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Eine »neue Phase des Krieges«

Der Krieg im Nahen Osten hat sich auf den Libanon ausgeweitet – lässt sich eine weitere Ausbreitung noch aufhalten? 

Von Hanna Voß

Zerstörungen nach israelischem Luftangriff Anfang Oktober, südlich von Beirut. Foto: picture alliance / Houssam Shbaro

Mit dem Tod von Hisbollah-Generalsekretär Hassan Nasrallah hat im Libanon eine neue Zeitrechnung begonnen. Die tödliche Attacke auf den Mann, der die Hisbollah seit 1992 anführte, hat nicht nur die Miliz in bislang ungekannter Weise geschwächt, sondern auch das psychologische Kräfteverhältnis zwischen der Hisbollah und Israel verschoben. Seit dem, von der Hisbollah erzwungenen Abzug Israels aus dem Libanon nach 18 Jahren Besatzung im Jahr 2000 und der verlustreichen wie demoralisierenden Erfahrung von 2006 hatte man sich im jüdischen Staat geschworen, den Libanon im Allgemeinen und die Hisbollah im Speziellen nicht noch einmal zu unterschätzen. Während – bis zum 7. Oktober 2023 – die Hamas im Gazastreifen aufgerieben und die Palästinafrage zu einem Hintergrundrauschen gedimmt werden sollte, schien ein erneuter Krieg mit der von Iran aufgerüsteten, deutlich größeren Bedrohung im Norden stets unausweichlich. Die Frage war nicht ob, sondern wann es zu so einem Krieg kommt. Entsprechend gut hatte sich Israel in den vergangenen 18 Jahren vorbereitet: mit Operationen, die über viele Jahre hinweg geplant wurden, dem Einsatz von Spion*innen und Agent*innen und offenbar auch mit einer datenforensischen und technologischen Rundumerfassung der Orte im Libanon, in denen die Hisbollah über eine besonders starke Präsenz verfügt.

So gelangen Israel in den vergangenen Wochen und Monaten spektakuläre Schläge, die in der Tötung von Hassan Nasrallah, an der man 2006 bereits zweimal gescheitert war, gipfelten. Aus der Gründergeneration der Hisbollah lebt nun fast niemand mehr. Zahlreiche bedeutende Kommandeure wurden ebenfalls getötet, Dutzende verletzt, als ihre Pager und Walkie-Talkies explodierten, womit auch das Kommunikationssystem der Hisbollah empfindlich getroffen wurde. Die Angriffe trafen aber auch Dutzende Unbeteiligte, die sich in der Nähe der explodierenden Pager und Funkgeräte aufhielten. Von insgesamt bis zu 3.000 Verletzten ist die Rede, auch Kinder starben

Nasrallah fühlte sich in seinem vor Jahren speziell für ihn angefertigten Bunker, 50 Meter unter der Erde und mit Stahlwand um Stahlwand verbaut, offenbar trotzdem sicher, obwohl beinahe die gesamte militärische Führungsriege seiner Miliz getötet worden war. Mit 85 Tonnen Bomben, darunter bunkerbrechende aus US-Produktion, hatte er nicht kalkuliert, erst recht wohl nicht zu einer Zeit, als weit weg in New York ein möglicher temporärer Waffenstillstand diskutiert wurde. Eine Feuerpause, der er, Nasrallah, bereits zugestimmt hatte, wie der libanesische Außenminister Abdallah Bou Habib kürzlich in einem CNN-Interview mit Christiane Amanpour sagte. Die Explosion erschütterte nicht nur Beirut so heftig, dass noch viele Straßenzüge entfernt die Wände wackelten und Türen in ihren Angeln erzitterten. Sie veränderte auch die Abschreckungslogik zwischen Israel und der Hisbollah – und gab den Startschuss zum Krieg Israels gegen den Libanon. Es war ein Vorgeschmack auf das, was folgte: nächtliche Luftangriffe auf Beirut, auf Zivilist*innen, Rettungssanitäter*innen, und dann sogar eine Bodenoffensive. 

Bomben auf Beirut

Benjamin Netanjahu fühlt sich seit diesem Schlag aller Schläge offenbar dazu berufen, den Nahen Osten ein für alle Mal umzugestalten, und scheint dafür zu allem bereit. Bereits am 23. September, keine Woche nach den Pager- und Walkie-Talkie-Explosionen, hatte Israel den seit vergangenem Oktober größtenteils im Südlibanon eingehegten Krieg mit der Hisbollah fundamental ausgeweitet. Allein an diesem Tag tötete die israelische Armee bei Luftangriffen 570 Menschen, mehr als 150 von ihnen waren nach Angaben libanesischer Behörden Frauen und Kinder. 

Israel ist der Aussage seines Verteidigungsministers Yoav Gallant zufolge in eine »neue Phase des Krieges« eingetreten, deren Hauptziel es sei, Zehntausende Israelis, die seit dem Beginn des Beschusses durch die Hisbollah am 8. Oktober vertrieben wurden, in ihre Häuser an der Nordgrenze zum Libanon zurückzubringen. Dafür sollen die Hisbollah-Kämpfer weit hinter die eigene Grenze zurückgedrängt, ihre Waffen und Lager überall im Land attackiert werden. Im gesamten Südlibanon, in der nordöstlichen Bekaa-Ebene bis hin zur Stadt Baalbek beschießt Israel die Waffendepots und Abschussrampen der Hisbollah, aber von Beginn an auch die zivile Infrastruktur: gewöhnliche Wohnhäuser, Wassertanks, medizinische Einrichtungen. So paralysiert die Hisbollah seitdem wirkt: Geschlagen ist sie nicht. Im Süden bringt sie der IDF schon jetzt heftige Verluste bei, am vergangenen Donnerstag sprach sie von 20 getöteten israelischen Soldaten.

Allein am 23. September tötete die israelische Armee bei Luftangriffen 570 Menschen, mehr als 150 von ihnen waren nach Angaben libanesischer Behörden Frauen und Kinder. 

Der Angriff auf das Kommunikationssystem der Miliz diente offenbar als Vorbereitung zu dem großen Schlag, den die Menschen im Libanon seit Monaten gefürchtet und vor dem zahlreiche Expert*innen seit vergangenem Oktober gewarnt hatten. In der Nacht nach der Tötung Nasrallahs flog Israel erstmals nächtliche Luftangriffe auf die Dahye, die südlichen Vororte der Hauptstadt. Zum ersten Mal seit 2006 wurden die Beiruter*innen wieder von Luftangriffen geweckt. 

Im Verlauf der darauffolgenden Woche ist das zum schrecklichen Alltag geworden: Jede Nacht fliegt die IDF jetzt Luftangriffe auf Beirut, mal zehn, mal 17 hintereinander. Nach der ersten Evakuierungsankündigung, in der Regel um Mitternacht herum, folgen weitere, so geht es bis zum frühen Morgen. Manchmal 30 Minuten, mal 20 oder auch nur zehn Minuten später fallen die Bomben. Manchmal bleiben die Warnungen aus. Mit den Tagen, die vergehen, hat die israelische Armee ihren Radius in der Hauptstadt ausgeweitet, auf das Viertel Cola im Südwesten, am zurückliegenden Mittwoch dann auf Bachoura, unweit des Edelviertels Downtown, wo sie auf das Islamische medizinische Zentrum, das von der Hisbollah betrieben wird, gezielt und neun Sanitäter getötet hat. Auch tagsüber setzt die IDF ihre Angriffe auf Beirut und in anderen Landesteilen fort. 

Die Zahlen der vergangenen Tage und Wochen machen allen im Libanon Angst: An drei Tagen wurden 40 Feuerwehrleute und Helfer*innen getötet. Zuletzt hatte die israelische Armee Rettungsdienste davor gewarnt, an die Angriffsstellen zu kommen, weil sie damit zur Zielscheibe würden. In weniger als zwei Wochen sind mehr als 1.000 Menschen im Libanon getötet worden, seit Beginn des Krieges im Oktober 2023 2.011, darunter 127 Kinder. Mit jedem Tag kommen Dutzende Tote hinzu. 300.000 Menschen sind ins Bürgerkriegsland Syrien geflohen, einen Grenzübergang bombardierte Israel mit der Begründung, dass die Hisbollah von dort Waffen ins Land schmuggele. 1,3 Millionen Binnen-Vertriebene stellen den Libanon vor eine Aufgabe, die für das krisengeplagte Land nicht zu schultern sein wird. Die humanitäre Katastrophe kommt mit Ansage. Angesichts all dieser Zahlen geistert den Libanes*innen ein Schreckensszenario im Kopf herum: Gaza. 

Angst davor, das nächste Gaza zu werden

Immer wieder werden die Parallelen gezogen. Zunächst als begrenzt angekündigte Operationen, die dann stückweise ausgeweitet werden. Die immer wieder kolportierte Behauptung der menschlichen Schutzschilder, nach denen quasi jedes Ziel als legitim gilt, solange nur vorher einmal gesagt wurde, dass dort Waffen, Raketen oder Munition gelagert werde. So hatte Benjamin Netanjahu dieser Tage behauptet, die Hisbollah habe in jedem Wohnhaus im Süden Raketen gelagert, in Küchen, Garagen und Wohnzimmern. Der Aufforderung, sich hinter den Litani-Fluss zurückziehen, etwa 30 Kilometer nördlich der Grenze zu Israel, folgte kurz darauf die nächste Aufforderung, noch viel weiter nordwärts zu fliehen, jetzt bis hinter den Awali-Fluss, 60 Kilometer von der Grenze entfernt. Der Awali-Fluss fließt bei Saida, der drittgrößten Stadt des Libanon. Bei einem Angriff auf ein Haus nahe Saida wurden vergangene Woche 32 Menschen getötet, die aus dem Süden vertrieben worden waren und weiter nördlich Schutz gesucht hatten. Der lokale Hisbollah-Vertreter, dem der Angriff vorrangig galt, hatte sich indes nicht im Haus befunden. 

Der libanesischen Nachrichtenagentur zufolge soll Israel bei einigen seiner Angriffe mitten in Wohngegenden in Beirut weißen Phosphor eingesetzt haben, eine hochgiftige Substanz, die es bereits seit vergangenem Oktober systematisch im Südlibanon anwendet. Amnesty International und Human Rights Watch haben Israel mehrfach für den Einsatz von weißem Phosphor verurteilt, obwohl diese Waffe nicht per se international geächtet ist. Ursprünglich wird sie eingesetzt, um Truppenbewegungen mit Rauch zu tarnen, die jedoch hat es bis vor Kurzem im Libanon gar nicht gegeben. Weißer Phosphor ist eine hochreaktive chemische Verbindung, die sich an der Luft entzündet und beim Verbrennen große Hitze entwickelt. Er kann schwere Atemprobleme, akute Lungenschäden, Augenverletzungen, Verbrennungen und sogar Knochenschäden verursachen.

Auch scheint Israel wieder die Dahye-Doktrin zur Anwendung zu bringen, eine militärische Strategie, die 2006 etabliert worden war und deren Idee es ist, mit der massiven Zerstörung auch ziviler Infrastruktur und einer permanenten Bedrohungslage die Bevölkerung in ihrer Gesamtheit zu terrorisieren und auf diese Weise mehr Druck auf den Feind auszuüben. Schon jetzt liegen weite Teile der Dahye in Schutt und Asche. Auch 2006 starben Hunderte libanesische Zivilist*innen, doch stehen heute bereits etwa 1.400 Tote innerhalb von 14 Tagen den damals 1.200 Toten innerhalb von 34 Tagen gegenüber. Die Brutalität, mit der Israel im libanesischen Süden, Nordosten und in Beirut vorgeht, empfinden die Libanes*innen als eine neue Qualität. Sie sagen, 2006 sei nichts im Vergleich zu dem gewesen, was sie dieser Tage erleben, wenn es sie, so der Eindruck, jederzeit und überall treffen kann. Dieser Krieg gilt längst nicht nur der Hisbollah, er gilt dem gesamten Libanon mit seinen etwa sechs Millionen Einwohner*innen. 

Auch hauptsächlich schiitische Viertel in Gegenden mit christlichen, drusischen und sunnitischen Mehrheiten werden jetzt angegriffen. Dörfer, in denen Schutzsuchende aus dem Süden und Osten angekommen waren. Selbst aus den zentralen Gegenden Beiruts, in denen Botschaften, die Vereinten Nationen und das libanesische Parlament untergebracht sind, fliehen Menschen nun weiter Richtung Norden. Zu keinem Zeitpunkt im Jahr 2006 hatte Israel diese Orte angegriffen.

Irans Raketen fliegen auf Israel

In diesem Krieg scheint nur eine Regel zu gelten, und zwar die, dass keine gilt. Und weil die internationale Gemeinschaft sich nicht bewegt, sondern weitgehend stumm bleibt, steigert sich die Gewalt. Für die meisten westlichen Regierungen, allen voran die der USA und Deutschlands, verteidigt sich Israel noch immer selbst. Auch, als es am 30. September die Bodenoperation im Libanon startete. Auch, als es ganze Wohnblocks mitten in Beirut dem Erdboden gleichgemacht und dabei Hunderte zivile Opfer in Kauf genommen hat.

Erst als Iran Israel am 1. Oktober mit mehr als 200 Raketen angriff, erwachte die westliche Welt wieder und war sich einig: Das ist die Eskalation, die den Nahen Osten in den Abgrund stürzt. Nicht die Hunderten zivilen Opfer im Libanon, nicht der Einsatz von weißem Phosphor, nicht die Bombardierung Zentral-Beiruts, nicht die Tötung von Rettungspersonal, nicht Artikel in israelischen Tageszeitungen, die noch am Tag des Beginns der Bodenoffensive fragten, ob der Libanon nicht auch ein Teil Groß-Israels sei. 

Zahlreiche Gelegenheiten zu einem Abkommen, das die noch immer mehr als 100 israelischen Geiseln aus der Hölle befreien, Kinder in Gaza vor dem Hungertod bewahren sowie Israelis und Libanes*innen in ihre Häuser auf beiden Seiten der Grenze zurückbringen würde, sind verstrichen.

Iran hatte riskant kalkuliert und gehofft, mit seiner Attacke endlich die von vielen Anhänger*innen geforderte harte Reaktion zu zeigen. Nach der Tötung des Hamas-Politchefs Ismail Haniyeh in Teheran und schließlich der von Hassan Nasrallah in Beirut musste die Islamische Republik reagieren, wollte sie innerhalb der eigens installierten, so genannten Achse des Widerstands das Gesicht wahren. Gleichzeitig sollte die Antwort so eingehegt ausfallen, dass ein Regionalkrieg noch abgewendet werden kann. Denn an einem solchen hat das Land auch weiterhin kein Interesse, wäre es der vereinten Feuerkraft von Israel und den USA doch klar unterlegen. Zudem ist die erst seit August amtierende Pezeshkian-Regierung an Sanktionserleichterungen gelegen, um die wirtschaftliche Lage im Land zu verbessern. 

Wie Israel zurückschlagen wird, ist noch unklar, eine harte Antwort hat es aber bereits angekündigt. Wer sich das israelische Agieren dieser Tage anguckt, den dürfte das wenig überraschen. Entscheidend für die umfängliche Entfesselung des israelischen Vorgehens im Libanon dürfte neben den jüngsten Erfolgen und der verlorengegangenen Abschreckung auf Seiten der Hisbollah auch die jetzt absolute Rückendeckung der USA sein. Hatten die im zurückliegenden Jahr zwar stets weiter Waffen im Milliardenumfang an Israel geliefert, gleichzeitig jedoch auf Deeskalation und Diplomatie gepocht, scheint Washington nach der Nasrallah-Tötung fast ein wenig gebannt darauf zu blicken, was mit diesem israelischen Handeln sonst noch möglich ist: vielleicht tatsächlich eine Neugestaltung des Nahen Ostens, wie sie den USA selbst nie gelungen ist? So fordern einige US-Stimmen durchaus, die Gunst der Stunde zu nutzen, um dem iranischen Nuklearprogramm endlich den vermeintlich entscheidenden Schlag zu verpassen.  

Zuletzt sprach sich immerhin US-Präsident Joe Biden gegen einen Angriff auf das iranische Atomprogramm aus – während der republikanische Kandidat Trump einen solchen forderte. Die USA sind nach wie vor die einzigen, die Israel zu einem Wandel bewegen könnten. Andernfalls scheint dieser Tage im Nahen Osten wahrlich alles möglich. 

Immer weniger indes ein Friedensschluss: Zahlreiche Gelegenheiten zu einem Abkommen, das die noch immer mehr als 100 israelischen Geiseln aus der Hölle befreien, Kinder in Gaza vor dem Hungertod bewahren, gleichzeitig das Leiden im Libanon beenden sowie Israelis und Libanes*innen in ihre Häuser auf beiden Seiten der Grenze zurückbringen würde, hatte Netanjahu in den vergangenen zwölf Monaten verstreichen lassen. Als Bedingung für ein Ende des seit dem 8. Oktober andauernden Rakatenbeschusses auf Israel hatte Nasrallah stets einen Waffenstillstand in Gaza genannt. Stattdessen ist es Netanjahu nun gelungen, die Situation im Norden zu einem dritten Libanon-Krieg zu eskalieren.  

Ein politischer Plan für alles, was nach dem Krieg kommt, existiert im Israel des Jahres 2024 indes nicht. Klar ist: Ein tragfähiger Frieden ist mit einem zerstörten Libanon im Norden und einem ausgebluteten Gaza im Süden unmöglich. Wenn überhaupt, dann nur eine trügerische Ruhe vor dem nächsten Sturm. 

Hanna Voß

war Redakteurin für die taz und ist heute im Auslandsbüro der Friedrich-Ebert-Stiftung in Beirut tätig.

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