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Türkischer Vormarsch

Nach mehr als 50 Jahren wurde das Assad-Regime gestürzt – in Rojava mischt sich die Freude darüber mit Ängsten der Bevölkerung vor einer Übernahme durch die Türkei

Von Anita Starosta

Viele, die bereits bei früheren türkischen Angriffen vertrieben worden waren, mussten erneut fliehen – diesmal vor der Syrischen Nationalarmee (SNA), die von der Türkei kontrolliert wird. Foto: Kurdischer Roter Halbmond (Heyva Sor)

In ganz Syrien fielen am 8. Dezember die Statuen von Hafiz und Bashar Al-Assad, Plakate wurden heruntergerissen, ihre Bilder verbrannt ­– in Aleppo, Damaskus, Qamishlo oder Hassakeh. Die Konterfeis der Assads sollten von der Ewigkeit ihrer Herrschaft künden. Dass diese Ewigkeit ein so schnelles Ende findet, hatte niemand erwartet. Der Freudentaumel in Syrien und ihrer Diaspora war umso größer. Mit dem Jubel mischte sich schnell auch Schmerz. Mit der Öffnung der Türen der Gefängnisse und Folterstätten wurde die unfassbare Brutalität des Regimes auf die Straßen gespült, Bilder von Rettungsaktionen und den seit Jahrzehnten Inhaftierten werden sich für immer einbrennen.

Besonders für ethnische und religiöse Minderheiten im Land brachte der Durchmarsch der islamistischen Milizen viel Angst und Unsicherheit mit sich. Inbesondere bei Kurd*innen wurden Erinnerungen an die Zeit unter der IS-Herrschaft wach. Nicht zu Unrecht, denn es dauerte nicht lange, bis die Söldner der türkisch-kontrollierten Syrischen Nationalarmee (SNA) (Syrian National Army) die Gunst der Stunde nutzten. Mit Beginn der Offensive der HTS rückte die SNA aus dem türkisch besetzten Afrîn zunächst weiter vor – in die Region Til Rifat, eine kleine kurdische Enklave, wo seit 2018 über 100.000 Menschen, die aus Afrîn stammen, in informellen Siedlungen und zwei Flüchtlingslagern in Shehba lebten. Nach dem großen Erdbeben im Februar 2023 suchten tausende Familien aus dem kurdischen Stadtteil Sheikh Masqoud hier ebenfalls Zuflucht, weil ihre Häuser durch das Erdbeben komplett zerstört waren. Permanent eingeschlossen von den türkischen Milizen im Norden und dem syrischen Regime im Süden waren die Lebensbedingungen nie gut und die Bedrohung durch die türkischen Söldner sehr präsent. Dennoch kam diese erneute Vertreibung unerwartet.

Kurdische Bevölkerung auf der Flucht

Zehntausende Menschen harrten mindestens zwei Tage ohne Nahrung und unter freiem Himmel in Til Rifat aus, bis die Syrischen Demokratischen Kräfte (SDF) einen Fluchtkorridor verhandeln konnten. In der Nacht vom 2. auf den 3. Dezember erreichten so mindestens 70.000 Menschen das Gebiet der Selbstverwaltung in Rojava/Nordsyrien. Zehntausende kamen in den darauffolgenden Tagen nach. Doch etwa 10.000 Menschen wurden einige Tage von den SNA-Milizen auf der Flucht festgehalten. Schreckliche Berichte über Folter und Hinrichtungen gibt es aus diesen Tagen von Betroffenen.

Auf dem Gebiet der Selbstverwaltung östlich des Euphrat, in den Städten Tabqa und Raqqa, wurden für die Ankommenden erste Anlaufstellen von NGOs errichtet, die vollkommen überlaufen waren. Der Kurdische Rote Halbmond, die lokale Nothilfeorganisation, versorgte die Menschen in mobilen Kliniken. Die meisten waren von der überstürzten Flucht sehr erschöpft, traumatisiert und unterversorgt. Den Helfer*innen fehlte es an allem: an Medikamenten, Nahrung und Zelten. Mehrere Kinder starben in den ersten Tagen an Unterkühlung – die Nächte waren bitterkalt und es gab nicht ausreichend Decken oder warme Kleidung. In den von den Helfer*innen errichteten Notlager sind die hygienischen Bedingungen schlecht und Krankheiten breiten sich aus. Es gibt nicht ausreichend Hilfsgüter für den großen Bedarf nach dieser unerwarteten Fluchtwelle, auch wenn die Bevölkerung solidarische Unterstützung leistet. Der Feldzug der SNA-Milizen machte dort keinen Halt.

Die Einnahme der westlich des Euphrat gelegenen Stadt Minbic am 11. Dezember bestätigte die Angst und die große Unsicherheit vieler Bewohner*innen in den kurdischen Gebieten. Flankiert durch Artilleriebeschuss und permanente Drohnenangriffe des türkischen Militärs eroberten die Milizen die Stadt innerhalb weniger Tage. Dabei zerstörten sie Krankenhäuser, es kam zu brutalen Übergriffen und Verfolgung. Seitdem verschanzt sich ein großer Teil der Bevölkerung in ihren Häusern. Die Einnahme der Stadt war ein deutliches Zeichen der Türkei, die damit ihre Bereitschaft und Fähigkeit signalisierte, innerhalb kurzer Zeit auch weitere Gebiete der Selbstverwaltung einzunehmen. Vor einem weiteren Vormarsch auf die Stadt Kobanê, die für ihren siegreichen Widerstand gegen den IS und den Beginn der Rojava-Revolution bekannt ist, konnte nur ein von den USA verhandelter Waffenstillstand die Milizen bewahren. Der türkische Präsident Erdogan plant schon lange, diese Gebiete in Grenznähe zur Türkei einzunehmen und so den Korridor zu dem besetzen Gebiet rund um Serêkaniyê zu schließen. Das hätte katastrophale Folgen für Kobanê.

Auch im Süden der selbstverwalteten Gebiete, rund um die Stadt Deir ez-Zor, ist es zu Aufständen gekommen – dort ist vor allem der IS noch aktiv und wird von den Kräften der Selbstverwaltung bisher in Zaum gehalten. Für die von der Selbstverwaltung kontrollierten Gebiete ist die Gefahr einer türkischen Übernahme und Aufstände der Milizen nahestehende Bevölkerungsgruppen noch lange nicht gebannt. Es wird nun um eine friedliche Koexistenz mit der HTS gehen, die sich zunächst friedfertig gegenüber Minderheiten im Land gibt. Ein erstes, gutes Zeichen dafür ist, dass die Selbstverwaltung ihre Existenz unter der neuen HTS Regierung bereits anerkannt hat. Solange die Schutzmacht USA und die Verbündeten der Anti-IS-Koalition noch in Nordsyrien sind, gibt es die Möglichkeit, Druck auf die Türkei auszuüben. Sollte Trump die Ankündigungen wahr machen, sich aus Syrien zurückzuziehen, könnte es für Rojava schlecht ausgehen.

Für ein freies Syrien

Wie wäre es von deutschen Beamten und der deutschen Politik auch anders zu erwarten: Noch während Freiwillige, Angehörige und Suchtrupps dabei sind, unterirdische Zellentrakte in Assads »Schlachthaus« aufzubrechen, um die dort seit Jahren inhaftierten Menschen befreien zu können, diskutiert die deutsche Politik über Abschiebungen. Gleich am Morgen nach Assads Sturz setzte das BAMF die Entscheidungen über Asylverfahren für Syrer*innen aus.

Doch anstatt lauthals über Abschiebungen nach Syrien zu schwadronieren, sollte sich die deutsche Politik für die so dringend benötigten Hilfslieferungen einsetzen und endlich die türkische Regierung unter Druck setzen, die Angriffe zu stoppen. Aus dem Auswärtigen Amt ist zu vernehmen, dass alle Bevölkerungsgruppen am Wiederaufbau eines neuen Syriens beteiligt sein müssen und Minderheitenrechte zu wahren sind. Daran wird sich die Bundesregierung messen lassen müssen. Es hätte so lange schon die Möglichkeit in der Syrienpolitik gegeben, die Selbstverwaltung als einen politischen Akteur anzuerkennen oder Projekte umzusetzen. Doch die Bindungen zum NATO-Partner Türkei waren bekanntermaßen stärker.

In Syrien werden die Macht- und Handlungsspielräume der verschiedenen geopolitischen Kräfte schon seit Jahren (militärisch) aus- und verhandelt.

Zu verstehen sind die Angriffe in Nordsyrien nur im Kontext des anhaltenden Krieges in Nahost, der globalen Kriegsregime und einer umkämpften, sich neu herausbildenden multipolaren Weltordnung. In Syrien werden die Macht- und Handlungsspielräume der verschiedenen geopolitischen Kräfte schon seit Jahren (militärisch) aus- und verhandelt. Die Schwächung der Hisbollah und des Irans – beides wichtige Stützen des Assad-Regimes – durch den Krieg mit Israel und die Verlagerung der russischen Kräfte im Ukraine-Krieg haben zu einem günstigen Moment für die HTS geführt, diese große Offensive zu starten und Assad zu stürzen. Der Türkei, die einen Dauerkrieg gegen die Kurd*innen führt und syrische Flüchtlinge aus der Türkei zurück nach Syrien abschieben möchte, kamen diese Entwicklungen zugute.

Die Beendigung der türkischen Angriffe auf Nordsyrien, der Aufbau demokratischer Institutionen in Syrien und der Wiederaufbau des Landes braucht internationale Solidarität – auch für die Diaspora. Die Syrer*innen selbst haben sich aus 50 Jahren Diktatur befreit, dreizehn Jahre hat der Umsturz gedauert, jetzt braucht es Zeit und Unterstützung für den Neuanfang.

Anita Starosta

ist Referentin für Syrien, Irak, Türkei in der Öffentlichkeitsabteilung bei medico international. Zuletzt war sie im April 2024 in der Region.

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