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Fürchtet euch nicht!

Warum linke Ängste vor Neuwahlen verständlich, aber unnötig sind 

Von Nelli Tügel

Ein schwitzender Friedrich Merz mit hochrotem Kopf steht an einem Rednerpult
Ja, dieser Herr könnte tatsächlich der nächste Bundeskanzler werden. Foto: Olaf Kosinsky / Wikimedia Commons, CC BY-SA 3.0 DE

Auch das noch!«, so oder ähnlich kommentierten viele, auch viele Linke, das Scheitern der 2021 als »Fortschrittskoalition« gestarteten Regierung, das jenen Tag beendete, der mit der Nachricht von Trumps Wahlsieg in den USA begonnen hatte. Der Grund für diese Reaktionen ist klar: Neuwahlen werden mit hoher Wahrscheinlichkeit die CDU als stärkste Kraft und Friedrich Merz als Bundeskanzler hervorbringen. AfD und BSW können auf Zugewinne hoffen, während die Linkspartei aus dem Bundestag rauszufliegen droht; aufgrund der deutlich verkürzten Wahlkampfvorbereitungszeit erst recht.

So nachvollziehbar die Ängste vor einer baldigen Merz-Regierung sind, so ernüchternd ist doch auch, dass das vorzeitige Ende einer Regierung überhaupt nicht mehr mit der Chance auf sozialere oder progressivere Politik in Verbindung gebracht wird. Anders als noch 2005, als das letzte Mal vorgezogene Neuwahlen stattfanden und die Linkspartei.PDS ihr Ergebnis vor dem Hintergrund einer Massenbewegung gegen Hartz IV verdoppeln konnte, befürchten heute viele einen weiteren Rechtsruck

Der hat allerdings auch unter der Ampel stattgefunden, die sozialpolitisch und beim Klimaschutz rückgrat- und ambitionslos gearbeitet und beim Asylrecht die Merkel-Vorgängerregierungen längst rechts überholt hat. Und das liegt nicht allein an der FDP, die der kleinste Partner im Dreierbündnis war. Es ist auch das Werk von SPD und Grünen selbst, die von 1998 bis 2005 ja schon einmal Politik gemacht haben, die man eher CDU und FDP zugetraut hätte: Agenda 2010, die Etablierung des »besten Niedriglohnsektors« Europas, wie der »sozialdemokratische« Kanzler Gerhard Schröder damals schwärmte; die ersten Kampfeinsätze der Bundeswehr nach dem Zweiten Weltkrieg. 

Für dieses Phänomen gibt es eine politologische Metapher: »Only Nixon could go to China«. Der Republikaner Richard Nixon galt bei Amtsantritt als US-Präsident 1969 als ausgemachter Hardliner in der Außenpolitik. Während seiner Amtszeit kam es allerdings, auf den ersten Blick überraschend, zu einer diplomatischen Annäherung mit dem maoistischen China. Nixon konnte eine solche Öffnung durchsetzen, weil er als beinharter Antikommunist über jeden Verdacht erhaben schien und keine allzu große Opposition von konservativer Seite provozierte. Was wir in den drei zurückliegenden Jahren Ampel erlebt haben, folgte einer ähnlichen Dynamik: SPD und Grüne können Bürgergeld und Asylrecht in einer Weise verhärten, die der Union vielleicht nie gelingen würde, denn das grünliberale und sozialdemokratische Milieu hält still.

Egal welche Farbe die Regierung hat: Verbesserungen müssen von unten erkämpft, Angriffe organisiert zurückgeschlagen werden. Daher: Habt keine Angst vor Neuwahlen! Aber lasst uns mithelfen, dass es mit der Linkspartei auch künftig Verbündete im Parlament gibt. Und lasst uns unbedingt noch weitere Vorkehrungen treffen. Denn wirklich furchterregend ist nicht die Aussicht auf Merz im Bundeskanzleramt, sondern die derzeitige eklatante Schwäche sozialer Bewegungen.

Nelli Tügel

ist Redakteurin bei ak.

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