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Friedensprozess reloaded?

Nach 43 Monaten totaler Isolation durfte Abdullah Öcalan, der inhaftierte Vorsitzende der kurdischen Arbeiterpartei PKK, erstmals besucht werden – ein neues Fenster für Verhandlungen?

Von Müslüm Örtülü

Menschen beim Protest in Mêrdîn gegen die Absetzung kurdischer Bürgermeister*innen im November 2024. Jemand hält ein Schild hoch mit der Aufschrift "Jinên ciwan rê nadê qayuma" (»Junge Frauen werden die Zwangsverwaltung nicht zulassen«).
»Junge Frauen werden die Zwangsverwaltung nicht zulassen« - In kurdischen Gemeinden, wie hier in Mêrdîn, protestieren Menschen gegen die Absetzung ihrer Bürgermeister*innen. Ist eine politische Lösung der kurdischen Frage noch möglich? Foto: Mezopotamya Ajansi

Abdullah Öcalan, Gründer der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK), wichtigster politischer Gefangener der Türkei und seit Jahrzehnten Staatsfeind Nummer eins, soll in das türkische Parlament eingeladen werden und dort eine Rede halten? Wer die politische Atmosphäre in der Türkei nur halbwegs kennt, weiß, wie absurd diese Vorstellung ist. Doch genau diese Idee wurde nun in den Raum geworfen, von keinem geringeren als Devlet Bahçeli, dem Vorsitzenden der ultrarechten MHP und Koalitionspartner der regierenden AKP.

Zwar forderte Bahçeli in seiner viel beachteten Rede vom 22. Oktober, Öcalan solle vor dem türkischen Parlament die Selbstauflösung der PKK verkünden. Gleichzeitig sprach er aber auch von der bislang von der türkischen Regierung geleugneten Isolationshaft des seit 1999 inhaftierten PKK-Vorsitzenden und von der Möglichkeit der Anwendung des »Rechts auf Hoffnung«, also der Überprüfung seiner Haftstrafe. Worte, die nicht nur aus dem Mund des MHP-Vorsitzenden Verwunderung hervorrufen. Eine solche Aussage könnte jeden anderen Politiker ohne Regierungsverantwortung in der Türkei ins Visier der Ermittlungsbehörden bringen.

Doch nicht so bei Devlet Bahçeli. Seine Worte waren offenbar eng mit dem großen Koalitionspartner AKP abgestimmt. Und auf sie folgten Taten, denn kurz nach Bahçelis Erklärung durfte Ömer Öcalan, Abgeordneter der DEM-Partei und Neffe von Abdullah Öcalan, nach 43 Monaten totaler Kontaktsperre die Gefängnisinsel İmralı besuchen, auf der sein Onkel festgehalten wird. Abdullah Öcalan ließ die folgende Botschaft an die Öffentlichkeit überbringen: »Die Isolation geht weiter. Wenn die Voraussetzungen gegeben sind, habe ich die theoretische und praktische Kraft, diesen Prozess von einer Ebene des Konflikts und der Gewalt auf eine rechtliche und politische Ebene zu verlagern.«

Nach mehr als neun Jahren völliger Eskalation des Kriegs in Kurdistan stimmte die Nachricht über den Besuch Öcalans viele hoffnungsvoll.

Zwischen Wut und Hoffnung

Völlig unerwartet stand in den letzten Wochen plötzlich wieder die Möglichkeit der Rückkehr zu Verhandlungen zwischen der PKK und dem türkischen Staat im Raum. Nach mehr als neun Jahren völliger Eskalation des Kriegs in Kurdistan durch den türkischen Staat stimmte die Nachricht über den Besuch in İmralı viele hoffnungsvoll. Doch die Ereignisse der letzten Wochen deuten auf alles andere als einen möglichen Frieden hin.

Am selben Tag, an dem Öcalan zum ersten Mal seit mehr als dreieinhalb Jahren Besuch erhielt, ereignete sich ein weiterer Vorfall, der die Debatte aufwirbelte: Zwei Mitglieder der Volksverteidigungskräfte (HPG), des bewaffneten Arms der PKK, führten einen Angriff gegen das türkische Rüstungsunternehmen TUSAŞ in Ankara aus. Dabei kamen mehrere Mitarbeiter des Unternehmens ums Leben. Während heftige Diskussionen darüber ausbrachen, warum die PKK eine solche Aktion zu einem solchen Zeitpunkt durchführe, sorgte die HPG in ihrer Erklärung für Klarheit: Die Aktion sei von einem autonomen Team der HPG-Sondereinheit durchgeführt worden, von langer Hand geplant gewesen und stehe in keinem Zusammenhang mit der aktuellen Debatte.

In den Tagen darauf wurde viel und kontrovers über die Aktion diskutiert, doch letztlich war sie Folge eines andauernden Kriegs der Türkei. Als die türkische Armee als vermeintliche Reaktion auf den Anschlag in Ankara die êzîdische Stadt Shingal im Nordirak sowie zivile Ziele in den Selbstverwaltungsgebieten Nord- und Ostsyriens bombardierte, schwanden die Hoffnungen auf einen Schwenk der türkischen Regierung in Richtung Frieden rasch wieder. Und der Kriegsalltag, der nie wirklich verschwunden war, kehrte schnell nach Kurdistan zurück. Anfang November wurden dann zunächst der Bürgermeister des kurdisch dominierten Istanbuler Bezirks Esenyurt und anschließend die Bürgermeister*innen der kurdischen Gemeinden Mêrdîn (tr. Mardin), Êlih (tr. Batman) und Xelfetî (tr. Halfeti) von der türkischen Regierung abgesetzt. Auf den Straßen dauert der militante Widerstand dagegen an.

Doch wie passt die Erklärung Bahçelis in dieses Bild? War sie nur ein politisches Ablenkungsmanöver, um den gesellschaftlichen Widerstand in Kurdistan zu schwächen? Oder war es die PKK, die mit ihrer Aktion in Ankara die Friedensbemühungen der türkischen Regierung torpedierte?

Geopolitische Interessen

Wie so oft ist die Antwort komplizierter. So überraschend Bahçelis Erklärung war – sie ist ein Aufruf zur Selbstaufgabe der PKK und letztlich ein Eingeständnis der Schwäche des türkischen Staates, der seit Jahren erfolglos versucht, die PKK militärisch zu besiegen. Die türkischen Militäroperationen in Südkurdistan (Nordirak) haben bisher nicht den erhofften Erfolg gebracht. Nun wird Öcalan aufgerufen, das Ende der PKK zu verkünden. Der Nahe Osten durchlebt derzeit eine tiefe Krise, deren Ausgang niemand absehen kann. Nach den Kriegen in Gaza und im Libanon könnte die israelische Armee das Assad-Regime in Syrien ins Visier nehmen. Mit dem Wahlsieg Trumps scheint auch ein möglicher Krieg gegen Iran nicht ausgeschlossen. Das würde die politischen Verhältnisse in der Region grundlegend verändern. Auch die Folgen für die Türkei sind derzeit kaum einschätzbar.

In diesem Chaos will sich die Regierung bestmöglich aufstellen und mögliche Gefahrenquellen rechtzeitig ausschalten. Der umfassende Krieg gegen die PKK in Südkurdistan und der Wunsch, notfalls gemeinsam mit dem einstigen Erzfeind Assad die Selbstverwaltung Nord- und Ostsyriens zu beseitigen, sind in diesem Kontext zu verstehen. Bisher scheiterte beides, auch und vor allem am Widerstand der kurdischen Freiheitsbewegung. Nun sucht die türkische Regierung nach anderen Wegen. Dies ist der Hintergrund für Bahçelis Vorstoß.

Die kurdische Seite hat, insbesondere mit der Botschaft Abdullah Öcalans, ihre Bereitschaft zu einem echten Frieden signalisiert. Das Vorgehen der PKK als Sabotage eines Friedensangebots zu werten, wäre falsch: Weder gab es bisher ein wirkliches Friedensangebot, noch hat die Türkei zu irgendeinem Zeitpunkt Kriegshandlungen und Repressionen in Kurdistan eingestellt. Die PKK hat in jüngster Zeit mehrfach deutlich gemacht, dass sie hinter Öcalan als möglichem Verhandler steht. Aus ihrer Sicht gibt es aber noch keinen Friedensprozess, sondern nur eine türkische Regierung, die ihre geopolitische Stellung durch die Veränderungen in der Region bedroht sieht.

Diese Phase kann erst in einen echten Friedensprozess münden, wenn der gesellschaftliche Druck auf die türkische Regierung erhöht wird. Gleichzeitig scheint in der jetzigen Phase vieles möglich. Dass der Führer der türkischen Faschisten höchstpersönlich den Gründer der Arbeiterpartei Kurdistans ins türkische Parlament einladen möchte, sagt viel über die Not aus, die in diesen Tagen in Ankara herrscht.