analyse & kritik

Zeitung für linke Debatte & Praxis

|Thema in ak 708: US-Wahlen und die Linke

Viele Wege in die Repräsentations­lücke

Von einer eigenen Partei träumen Linke in den USA schon lange, doch die strukturellen Hindernisse sind hoch

Von Julian Alexander Hitschler

Man sieht eine Person von hinten, die eine rote Jacke trägt, auf der Democratic Socialists of America steht.
Sind in den vergangenen Jahren enorm gewachsen: die Democtatic Socialists of America. Foto: Cory Doctorow/Wikimedia, CC BY-ND 2.0

Warum haben die USA eigentlich keine linke Partei? Eine sehr berechtigte Frage. Immerhin gibt es in den meisten parlamentarischen Demokratien Europas, und auch anderswo, Parteien links der Sozialdemokratie. In den USA schafft die Linke den Sprung ins Parlament hingegen seit Jahrzehnten nicht. Die Gründe hierfür sind vielfältig.

Die größte Hürde, an der der Aufbau einer linken Partei in den USA bislang immer wieder scheiterte, hat weniger mit der politischen Kultur zu tun, als vielmehr mit dem politischen System. Die Annahme, dass die USA als koloniale Siedler*innengesellschaft gegenüber sozialistischen Ideen weniger aufgeschlossen seien, ist ein historischer Irrtum. Es ist keinesfalls so, dass die sozialistische Bewegung in den USA im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert weniger relevant oder militant gewesen wäre als die europäische. Und in den vergangenen Jahren ist die US-Gewerkschaftskultur deutlich kämpferischer als zumindest die deutsche geworden, auch, weil es praktisch keine Institutionen der betrieblichen Mitbestimmung gibt.

Die mediale Wahrnehmung der Gewerkschaften ist dadurch gestiegen, nicht aber der gesamtwirtschaftliche Organisationsgrad, der bei zehn Prozent stagniert. Immerhin stehen die Menschen in den USA Umfragen zufolge der Idee von Gewerkschaften positiver gegenüber als viele Jahrzehnte zuvor.

Aufstieg und New-Deal-Koalition

Eine linke Partei von relevanter Größe lässt hingegen weiter auf sich warten, obwohl es sie in der Geschichte der USA durchaus gab. 1912 bekam der Sozialist Eugene Debs bei den Präsidentschaftswahlen immerhin sechs Prozent der Stimmen. Während der 1920er und 1930er Jahre erreichte die Kommunistische Partei ein beeindruckendes Aktivitätsniveau; dem mit ihr teilweise verbündeten Gewerkschaftsverband CIO gelang die Massenorganisation in Industriebetrieben, um die sich die bis dahin bestehenden Fach- und Spartengewerkschaften nie gekümmert hatten.

Sozialist*innen und Kommunist*innen waren die gesellschaftliche Kraft, die Rassismus und Rassentrennung in den Südstaaten am effektivsten herausfordern konnten. Allerdings gingen sowohl die CIO und Kommunist*innen als auch die Kräfte der sozialistischen Linken letztlich in Franklin D. Roosevelts New-Deal-Koalition auf, ein Prozess, der mit der Fusion der CIO mit der moderateren AFL im Jahr 1955 besiegelt wurde. 

Anders als in den demokratischen Systemen Europas ist die Parteibindung in den USA sehr viel schwächer ausgeprägt.

Sowohl Sozialist*innen als auch Kommunist*innen bauten also in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts eine beachtliche gesellschaftliche Organisationsmacht auf, konnten aber keine relevante Repräsentation im politischen System und keine dauerhafte Macht im Staat gewinnen. Letztlich scheiterten sie damit an derselben Herausforderung, die allen linken Bewegungen in den USA vor und nach ihnen den Wind aus den Segeln nahm: Die Zugangsbarrieren zur parlamentarischen Politik sind so hoch, dass sich eine Teilnahme als eigenständige Kraft im politischen System immer wieder als impraktikabel erwiesen hat. Es bleiben letztlich nur die Alternativen der Integration in die Demokratische Partei oder der permanenten außerparlamentarischen Opposition. 

Das liegt hauptsächlich am politischen System der USA und seinen formalen Organisationsprinzipien selbst. Anders als in den parlamentarischen Demokratien Europas und auch anders als im Westminster-System der restlichen Anglosphäre, ist die Parteibindung in den USA sehr viel schwächer ausgeprägt. Bei den beiden großen Parteien handelt es sich nicht um Mitgliedsorganisationen, sondern eher um Zusammenschlüsse von Abgeordneten, die in ihrer politischen Entscheidungsfindung recht ungebunden sind. Abstimmungen mit wechselnden Mehrheiten sind in US-Parlamenten auf Bundes- und Bundesstaatenebene die Regel, Fraktionsdisziplin gibt es nur in Ansätzen. Die Möglichkeiten der Disziplinierung von Abgeordneten oder Senator*innen durch ihre Parteien sind begrenzt. Sie beschränken sich im Wesentlichen auf den Entzug von Ausschussposten und auf die Einschränkung des Zugriffs auf die Fundraising-Infrastruktur der Parteien, die aber gerade bei wichtigen Wahlen gegenüber Direktspenden an die Kandidat*innen (von Großspender*innen, aber inzwischen durchaus auch von Normalverdienenden) eine untergeordnete Rolle spielen.

Ideologisch amorphe Parteien

Die großen US-Parteien sind also ideologisch amorph; vor allem regional existieren noch immer große Unterschiede in ihrer politischen Programmatik. Zwar gibt es seit den 1990er Jahren einen gewissen Trend zur Zentralisierung: Sowohl der konservative Südstaaten-Flügel der Demokratischen Partei als auch der sozialliberale Parteiflügel der Republikaner, der einst vor allem in Neuengland stark war, sind – bis auf einzelne personelle Ausnahmen – praktisch kollabiert. Doch obwohl die politischen Parteien homogener geworden sind, haben sie immer noch bei weitem nicht den Zentralisierungsgrad ihrer westeuropäischen Äquivalente erreicht. 

Des weiteren sind die Barrieren zum Wahlsystem selbst hoch: Kandidierende müssen oft einen bürokratischen Spießrutenlauf hinnehmen und eine hohe Anzahl von Unterschriften sammeln, um in einem Bundesstaat oder Wahlkreis auf den Wahlzettel zu gelangen. Hieran schließen sich oft langwierige und kostspielige Rechtsstreitigkeiten an, denn die großen Parteien versuchen mit allen Mitteln, Konkurrenz von Wahlen auszuschließen. Die Demokraten stehen den Republikanern in dieser Frage übrigens in nichts nach. 

Zeichnung einer freundlich dreinschauenden Freiheitsstatue, die ein Mikrofon in die Höhe recht, vor roten Streifen

Podcast zur US-Wahl What’s left?

Bis zum 11. November jede Woche Montag: der linke Podcast zur US-Wahl. In jeder Folge spricht Lukas Hermsmeier mit Expert*innen und Aktivist*innen aus den USA über die Fragen, die das Land und die Welt bewegen.

Diese Faktoren bewirken, dass sich klassische linke Konzeptionen der Organisationsform Partei – als mehr oder minder zentralistische, demokratische Mitgliedsorganisation – in den USA nie durchsetzen konnten. Auch eine alternative Form der parteiähnlichen Organisation, die diese institutionellen Fallstricke überwinden könnte, wurde bislang nicht gefunden. Die linken Kandidierenden, die bei der diesjährigen Präsidentschaftswahl antreten, haben auch deshalb eher geringe Chancen: Der unabhängige Kandidat Cornel West hat es bis dato nur in 15 von 50 Bundesstaaten auf den Wahlzettel geschafft; in mehr als 20 weiteren Staaten besteht die Möglichkeit, ihn handschriftlich einzutragen. Die grüne Kandidatin Jill Stein war erfolgreicher: Sie fehlt nur in elf Staaten auf dem Wahlzettel. Dennoch ist die Kampagnenfähigkeit ihrer Partei begrenzt, da sie in vielen Landesteilen auf lokaler Ebene kaum aktiv ist und nur über eine begrenzte Infrastruktur verfügt.

Nicht zuletzt diszipliniert auch das Mehrheitswahlsystem, das auf Bundesstaaten- oder Wahlkreisebene auch bei Präsidentschaftswahlen gilt, die linke Wähler*innenschaft. In Bundesstaaten mit erwartbar knappem Wahlergebnis werden bei dieser Wahl viele Wähler*innen, die inhaltlich West oder Stein näherstehen, mit geballter Faust in der Tasche Harris ihre Stimme geben, aus Furcht vor einer Rückkehr von Donald Trump ins Weiße Haus. 

Zwischen Anpassung und »dirty break«

Für einen alternativen Weg haben sich andere Linke in den USA entschieden, die ihren Platz innerhalb der Demokratischen Partei suchen – und manchmal auch finden. Einige von ihnen wurden mit der Unterstützung der Democratic Socialists of America (DSA), der größten sozialistischen Mitgliedsorganisation der USA, ins Repräsentantenhaus gewählt. Die Resultate ergeben ein durchwachsenes Bild. Politiker*innen wie Alexandria Ocasio-Cortez scheuen sich weiterhin nicht, vor allem in sozialpolitischen Fragen ein schärferes Profil von den Demokraten einzufordern. Insbesondere Ocasio-Cortez ist in den letzten Jahren allerdings auf Distanz zur DSA gegangen und stellt sich bei heiklen Angelegenheiten stets schützend vor die Parteiführung. Auch deshalb ist ihr Sitz im Repräsentantenhaus inzwischen recht sicher; ernsthafte Konkurrenz bei innerparteilichen Vorwahlen hat sie nicht mehr. 

Weniger komfortabel ist die Situation von Abgeordneten, die sich häufiger querstellen. Die sozialistischen Abgeordneten Cori Bush und Jamal Bowman wurden in der vergangenen Vorwahlsaison abgewählt und werden das Repräsentantenhaus im Januar mit dem Ende der Legislaturperiode verlassen. Insbesondere ihre kritische Haltung zum Gaza-Krieg kostete sie ihr Amt, die Parteiführung ließ sie hängen. Die linke Abgeordnete Ilhan Omar aus Minnesota konnte sich bei den Vorwahlen nur knapp halten und wird wohl wieder ins Parlament einziehen. 

Auch die Strategie, innerhalb der Demokratischen Partei linke Politik voranbringen zu wollen, stößt also offensichtlich recht schnell an ihre Grenzen. Nach einem Ausweg aus diesem Dilemma sucht die US-Linke seit Jahrzehnten. Auch innerhalb der DSA gibt es unterschiedliche Vorstellungen hierüber. Der interne Zusammenschluss Bread and Roses etwa wirbt für eine Strategie des »dirty break«: Statt eines »clean break« und einer Parteineugründung soll die Infrastruktur der Demokraten so lange mitgenutzt werden, bis die Zeit reif ist. 

Wann genau dies der Fall sein wird, darüber gehen die Meinungen wiederum auseinander – der Ansatz hat auch deshalb in den letzten Jahren innerhalb der DSA an Bedeutung verloren. Die Suche nach Alternativen fällt schwer: Sowohl die Befürwortenden einer parlamentarismuskritischen Herangehensweise als auch diejenigen, die die Zusammenarbeit mit der Demokratischen Partei fortsetzen wollen, konnten bisher keine langfristig tragfähigen Konzepte präsentieren. Die US-Linke – zivilgesellschaftlich durchaus weiterhin stark und vor allem in den Betrieben zunehmend wieder kampfbereit – wird auf eine stärkere parlamentarische Repräsentation wohl noch länger warten müssen.

Julian Alexander Hitschler

ist Journalist und Übersetzer und schreibt unter anderem regelmäßig über die US-Politik.

Thema in ak 708: US-Wahlen und die Linke

Thema in ak 708: US-Wahlen und die Linke