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»Es braucht ein Umdenken, bevor weitere Menschen sterben«

Zur Systematik staatlicher Legitimierung polizeilichen Tötens

Von Britta Rabe und Michèle Winkler

Wen rufst du an, wenn die Polizei mordet? Foto: IL Frankfurt

Überall, wo es Polizei gibt, wendet diese auch tödliche Gewalt an. Gewalt ist Kern polizeilicher Funktionsweisen. Der deutsche Staat führt selbst keine offiziellen Statistiken über Tode durch die Polizei, für Deutschland tragen mehrere zivilgesellschaftliche Initiativen die Informationen zusammen. Die Polizei ist gut davor geschützt, juristische oder disziplinarische Konsequenzen für durch sie verursachte Tode tragen zu müssen: Verschiedene staatliche und gesellschaftliche Rechtfertigungsmechanismen greifen ineinander, um tödliche Polizeigewalt zu legitimieren und konsequenzlos zu belassen. Der Menschenrechtsaktivist Biplab Basu analysierte dies 2016 so: »Der Fakt, dass jene Institutionen Hand in Hand arbeiten, bedeutet jedoch nicht, dass sie sich absichtsvoll miteinander absprechen und handeln. Es bedarf keiner Verabredung, wo bereits Konsens herrscht.«

Eine Palette von Instrumenten steht dafür zur Verfügung: Zunächst einmal bestimmt die Polizei selbst, wer verfolgungswürdig ist, wer als gefährlich gilt und als Sicherheitsproblem markiert wird, und dementsprechend, gegen wen sie welches Maß an Gewalt anwendet. Ihr Raster folgt nicht zufällig den gesellschaftlichen Ausschlussmechanismen wie Rassismus, Ableismus und Sexismus. Vor allem Schwarze, migrantisierte, arme und geflüchtete Menschen, Sexarbeiter*innen und Menschen mit physischen oder psychischen Gebrechen geraten damit ins polizeiliche Visier.

Ist es zu einer Tötung gekommen, startet das Framing, das einem bewährten Muster folgt: Die getötete Person wird nachträglich kriminalisiert – oft, indem ihr ein Angriff auf Polizeibeamt*innen oder Widerstand angelastet werden, im Zweifel sogar posthum.

Außerdem wird der körperliche Zustand des Verstorbenen bewertet: möglicher Drogen- oder Alkoholkonsum behauptet, psychische Erkrankungen und Vorerkrankungen werden aufgezählt. Die Todesursache ist demnach vordringlich beim Verstorbenen selbst zu suchen, beliebt ist die Deutung als »plötzlicher Herzstillstand«. 

Bei der Schilderung des Ablaufes, wie die Person zu Tode gekommen ist, bleiben die Beteiligung der Polizist*innen oder die Einsatzbedingungen dagegen außen vor: Die verstorbene Person sei »plötzlich kollabiert«, Beamt*innen hätten unverzüglich Erste Hilfe geleistet, leider sei die Person im Krankenhaus verstorben. Nun würden »neutrale« Ermittlungen durch eine andere Dienststelle geführt. 

Der Polizeiversion zufolge war die tödliche Gewalt entweder unausweichlich oder die Polizeibeteiligung wird in den Berichten außen vor gelassen. Oft reicht dies schon aus, um die Medienöffentlichkeit zufriedenzustellen und weitere Recherchen zu unterbinden. Auch die beauftragten rechtsmedizinischen Institute scheuen sich zumeist, die Todesursache zweifelsfrei den polizeilichen Handlungen zuzuordnen. Wenige Monate später erfolgt dann die Einstellung der Ermittlungen durch die zuständige Staatsanwaltschaft – dieselbe Staatsanwaltschaft, die täglich mit den Polizeibehörden zusammenarbeitet, gegen die sie in diesen Fällen zu ermitteln hat. 

Mannheim und Dortmund

Angesichts dieser Praxis ist es eine absolute Ausnahme, dass in diesem Jahr zeitgleich sogar zwei tödliche Polizeieinsätze vor Gericht verhandelt wurden. In Dortmund ist dies einer kritischen Stadtgesellschaft zu verdanken, die das polizeiliche Narrativ sofort infrage stellte, mediale Aufmerksamkeit erreichte und Ermittlungen einforderte. Die Stadtgesellschaft war schon lange mit der polizeilichen Gewalt in der Dortmunder Nordstadt vertraut und stellte die richtigen Fragen. Seit dem 19. Dezember 2023 läuft am Dortmunder Landgericht der Prozess gegen fünf Polizist*innen der dortigen Polizeiwache Nord. Sie sind des gewaltsamen Todes von Mouhamed Lamine Dramé angeklagt: Dem Schützen Fabian S. wird Totschlag vorgeworfen, drei weitere Polizist*innen sind wegen Pfefferspray- bzw. Tasereinsatz der gefährlichen Körperverletzung im Amt angeklagt, der Einsatzleiter wegen Anstiftung.

Mouhamed L. Dramé, ein junger Geflüchteter aus dem Senegal, stand am 8. August 2022 in sich gekehrt in dem winzigen Hof einer Dortmunder Jugendhilfeeinrichtung und hielt ein Messer auf seinen Bauch gerichtet. Bereits tags zuvor hatte er von Selbsttötungsabsichten gesprochen. Auf die Ansprache der Mitarbeiter*innen der Einrichtung reagierte er nicht. Diese wussten sich bald nicht mehr anders zu helfen, als die Polizei zu rufen. Der Anruf wurde von der Polizeidienststelle den gesamten Einsatz über gehalten und die Kommunikation zwischen Anrufer und Polizei aufgezeichnet. Im Hintergrund ist der Polizeieinsatz zu hören, zwischen dem Notruf und den tödlichen Schüssen vergingen nur 22 Minuten. Die Polizei setzte demnach Taser gegen Mouhamed ein, nur 0,7 Sekunden später folgten sechs Schüsse einer Maschinenpistole. Zuvor hatte der Dienstgruppenleiter den Einsatz von Pfefferspray befohlen, obwohl Mouhameds Situation unverändert war, er weiterhin unbeweglich an derselben Stelle lehnte. Als Mouhamed sich nach dem Pfefferspray aufrichtete, kamen Taser und dann die Maschinenpistole zum tödlichen Einsatz. Der Tonmitschnitt dient im Prozess als Hauptbeweismittel für die Anklage.

Die zunächst verbreitete Version von Polizei und NRWs Innenminister Reul von einem aggressiven Mouhamed, der auf die Beamt*innen mit einem Messer zugelaufen sei, konnte auf diese Weise der Lüge überführt werden. Zu offensichtlich unverhältnismäßig war das tödliche Polizeihandeln. Es wurde Anklage gegen fünf der elf am Einsatz beteiligten Polizist*innen erhoben. Seit Ende Januar 2024 sind Dank des Solidaritätskreises »Justice4Mouhamed« auch zwei Brüder Mouhameds im Prozess anwesend. Sidy und Lassana Dramé vertreten im Prozess die Familie als Nebenklage. Die Urteile werden für den 12. Dezember 2024 erwartet.

Nahezu zeitgleich startete am 12. Januar 2024 in Mannheim ein weiterer Strafprozess gegen zwei Polizeibeamte: Sie wurden für den gewaltsamen Tod des damals 47-jährigen Ante P. verantwortlich gemacht, der am 2. Mai 2022 im Rahmen eines Polizeieinsatzes auf dem Mannheimer Marktplatz verstarb. Ante P. hatte seit Jahrzehnten mit einer psychischen Erkrankung gelebt. Am Morgen des 2. Mai ging es ihm nicht gut. Er sollte stationär behandelt werden, blieb aber nicht im Mannheimer Zentrum für Seelische Gesundheit (ZI), worauf sein Arzt die Polizei rief. Die Beamten eskalierten die bis dahin ruhige Situation hin zu Ante P.s Tod. Eine Vielzahl von Augenzeug*innen hatten die polizeiliche Eskalation sowie die unterlassene Hilfeleistung mit eigenen Augen gesehen, teilweise dokumentiert und online verbreitet. Die Videos aus Mannheim zeigten Polizist*innen, die einen unbewaffneten Mann verfolgten, ihn zu Boden warfen, auf den Liegenden einschlugen und zeitweise auf ihm knieten oder saßen. Angesichts dieser Bilder war es für die Polizei unmöglich, von Notwehr zu sprechen.

Der Mannheimer Prozess ging nach acht dicht gefüllten Verhandlungstagen am 1. März 2024 mit einem skandalösen Urteil zu Ende, das von Ableismus geprägt war und psychisch kranke Menschen diskriminiert. Einer der Polizisten war wegen Körperverletzung mit Todesfolge in Tateinheit mit versuchter gefährlicher Körperverletzung im Amt angeklagt. Schuldig befunden wurde er nur der Körperverletzung im Amt, wegen vier Faustschlägen gegen den am Boden liegenden Ante P. Er soll eine Geldstrafe von 120 Tagessätzen à 50 Euro zahlen. Sein Kollege wurde freigesprochen. Ihm war fahrlässige Tötung durch Unterlassen vorgeworfen worden, weil er seinen Kollegen nicht zurückgehalten und Ante P. knapp sechs Minuten gefesselt in Bauchlage hatte liegen lassen, auch als dieser sich nicht mehr bewegte. Dieser Freispruch wurde Anfang August 2024 vom Bundesgerichtshof (BGH) bestätigt, die Revisionsentscheidung gegen das andere Urteil steht noch aus.

Eine Pressemitteilung der solidarischen Mannheimer »Initiative 2. Mai« zitiert Antonia P., die Schwester des Getöteten: »Meine Mutter und ich hoffen, dass das Urteil aufgehoben wird und eine neue Verhandlung stattfinden kann. Das Revisionsverfahren wird zeigen, dass die Verfahrensbeteiligten voreingenommen waren, weil die Angeklagten Polizisten sind. Die Opfer von Polizeigewalt müssen gegen ein ganzes gesellschaftliches Narrativ, ein staatliches System ankämpfen, in der Fehlerkultur nicht vorkommt. Wir kämpfen für Gerechtigkeit. Wir appellieren an die politischen Vertreter*innen: Ante war kein Einzelfall. Es braucht ein Umdenken, bevor weitere Menschen sterben. Aktuell werden in Mannheim wegen des Todes eines Polizisten in Grundschulen Schweigeminuten durchgeführt. Wir müssen über diese ungleiche Form des Gedenkens sprechen dürfen.« Antes Schwester spricht damit grundlegende Probleme an: Die tödlichen Folgen der Einsätze gegen Mouhamed und Ante sind keine Ausnahmen.

No Justice

Dass sich allerdings entgegen der sonstigen staatsanwaltschaftlichen »Erledigungspraxis« Polizeibeamt*innen entgegen ihren eigenen Erwartungen und der Versicherungen ihrer Vorgesetzten vor Gericht wiederfanden, ist eine Ausnahme. Oder wie es eine angeklagte Polizistin im Dortmunder Prozess formulierte: »Erst hat man uns gesagt, alles wird gut gehen, und auf einmal sitzt man vor Gericht.«

Doch auch die juristische Aufarbeitung verläuft nicht »neutral und objektiv«. Im Gericht bleiben die Ungleichheiten bestehen und wirken fort: Die Polizei erhält den üblichen Vertrauensvorschuss. Gleichgültig, ob angeklagt oder im Zeugenstand, die polizeiliche Praxis wird nicht im Kern hinterfragt, es kann in dem System des staatlichen Gewaltmonopols nur einzelne schwarze Schafe geben, niemals ein systemisches Versagen. Am Ende stehen ein Freispruch oder ein Strafmaß, das es den Angeklagten erlaubt, im Polizeidienst zu verbleiben.

Erst hat man uns gesagt, alles wird gut gehen, und auf einmal sitzt man vor Gericht.

eine angeklagte Polizistin

In der Verteidigungsstrategie im Dortmunder Prozess stand von Beginn an die Legitimation des tödlichen Waffeneinsatzes der Polizei im Zentrum: Einerseits wurde eine subjektive Notwehrsituation für die Polizeibeamt*innen heraufbeschworen. Schon am ersten Prozesstag ließ der angeklagte Schütze über seinen Verteidiger verlauten, er habe die Situation als »bedrohlich« wahrgenommen. Dabei wurde vor allem eines deutlich: Die Polizei behandelt systematisch jede Situation zunächst als potenzielle polizeiliche Eigengefährdung, die letztlich den Einsatz von (Schuss-)Waffen aus Notwehr legitimiert. In Dortmund sahen die Polizist*innen Mouhamed »schnell mit dem Messer auf sie zu rennen«, während anwesende Sozialarbeitende aussagten, Mouhamed habe sich langsamen Schrittes auf sie zu bewegt, seine Bewegungen hätten desorientiert gewirkt.

Die Verteidigung setzt dann auf die Delegitimierung dieser Zeug*innen, indem ihnen vermeintliche Widersprüche in ihren Aussagen unterstellt werden. Die Aussagen der Polizei hingegen werden als »professionell« und glaubhaft behandelt. Dabei wird unterschlagen, dass die Polizei nicht neutral sein kann, weder in ihrer Rolle als Zeug*innen, als Kolleg*innen und nicht als Institution.

Parallel wurde eine alternative Deutungsmöglichkeit in den Prozess eingeführt, um die tödliche Waffengewalt zu rechtfertigen: Um einem Selbstmord zuvorkommen, hätten die Beamt*innen schnell in die statische Lage interveniert, um Mouhamed D. zu retten. So fragt der Einsatzleiter: »Soll ich darauf warten, dass Herr Dramé sich das Messer in den Bauch rammt, und dann stehen da zwölf Polizisten und machen nichts?«

Die Unfehlbarkeit der Polizei wird im noch laufenden Prozess in Dortmund von der trotzigen These unterstrichen, die Polizei habe bei dem Einsatz im Hof der Jugendhilfeeinrichtung alles richtig gemacht. Dies soll vor Gericht auch damit bewiesen werden, dass es nach dem Einsatz keinerlei Nachbesprechung oder Evaluation gegeben habe. Stattdessen habe sich der Getötete falsch verhalten: Das Pfefferspray habe Mouhamed Dramé entwaffnen sollen, der Einsatzbefehl über Funk lautete »vorrücken, einpfeffern, das volle Programm, die ganze Flasche!«.

Mouhamed Dramé habe sich zudem nach den Schüssen vehement bewegt: Seine Arme langten zu seinem Bauch und Unterkörper, dies wurde als »wehrig« und gar als »renitent« bewertet. Später stellte sich heraus, dass er genau dort von den tödlichen Schüssen getroffen worden war. Insbesondere die bundesweit um sich greifende irrationale Erregung um sogenannte Messergewalt wird in Dortmund dienstbar gemacht: Unterschiedslos wird von »Messerlagen« gesprochen, auch wenn eine Person das Messer gegen sich selbst hält. Bereits im Notruf wurde gefragt, ob Mouhamed Dramé nicht eventuell ein zweites Messer habe.

Neben der versuchten Schuldumkehr wird die Selbstviktimisierung aktiviert: Der angeklagte Schütze erzählt in Dortmund vor Gericht, dass er unter den tödlichen Folgen des Einsatzes leide, er denke jeden Tag daran. Ausführlich erhält er in einer Podcastfolge des WDR und in Interviews die Gelegenheit, seine Gefühlslage zu beschreiben. Hier wird der Tod Mouhamed Dramés durch die Polizei endgültig zur reinen Tragik: Der Tod war unvermeidlich, fast ein Unfall, das Polizeihandeln aber angemessen und für die Polizei selbst am Belastendsten.

Die Strafprozesse zeigen, dass im Gericht für tödliche Polizeigewalt keine Gerechtigkeit hergestellt wird, und dies auch nicht das Ziel ist. Verurteilt wird als Ausnahme und zur Aussonderung einzelner »fauler Äpfel«, damit das System als Ganzes weiterbestehen kann. Hierdurch werden derartige Gerichtsprozesse jedoch nicht überflüssig: Sie dienen einer kritischen Zivilgesellschaft dazu, den dort verhandelten Einzelfall in einen breiteren Kontext zu stellen, tödliche Polizeigewalt als Ganzes zu thematisieren und als System zu kritisieren.

Britta Rabe

ist seit vielen Jahren in antirassistischen Initiativen aktiv – lokal bis transnational. Seit 2018 arbeitet sie als politische Referentin für Grenzen/Migration und Knast/Politiken des Strafens beim Grundrechtekomitee in Köln. Daneben ist sie in ihrer Freizeit u.a. beim »Watch the Med – Alarmphone« aktiv.

Michèle Winkler

ist politische Referentin beim Komitee für Grundrechte und Demokratie.

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