelle Gagen oder pauschale Aufwandsentschädigung. Anspruch auf Mindestlohn und Schutz vor Ausbeutung genießen sie auch hierzulande nicht.

Sind Teilnehmer*innen nicht nur Rohstoff, sondern Arbeiter*innen, weil sie an der Erstellung des Produktes Reality-TV beteiligt sind?

Zumindest in den USA könnte sich das dank der Klagen der Love-is-Blind-Kandidat*innen bald ändern: Im Dezember 2024 hat das National Labor Relations Board (NLRB), eine US-Behörde für die Durchsetzung und Überwachung von Arbeitsgesetzen, die Kandidat*innen von »Love is Blind« als Arbeitnehmer*innen eingestuft. Ein regionales Büro des NLRB in Minnesota hat zudem Klage gegen die Produktionsfirmen Kinetic Content und Delirium TV wegen Missachtung des National Labor Relations Acts eingereicht. Die Firmen hätten ihre Kandidat*innen »absichtlich unrechtmäßig« als Teilnehmer*innen statt als Arbeitnehmer*innen eingestuft, was sie daran hindere, sich gewerkschaftlich zu organisieren, um ihre Löhne und Arbeitsbedingungen zu verbessern, erklärte das NLRB.

In der Klage wird außerdem angeprangert, dass die Verträge, die die Kandidat*innen unterschrieben haben, »rechtswidrige Wettbewerbsverbote, Vertraulichkeitsregelungen und Bestimmungen zum Verbleib oder zur Bezahlung« enthielten und dass Prozesse angedroht wurden, falls sich die Kandidat*innen gewerkschaftlich organisieren würden. Den Kandidat*innen wurde verboten, über Details ihrer Verträge zu sprechen – bei Verstößen drohen Schadensersatzzahlungen in Höhe von vier Millionen Dollar. Durch die Klage des NLRB sollen die Produzent*innen gezwungen werden, die rechtswidrigen Verträge und Bestimmungen aufzuheben. Eine erste Anhörung ist für den 22. April in Milwaukee angesetzt.

Eine Gewerkschaft für Reality-Darsteller*innen?

Der Fall könnte die Tür für eine gewerkschaftliche Organisierung der Reality-TV-Branche öffnen. Ob das schlussendlich passieren wird, ist aber noch nicht sicher: Es stehen viele Anhörungen, Gerichtsverfahren und Berufungen an, bevor ein Urteil rechtskräftig ist. Und da der designierte Präsident Donald Trump sein Amt antreten wird, bevor die erste Anhörung stattfindet, kommt als weiterer Faktor hinzu, dass er voraussichtlich die Gremien des NLRB mit neuem, loyalen Personal besetzen wird.

In den Kommentarspalten unter Berichten über die Ausbeutung auf Reality-TV-Sets wird gerne diskutiert, ob die Teilnehmer*innen nicht hätten wissen müssen, wie es bei solchen Produktionen zugeht, sie hätten sich dem schließlich freiwillig ausgesetzt. Aber selbst wenn das der Fall ist: Können wir als Zusehende nicht nur Voyeur*innen, sondern auch solidarisch sein? Kann die Suche nach der großen Liebe auf Netflix frei nach Silvia Federici und ihrem berühmten Satz »They say it is love. We say it is unwaged work« als (re-)produktive Arbeit verstanden werden? Sind Teilnehmer*innen nicht nur Rohstoff, sondern Arbeiter*innen, »non-scripted actors«, weil sie an der Erstellung des wertschöpfenden Produktes Reality-TV beteiligt sind?

Im Interesse der Produktionsfirmen ist all das jedenfalls nicht: Als Arbeitnehmer*innen könnten die »Teilnehmer*innen« nicht mehr so leicht ausgebeutet werden, und die damit einhergehende Entfremdung würde das Produkt untergraben – Reality TV ohne (emotionale) Ausbeutung hat wenig Unterhaltungswert. Die meisten Kandidat*innen verstehen sich wahrscheinlich selbst nicht als Arbeiter*innen, sondern betrachten ihre Teilnahme als Selbstverwirklichung oder Mittel zum Zweck.

So oder so: Sollten Reality-TV-»Teilnehmer*innen« dank der NLRB-Klage als Arbeitnehmer*innen eingestuft werden, hätte das erhebliche Konsequenzen. Die Kosten und der Aufwand der Produktionen würden sich drastisch erhöhen, sie wären weit weniger profitabel. Die non-scripted actors hätten Anspruch auf Mindestlohn, Arbeitszeitregelungen, soziale Absicherung und Kollektivschutz – sie wären nicht mehr das Lumpenproletariat der Bildschirme.

Kornelia Kugler

ist Filmemacherin und Teil des queerfeministischen Filmkollektivs Systrar Productions.

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