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|ak 710 | Diskussion

In die Sackgasse diskutiert

In komplexen und bewegten Zeiten neigen alle Menschen zu einfachen Antworten, um nicht ohnmächtig ausgeliefert zu sein – auch Linke

Von Elfriede Müller

Graffiti an einer beigen Wand: No Borders No Nations, danach ein Anarchie A
Unter Linken gibt es mal wieder Streit: Braucht es Befreiungsnationalismus oder Antinationalismus? Foto: Ittmust/Flickr, CC BY-SA 2.0

Eine friedliche Lösung für die sich unversöhnlich gegenüberstehenden Seiten im Nahostkrieg liegt ferner denn je. Seit dem Scheitern des Osloer Abkommens 1993 ging es eigentlich nur noch bergab. Heute hat Israel die rechteste Regierung seit dem Bestehen des Staates, die PLO – einst die linke Hoffnungsträgerin – ist zu einer undemokratischen, repressiven Organisation und Vollstreckerin israelischer Besatzung im Westjordanland verkommen. Gaza wird seit 2006 von der Hamas – einer religiös-fundamentalistischen Gruppe – regiert. Die palästinensische Zivilbevölkerung wird seit Jahrzehnten instrumentalisiert, ihr Überleben ist gefährdet, ihre Perspektive mehr als unklar. Auch die internationale Linke wird seit den 1970er Jahren durch den Nahostkonflikt aufgerieben. Finstere Zeiten also, um Frieden, Gleichberechtigung beider Seiten und palästinensische Staatlichkeit – ob eine Zwei- oder Einstaatenlösung – zu begründen.

Deutsche Zustände

Mit der mangelnden emanzipatorischen Alternative auf beiden Seiten fällt es Linken schwer, eine eigenständige und zukunftsweisende Position zu formulieren, was zwar mehr als verständlich ist, gleichwohl aber bitter nötig wäre. Denn sonst, das erleben wir gerade, entsteht gegenseitiges Misstrauen, gibt es Spaltungen allerorten, Vorwürfe und Zuschreibungen, wer nicht mehr zur Linken gehört, gar antisemitisch oder antisemitisch anschlussfähig argumentiert. Parallel dazu findet eine autoritäre Formierung auf internationaler Ebene und auch ausgeprägt in der Bundesrepublik statt, die sich in der Repression gegen jede Art von linken Strukturen äußert und dazu auch den Antisemitismus instrumentalisiert. Eine vertrackte Lage!

Die im November im Bundestag abgestimmte Antisemitismus-Resolution auf Grundlage der IHRA-Definition ist ein solches Beispiel und ein bedingungsloses Bekenntnis zur aktuellen israelischen Regierung. Jegliche Kritik am derzeitig ethnisch-religiös definierten jüdischen Staat kann nun von deutschen Behörden als antisemitisch eingestuft werden. Die globale Rechte dagegen, die die israelische Armee für ihren Krieg bewundert, ist von der Resolution nicht tangiert, geschweige denn die sogenannte deutsche Mitte, die längst nach rechtsaußen gerückt ist. Menschen allerdings, die für gleiche Rechte im Nahostkonflikt eintreten, werden, wie es auch der Autor Tomer Dotan-Dreyfus in einem Interview dieser Zeitung vom Oktober formulierte, der Polizeiwillkür und Repression ausgeliefert. Die allgemeine Verwirrung und der rassistische Drive in der deutschen Innenpolitik verengen Antisemitismus fast nur auf Einwander*innen und Linke, im Fokus steht die Palästina-Solidaritätsbewegung. Doch diese ist heterogen und schwer auf einen Nenner zu bringen.

Die Linke benötigt eigene und neue Narrative, die sich nicht an reaktionären Regierungen oder Bewegungen orientieren.

Der politische Wille, Antisemitismus nur bei bestimmten gesellschaftlichen Gruppen zu identifizieren, hat Methode; die damit einhergehende Schuldabwehr sollte von der Linken ins Zentrum ihrer Diskussion gestellt werden. Schuldabwehr ist ein Konzept der Kritischen Theorie nach 1950 und meint den Antisemitismus nach und wegen Auschwitz. Schuldabwehr verlagert die Verantwortung für Antisemitismus, der sich in der gesamten Gesellschaft befindet, auf marginalisierte Gruppen, um sich selbst von der Verantwortung zu befreien. Antisemit*innen sind immer die anderen. Nicht zuletzt deshalb muss der Kampf gegen Antisemitismus und Rassismus miteinander verbunden werden, denn das eine geht ohne das andere nicht: Die Koppelung der vermeintlichen Antisemitismusbekämpfung mit Rassismus, die Bekämpfung des »importierten Antisemitismus« also, ist neben offenem Rassismus ein klassisch antisemitisches Stereotyp zur Abwehr von Schuld. Zu den Bemühungen, dem etwas entgegenzustellen, gehört auch der Kampf für die Akzeptanz palästinensischer Geflüchteter in Deutschland mit staatsbürgerlichen Rechten für diejenigen, die es wünschen.

Die Eskalation des Nahostkonfliktes in einen zerstörerischen Krieg, der eine zweite Nakba, wenn nicht Schlimmeres zur Folge haben wird, macht es schwer, rein ideologiekritisch mit Antisemitismus- oder Rassismustheorien eine Antwort zu finden. Die neue Weltlage bringt seit einigen Jahren so viele negative Überraschungen und Entwicklungen mit sich, dass sich die Linke nicht nur in der Frage von Antisemitismus und Muslimfeindschaft neu aufstellen muss. Zu dieser Frage gibt es seit den 1990er Jahren zwei vermeintlich unversöhnliche Lager. Wie immer geht die binäre Gegenüberstellung nicht ganz auf – neben vielen Verwerfungen und Spaltungen gibt es fließende Übergänge, die zu manchen schlauen Texten geführt haben.

Nun ist die Linke so schwach wie nie zuvor und ward selten so dringend gebraucht wie jetzt. Wie kann eine Linke also zum einen eine solidarische Auseinandersetzung zum Nahostkonflikt führen, ohne binäre Zuschreibungen, ohne selbst das eine oder andere »Lager« bedingungslos zu unterstützen?

Reine Definitionssache?

Auch linke Erklärungen für den Nahostkonflikt bieten Anknüpfungspunkte an Antisemitismus, wenn sie sich etwa auf vorgefundene nationalistische Narrative einlassen und die Entstehung des Konfliktes sowie des Staates Israel allein aus der (anti-)imperialistischen Perspektive heraus erklären. Diese abstrahiert, dass der Zionismus genauso wie der palästinensische Nationalismus eine nationale Befreiungsbewegung darstellte und die gängigen Ausgrenzungen und Ausschlüsse aller Nationalismen aufweist. Die europäische Judenvernichtung wird häufig wiederum nicht in die Überlegungen mit einbezogen. Diese verengten Erklärungen dienen somit nicht dem historischen Verständnis der aktuellen Lage.

Die Definition des Hamas-Attentats als legitimen Widerstand gegen Apartheid abstrahiert wiederum vom Inhalt und der Art der Gewaltausübung gegen Zivilist*innen. Auch wenn die Hamas militärisch und politisch dem israelischen Staat und seiner Armee unterlegen ist, wird sie noch nicht zu einem Verbündeten linker Palästinasolidarität. Die Linke benötigt eigene und neue Narrative, die sich nicht an reaktionären Regierungen oder Bewegungen orientieren.

Wie weiter?

Aktuell werden Wissenschaft und Kultur von rechten Medien und Teilen der Politik als dubiose Gegnerinnen auf dem Feld ausgemacht. So entstanden auch Listen mit politisch unbequemen Wissenschaftler*innen, denen die Förderung entzogen werden soll; bei kulturellen Projekten ist das bereits der Fall. Im gemeinsamen Vorgehen linker Kräfte gegen die ideologische und repressive Kampagne der Bundesregierung könnte eine erste Diskussionsbasis geschaffen werden, in der sich alle, in emanzipatorisch-sozialistischer Tradition, nicht als Gegner*innen, sondern als Bündnispartner*innen begreifen.

Für eine produktive Diskussion ist hilfreich anzuerkennen, dass Antisemitismus nicht im luftleeren Raum für alle Konstellationen definierbar ist, da dieser in seiner langen Existenz viele Entwicklungen erfahren hat. Definitionen können nie für alles gelten, sondern sind nur fallbezogen und kontextabhängig zu klären. Eine der gemeinsamen Grundlagen für eine linke Debatte sollte die Forderung sein, bei der Entwicklung von Antisemitismusdefinitionen die Autonomie von Wissenschaft, Kultur und Medien klar zu respektieren. Genau dies ist mit der vom Bundestag verabschiedeten Resolution in Frage gestellt worden. Stattdessen sollte auf gesellschaftliche Selbstaufklärung gesetzt werden: Universitäten, Kultureinrichtungen, andere Bildungsstätten und linke Gruppen sollten sich selbst ihre maßgeschneiderten Fortbildungen aussuchen. Gedenkstätten müssen stärker in ihrer Arbeit unterstützt werden, die Verbindung zwischen Antisemitismus und Rassismus zu vermitteln. Außerdem darin, historische Bezüge deutlicher herauszuarbeiten, die für einen aktuellen Antifaschismus nutzbar sind.

Statt sich in Definitionsdebatten zu verlieren, muss versucht werden, die fatale Situation umzukehren, in welcher die Frage des Antisemitismus zerstörend auf linke Strukturen wirkt. Um den Nahostkrieg jenseits von Antisemitismus- und Rassismustheorien zu verstehen, sollte der Blick auf einen anderen blinden Fleck der Linken gerichtet werden: den Nationalismus.

Nationalismus ist seit jeher der Träger von Antisemitismus wie auch Rassismus und legitimiert den Konflikt. Juden*Jüdinnen sind im Nationalismus in der Regel »das Dritte«, das nicht zur Nation gehört, auch wenn sie Staatsbürger*innen der jeweiligen Länder sind. Da sich die Nation über das Verhältnis von Zugehörigkeit und Nichtzugehörigkeit definiert, sind Migrant*innen per se nicht zugehörig, was sich, je nach Status, durch weniger Rechte, Teilhabe und rassistischen Ausschluss äußert. Antisemitismus und Rassismus werden »auf links gewendet«, wenn man sich zu einem nationalen Kollektiv zuungunsten des »Anderen« bekennt. Der israelische Nationalismus schließt durch seine ethnisch-religiöse Verfassung Nichtjuden*jüdinnen aus, während die Hamas den Dschihad gegen Israel zur höchsten Form der Vaterlandsliebe und die Mitglieder der Hamas zu den einzig wahren Patrioten erklärt.

Es geht darum, den Nahostkrieg als einen anhaltenden politischen Konflikt zu erkennen, der nicht mit Antisemitismus- oder Rassismustheorien zu lösen ist.

De facto stehen sich im Nahostkrieg zwei konkurrierende Nationalismen gegenüber, der israelische und der palästinensische, die nur ihre eigenen Ansprüche auf das geografische Territorium gelten lassen. Demzufolge florieren antisemitische, antiarabische und islamfeindliche Muster. Doch wenn das Erklärungsmuster für den Konflikt nicht im Antisemitismus und Rassismus liegt, sondern in den Wechselbeziehungen zwischen den Bewohner*innen dieses Ortes, den früheren und heutigen, die nicht mehrheitlich aus Europa, sondern aus anderen Ländern migriert sind, müssen sich politische Lösungen statt ideologische Zuschreibungen überlegt werden.

Es geht darum, den Nahostkrieg als einen anhaltenden politischen Konflikt zu erkennen, der nicht mit Antisemitismus- oder Rassismustheorien zu lösen ist, sondern mit der materiellen und juristischen Gleichberechtigung aller dort lebender Menschen. Das setzt voraus, dass in dem Konflikt das Leben der Einzelnen, ob aus Palästina oder Israel, gleich viel wert ist und auch das Ungleichgewicht beider Seiten – ob ökonomisch oder militärisch – nicht aus den Augen verloren wird. Denn die Forderung nach Gleichheit und Gleichberechtigung ist eine genuin linke Notwendigkeit und die Grundlage linken Denkens und Handelns überhaupt. Die Vorherrschaft einer ethnischen Gruppe über die andere – das Wesen des Nationalismus in all seinen Schattierungen – ist eine zutiefst reaktionäre Ideologie, die allem linken Gedankengut diametral entgegensteht. Die Versöhnung der beiden Kriegsparteien wird mit jedem Tag schwieriger, die der Krieg andauert, aber auch das sollte ein linkes Ziel sein. Und auch wenn der Konflikt sich nicht über Antisemitismus- und Rassismus-Interpretationen lösen lässt, so sind sie doch Bestandteile des Konfliktes.

Genau wie im Ukrainekrieg wäre eine genuin linke Position, so schnell wie möglich aus der Kriegslogik auszusteigen und sich dafür einzusetzen, dass Deutschland keine Waffen mehr liefert und das Morden ein Ende hat. Genauso wichtig ist es, sich vom binären identitären Denken grundsätzlich zu verabschieden. Es macht nicht nur unglücklich, sondern führt zu einem verengten Blick auf die Welt und Unverständnis dessen, was in ihr passiert. Nationalismus – egal von welcher Seite und angeblich welcher historischen Berechtigung – ist keine Lösung für irgendwas.

Elfriede Müller

ist Teil des jour fix berlin.

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