Das Pech-gehabt-Gesetz
Von Frédéric Valin
Kurzer Reminder: In der letzten Kolumne war das SGB XI Thema, das elfte Sozialgesetzbuch, und ich hatte versprochen, das ganze nochmal etwas zu vertiefen. Das SGB XI wurde 1995 eingeführt und regelt die Soziale Pflegeversicherung, die bei ihrer Einführung dafür sorgen sollte, dass Pflegeheimbewohner*innen nicht in die Sozialhilfe abrutschen. Dieses Ziel verfehlt das SGB XI seit mindestens 20 Jahren, Pflegebedürftigkeit ist bundesweit der Faktor mit dem höchsten Verarmungsrisiko. Und das nicht nur für die Pflegebedürftigen, sondern auch für jene, die die beim SGB XI eingeplanten Lücken füllen, nämlich die pflegenden Angehörigen: Ein Fünftel von ihnen sind laut einer Studie des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung von Armut bedroht, bei Frauen sind es sogar 24 Prozent. Wer pflegt, tut das nicht nur auf Kosten der eigenen Gesundheit und der eigenen Vorsorge, sondern auch auf Kosten des eigenen Status’.
Ein Problem dieser Pflegeversicherung ist, dass sie keine Pflegeversicherung ist. Voraussetzung dafür, Leistungen aus dem SGB XI zu erhalten, ist eine Begutachtung durch den Medizinischen Dienst, der dann bestimmte Bedarfe festlegt. Das Wort Bedarfe tut so, als wäre es nah dran an den Bedürfnissen, aber das ist falsch: Bedarf ist das Wort dafür, was Leute, die in dieser Gesellschaft auf Hilfe angewiesen sind, an Unterstützung haben dürfen. Beispiel: Eine an Demenz erkrankte Person möchte sich die Hochzeitssuppe kochen, die sie schon immer gerne gegessen hat, kann das aber nicht mehr alleine. Das Bedürfnis ist: diese Hochzeitssuppe, selber kochen. Der Bedarf ist: Ernährung. Das heißt, am Ende kommt der ambulante Pflegedienst vorbei und hat ungefähr 20 Minuten finanziert, um das Essen zuzubereiten, und was in diesen 20 Minuten nicht zu machen ist, ist halt nicht drin. Alternativ gibt es ja immer noch Essen auf Rädern; bloß wenn Menschen an den Gerichten, die sie seit Jahrzehnten gern gegessen haben, die Teil ihrer Identität, ihrer Geschichte sind, hängen und sich das bewahren möchten, dann ist das zu teuer. Das ist die soziale Realität des SGB XI: dieses Gesetz sagt fortwährend »Pech gehabt«.
Was auf diese völlig unzureichende Versorgungssituation noch drauf kommt, ist die desolate finanzielle Lage der Sozialen Pflegeversicherung insgesamt. Um die ein bisschen abzufedern, waren 2023 die Beitragssätze um 0,35 Prozentpunkte angehoben worden, auf inzwischen 3,4 Prozent der Bruttoeinnahmen. Trotzdem hat die Soziale Pflegeversicherung ein Defizit von 650 Millionen Euro erwirtschaftet, was sie den Prognosen nach nicht hätte tun sollen; sie hätte zumindest noch für ein, zwei Jahre auf einer (eher roten als schwarzen) Null stehen sollen.
Aber es werden sehr viel schneller mehr Leute pflegebedürftig als gedacht: Der Zuwachs lag im letzten Jahr bei 361.000 Menschen, elf Prozent über den Prognosen. Das Gesundheitsministerium geht (immerhin, alles andere wäre auch wirklich jenseitig) davon aus, dass die Zahlen weiter steigen werden. Dass der Zuwachs hausgemacht ist und mindestens zum Teil mit der Corona-Politik zu tun hat, ist allerdings nur meine Vermutung. Ursachenforschung betreibt das Gesundheitsministerium in der Frage nicht mehr.
Gibt’s Alternativen? Ja. In Dänemark zum Beispiel übernehmen Bedürfnisse der Gepflegten die Kommunen. Das funktioniert deutlich besser, müsste aber damit einhergehen, Geld von oben (dem Bund) nach unten (an die Kommunen) umzuverteilen. Aber bevor das passiert, findet sich bestimmt noch irgendein am Rande des Burnouts stehendes Familienmitglied oder vielleicht sogar irgendeine Ehrenamtliche, die diese verdammte Hochzeitssuppe kocht. Und wenn nicht, diese Leute wählen eh fast nicht mehr, also was soll’s.