Bewusstlose Frauen
Der Pelicot-Prozess wirft ein grelles Licht auf ein patriarchales Massenphänomen, das tiefe Spuren in der Kulturgeschichte hinterlassen hat: den Missbrauch heimlich betäubter Opfer
Von Lea Fauth
Einen Tag vor dem Gerichtsurteil um die Massenvergewaltigung an Gisèle Pelicot erschien in Deutschland eine Recherche von Strg_F. Darin wird deutlich: Die hundertfachen Betäubungen und anschließenden Vergewaltigungen an der Rentnerin Pelicot in der südfranzösischen Gemeinde Mazan sind kein Einzelfall.
In der Strg_F-Recherche werden mehrere Chatgruppen auf Telegram aufgedeckt, unter anderem eine Gruppe mit über 70.000 Mitgliedern aus allen möglichen Ländern. Dem Anschein nach besteht sie hauptsächlich aus männlichen Nutzern, die sich darüber austauschen, wie sie ihre Partnerinnen – oder andere Frauen – bis zur völligen Bewusstlosigkeit betäuben können, um unbemerkt sexualisierte Gewalt an ihnen auszuüben. Manche dokumentieren ihre Taten dann live in der Chatgruppe. Ein als »Haarserum« getarntes Produkt lässt sich problemlos im Internet bestellen und erweist sich als Betäubungsmittel.
In Frankreich wiederum bestätigt das Pariser Zentrum für psychoaktive Substanzen (AP-HP): Seit der Medialisierung des Falls Pelicot melden sich mehr und mehr Frauen, die sich ihre Erinnerungslücken oder andere Zwischenfälle nun besser erklären können. Sie hegen den Verdacht, ähnliches wie Gisèle Pelicot erlebt zu haben. In München gibt es aktuell ein Verfahren gegen einen Arzt, der in 19 Fällen sexualisierte Gewalt an Patientinnen ausgeübt haben soll, die unter Narkose standen.
Pygmalion und Sexroboter
Die bewusstlose, willenlose Frau als begehrenswertes Objekt zieht sich als Topos seit Jahrtausenden durch die westliche Kultur. Im griechischen Mythos des Pygmalion schafft sich der gleichnamige Bildhauer eine elfenbeinerne Skulptur, die er Galathée nennt. Während andere Frauen ihm sexuell zu freizügig sind, verliebt Pygmalion sich in die starre und stumme Statue, die zu keinen eigenen Bedürfnissen oder Gemütsäußerungen fähig ist. Später bittet Pygmalion die Liebesgöttin Aphrodite, seiner Kreation Leben einzuhauchen. Die sündhaften Frauen aus Zypern erstarren dagegen zu Stein, als müssten sie für ihre überbordende Lebendigkeit bestraft werden.
»Die Eva der Zukunft«, ein Roman des französisches Autors Villiers de l’Isle-Adam aus dem Jahr 1886, gilt als eines der Werke, die das Science-Fiction-Genre mitbegründet haben. Darin verliebt sich Lord Ewald in die wunderschöne Schauspielerin Alice, die ihm jedoch nicht feinsinnig und sittlich genug ist. Der Ingenieur Thomas Edison baut ihm daraufhin den Körper von Alice nach: Nun können die beiden Männer diesem Roboter einen Charakter ganz nach ihrem Gusto verpassen.
Man könnte aus aktueller Zeit auch die Sexpuppen sowie mit KI ausgestatteten Sexroboter erwähnen, die meistens weibliche Körper darstellen und mit denen manche Männer in einer »Beziehung« zusammenleben.
Die Vorstellung einer gefügigen und charakterlosen Puppenfrau wird hier begleitet von dem Phantasma, dass der interagierende Mann im gleichen Zug auch der Schöpfer dieses Wesens ist – auch bei den »RealDolls« bestimmen die Kunden, wie die Puppe aussehen wird. Somit kann er sich nicht nur mächtig, sondern auch schöngeistig und göttlich wähnen. Er hat als Schöpfer die komplette Kontrolle nicht nur über den Körper dieser Frau, sondern auch über dessen Entstehen: Über das, was er überhaupt sein darf. Nicht nur im Deutschen ist übrigens das Wort »Puppe« ein sexuell konnotiertes Kosewort für Frauen.
Projektionsflächen des männlichen Blicks
Das Motiv der schlafenden oder bewusstlosen Frau ist dem der Puppe oder Statue verwandt und ähnlich präsent in Kunst und Kultur. Die Frau hat in diesem Zustand ebenfalls keinen eigenen Willen, keine Persönlichkeit, sondern ist ganz und gar Projektionsfläche des männlichen Blicks – quasi als Ersatz dafür, dass er sie in wachen Zustand nicht dominieren kann. Die Oper »Madame Butterfly« von Giacomo Puccini basiert auf den Memoiren (»Madame Chrysantème«) des französischen Marineoffiziers Pierre Loti, der in Nagasaki eine japanische junge Frau auf Zeit heiratet. Schnell ist er enttäuscht, weil sie aus einem ihm unerklärlichen Grund immer so traurig guckt. Am liebsten, schreibt er, sieht er sie deshalb schlafend.
Seit der Medialisierung des Falls Pelicot melden sich beim Pariser Zentrum für psychoaktive Substanzen mehr und mehr Frauen, die sich ihre Erinnerungslücken nun besser erklären können.
Viel bekannter ist die 15-jährige »Dornröschen«, die aus ihrem hundertjährigen Schlaf wachgeküsst wird, ohne jemals gefragt worden zu sein, was sie eigentlich so vorhatte im Leben und ob sie überhaupt einen Prinzen wollte. Oder Schneewittchen, die schon im gläsernen Sarg liegt, als noch so ein Prinz sich in sie »verliebt« und die Zwerge darum bittet, die vermeintliche Leiche behalten zu dürfen – wofür auch immer. Überhaupt werden tote Frauen in der Kunst in einem absurden Ausmaß ästhetisiert, wie etwa das »Ophelia«-Gemälde von Millais. Schneewittchen und Dornröschen haben darüber hinaus gemeinsam, dass sie beide mit dem Diminutiv »-chen« benannt werden, woraus sich als Pronomen ein Neutrum ergibt: Sie werden »es« genannt, womit die Verdinglichung auch sprachlich vollzogen wird – ähnlich wie bei »Mädchen«.
Selbst der sonst oftmals emanzipatorische Regisseur Pedro Almodóvar erzählt noch im Jahr 2000 in »Habla con ella« relativ empathisch von einem Krankenpfleger, der sich in eine Patientin verliebt. Die liegt im Koma und er vergewaltigt sie in diesem Zustand auch. Rammstein-Sänger Till Lindemann wiederum, von dem man nicht schreiben darf, was er wahrscheinlich getan hat, schrieb Gedichte mit Titeln wie »Rohypnol ins Glas« und Verse wie: »Ich schlafe gern mit dir, wenn du schläfst / Wenn du dich überhaupt nicht regst«.
Gisèle Pelicots öffentliches Sprechen
Bei den Vergewaltigungen an Gisèle Pelicot und bei den vermutlich zahlreichen entdeckten und unentdeckten anderen Vergewaltigungen unter Betäubung kommt noch ein weiterer Aspekt hinzu. Nicht nur machen die Täter sich ihre Opfer durch die heimlich verabreichten Betäubungsmittel gefügig; nicht nur machen sie sie zu einem Wesen, das keine Gefühle und keinen Willen mehr äußern kann. Sondern es scheint darüber hinaus explizit die Absicht und der »Kick« daran zu sein, etwas gegen den Willen der Betroffenen zu tun. »À son insu« hieß der digitale Ordner, unter dem Dominique Pelicot die Tausenden Aufnahmen von den Vergewaltigungen seiner damaligen Ehefrau Gisèle gespeichert hatte: »Ohne ihr Wissen«. Während bei den bewusstlosen Dornröschens und Schneewittchens der Wille ausgeblendet ist, besteht die Steigerung hier also darin, dass ein Wille angenommen wird, der in der Bewusstlosigkeit übergangen werden kann.
Natürlich gibt es sexualisierte Gewalt von Männern an Männern oder von Frauen an Männern, an Kindern, usw., und gerade die Abwesenheit eines entsprechenden kulturellen Stereotyps sorgt dafür, dass solche Gewalt umso mehr tabuisiert ist. Betrachtet man die aktuell auffliegenden Fälle im Lichte des kulturellen Topos der bewusstlosen Frau, wird aber in erster Linie das heteronormative Grundschema deutlich, das solchen Taten zugrunde liegt.
Die Frau ist »das absolute Andere ohne Wechselseitigkeit und unter Verleugnung der Erfahrung, dass sie ein Subjekt, ein Mitmensch ist«, schrieb Simone de Beauvoir 1949 in »Das andere Geschlecht«. Seitdem hat es beträchtliche feministische »Wellen« und Errungenschaften (sowie Backlashs) gegeben. Es ist schwer feststellbar, ob die heimliche Verabreichung von Giften schon immer so verbreitet war wie es jetzt zu Tage tritt, oder ob diese Taten in ihrer Massenhaftigkeit ein Spezifikum unserer Zeit sind, wo die uralte Ästhetik erst zur Umsetzung kommt: Als könnten Männer die Emanzipation von Frauen nicht aushalten, wird die Frau durch den heimlich herbeigeführten Schlaf wieder zum absoluten Objekt gemacht.
Über das Muster, ein »absolutes Anderes« zu schaffen, schrieb und sprach auch James Baldwin viel. Weiße müssten herausfinden, »warum es für sie überhaupt notwendig war, dass es einen N* gibt. Denn ich bin kein N*. Ich bin ein Mensch«, so hört man Baldwin im Film »I‘m not your Negro« von Raoul Peck sprechen. »Wenn ich hier nicht der N* bin und ihr Weißen ihn euch ausgedacht habt, dann müsst ihr herausfinden, warum.«
Man muss die Unterdrückungsgeschichten nicht gleichsetzen, um dennoch eine Parallele erkennen zu können: Die Tendenz in unserer Gesellschaft, dieses »absolute Andere« überhaupt setzen zu wollen und sich dafür Kategorien auszudenken. Und zumindest Baldwins Frage – »warum braucht ihr das?« – also dieses absolut Andere – ist es Wert, auch in Bezug auf die Objektivierung von Frauen gestellt zu werden.
Die Objektivierung des anderen dient der eigenen Subjektwerdung. Ein Subjekt, das ein anderes Subjekt auf Augenhöhe gar nicht aushält, und im Falle der Roboter und Statuen noch das Bedürfnis hat, sich als Schöpfer zu inszenieren, kann offenbar nur in dieser Verdinglichung des anderen ein Selbstbewusstsein konstituieren. Die völlige innere Leere eines solchen »Subjekts« und seinem Machtgebaren schimmert durch.
Der Prozess und die Urteile im Fall Gisèle Pelicot haben auch die Frage nach Gerechtigkeit und Widerstand gegen solche patriarchale Gewalt und Entmenschlichung auf die Tagesordnung gesetzt. Was kann ein Gerichtsprozess? Dass wir Täter*innen einsperren, ist letztlich nur Ausdruck der Ratlosigkeit darüber, wie wir mit unseren als Gesellschaft eigens hervorgebrachten Abgründen umgehen wollen. Viel wertvoller ist also der Prozess als solcher. Zum einen bringt er schroffe Abgründe nicht zuletzt der Täterpsychologie zum Vorschein, die man kritisch als Teil eines kollektiven Unterbewusstseins begreifen müsste. Zum anderen hat Gisèle Pelicot ihr eigenes öffentliches Sprechen überhaupt erst ermöglicht. Und damit das von anderen. Die Sichtbarmachung und Aneignung dieses Sprechens können nur Teilelemente eines Kampfes sein – aber sie sind ein fundamentaler Bestandteil dessen und insofern ein Meilenstein.