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Gleichzeitigkeiten

Progressive Jüdinnen*Juden fühlen sich von der Politik instrumentalisiert, aber auch in jüdischen Communities und unter Linken zunehmend einsam – können Bündnisse neu gedacht werden?

Von Julia Yael Alfandari

Gedenken a die von der Hamas am 7. Oktober 2023 entführten Geiseln vor der Neuen Synagoge in Berlin. Foto: picture alliance / Sipa USA / PRESSCOV

Innehalten und Trauern – ein Moment, ein Anspruch, der jüdischen Menschen seit dem 7. Oktober nicht nur verunmöglicht, sondern enteignet wird. Ich bin aufgewachsen mit einer Last, nämlich die Schuld der Deutschen zu tragen. Durch ihr mantrahaftes »Wir sind die historischen Täter*innen, die historischen Schuldigen« wurde von mir, stellvertretend für alle Jüdinnen*Juden, Versöhnung und Entlastung ersehnt. Das »bitte verzeih uns« oder die Nazi-Geschichte des Opas waren Standardprogramm, sobald meinem Gegenüber klar wurde, dass ich jüdisch bin. Oft denke ich darüber nach, wie durch diese übereifrige Täter*innen-Markierung letztendlich eine Täter*innen-Opfer-Verschiebung stattfindet, denn in der Selbstkasteiung »wir sind so schlimm, bitte habt Erbarmen mit uns« verbirgt sich der bittere Beigeschmack einer opferinszenierten Anklage: »sind wir doch Opfer Eures ewigen Blicks, Eures Leids.« 

Diese Last lässt kaum Raum für ein selbstbestimmtes Trauern, denn der figurative Jude wurde in der bundesrepublikanischen post-migrantischen Gesellschaft zu einem Objekt des Begehrens, der für das Selbstverständnis einer mit sich versöhnten und moralisch guten deutschen Gesellschaft steht. Seit dem 7. Oktober erleben wir eine Zuspitzung dieser partikularen Fokussierung auf und Funktionalisierung von jüdischen Körpern, und darüber sollten wir nachdenken. 

Der Kampf gegen Antisemitismus wird instrumentalisiert

In den Tagen und Wochen nach dem terroristischen Angriff der Hamas auf Israel, schmückten sich Politiker*innen mit ihrer Israel-Solidarität und verschärften zugleich die Migrations- und Flüchtlingspolitik, begründet mit dem Anstieg antisemitischer Übergriffe. Wie also Raum für Trauer schaffen, wenn die Trauer für politische Zwecke instrumentalisiert und enteignet wird, wodurch andere Leid und Ausgrenzung erfahren? Antisemitismus zu bekämpfen gilt dabei nicht ausschließlich dem Schutz von Jüdinnen*Juden, sondern wird ebenso als Ausschlusskriterium gegen Minderheiten und Migrant*innen benutzt, die nicht in »unsere« geläuterte »gute« deutsche Gesellschaft passen. Wenn etwa ein Hubert Aiwanger im Oktober 2023 sagt, »das« habe man zu lange totgeschwiegen und damit die Zuwanderungspolitik (als Grund für die Zunahme von Antisemitismus) meint, dann ist das nicht nur eine höhnische Auslagerung der eigenen antisemitischen Vergangenheit, sondern bagatellisiert durch die zunehmend einseitige Fokussierung auf »postkolonialen« und »migrantischen« Antisemitismus den strukturellen und konkreten Antisemitismus der weißen Dominanzgesellschaft. 

Der 7. Oktober hat die Zugehörigkeitsmechanismen verengt. Wir erleben, wie Antisemitismus mit Rassismus bekämpft wird.

Diese Instrumentalisierung und Funktionalisierung der Erinnerungskultur ist nicht neu, aber der 7. Oktober hat die Zugehörigkeitsmechanismen verengt. Wir erleben, wie Antisemitismus mit Rassismus bekämpft wird. Wie Jüdinnen*Juden für rechte Hetze und rassistische Flüchtlingspolitik herangezogen werden, dafür, rechtspopulistische Politik zu rechtfertigen. Eine Politik, die nicht weit entfernt ist von jener der AfD: Hinter jedem »Migranten« steckt potenziell ein Antisemit. Damit buhlt man um Wähler*innenstimmen am rechten Rand, aber bekämpft sicher keinen Antisemitismus. Im Gegenteil. Statt in profunde Bildungsarbeit und Dialog zu investieren, wird auf Polizeigewalt, Repressionen und Abschiebungen im großen Stil gesetzt. Es ist auch eine Politik, die in ihrer Dreistigkeit kaum zu überbieten ist, wenn der Tod und die Ausgrenzung anderer (Palästinenser*innen/Migrant*innen) mit den einstigen Opfern der Deutschen (Jüdinnen*Juden) gerechtfertigt wird. 

Diese Politik spaltet und radikalisiert. Und diese Politik trägt auch etwas Antisemitisches in sich, denn es ist die deutsche Dominanzgesellschaft, die entscheidet, wer ein »guter« und wer ein »schlechter« Jude ist. So passt es nicht in das deutsche Weltbild ihres »Juden«, wenn dieser sich mit anderen rassifizierten Menschen verbündet oder gar gegen den Krieg in Gaza und die israelische Besatzungspolitik agiert. Im Ergebnis lenkt die Instrumentalisierung von Antisemitismus gegen Linke und Migrant*innen vom wachsenden Rechtsruck ab, der uns längst überrollt: Am 8. Oktober 2023 gab die Bevölkerung in Bayern den Freien Wählern zusammen mit der AfD und der CDU/CSU mehrheitlich ihre Stimmen, trotz Aiwangers Flugblatt-Affäre, und die jüngsten Wahlen in Thüringen, Sachsen und Brandenburg sprechen Bände über die rechte Gesinnung in unserer Gesellschaft. 

Unsere Lebensrealität hat sich radikal verändert

Bei all dieser Last und Wut, bei all dieser Verunmöglichung einer selbstbestimmten Trauer, macht auch mir der virulent angestiegene Antisemitismus Angst. Wir haben ein ernsthaftes Antisemitismus-Problem in Deutschland; in Zeiten, in denen der Nahostkonflikt eskaliert, hat Antisemitismus hierzulande Hochkonjunktur. Er existiert auch in linken Kreisen und ist ebenso in Teilen migrantischer Communities verankert. Ich trage eine Kette mit einem Anhänger auf dem steht חי, was auf Hebräisch »Leben« bedeutet. Ich trage ihn meist versteckt oder stecke ihn rasch unter mein Hemd, wenn ich mich an bestimmten Orten bewege, auf bestimmten Partys, Veranstaltungen, im Späti oder Taxi bin. Ich verstecke, dass ich jüdisch bin aus Furcht davor, andere zu triggern, aus Furcht vor der Konfrontation, vor den Blicken und der Projektion auf mich. 

Ich kann verstecken, dass ich jüdisch bin. Ein Privileg, das Schwarze Menschen und People of Colour (except white passing ones) nicht haben. Und dennoch ist das Unbehagen in diesen Zeiten groß. Seit dem 7. Oktober 2023 und dem anhaltenden Krieg in Gaza ist für viele jüdische Menschen ein Sicherheitsgefühl und ein Gefühl der Zugehörigkeit unter Teilen der Linken weggebrochen. Jene von uns Jüdinnen*Juden, die sich als Linke bezeichnen, fühlen sich einsam, haben Friends und Verbündete verloren. Auch in der jüdischen Gemeinschaft fühlen sich viele von uns, die sich offen gegen den Krieg und die Besatzungspolitik aussprechen, nicht mehr willkommen. 

Viele meiner jüdischen Friends sind kraftlos und mental am Ende. Uns wird das Recht genommen, zu trauern und Angst zu haben.

In letzter Zeit verschärft sich der Druck auf progressiv denkende und handelnde Jüdinnen*Juden, die sich für eine gerechte und friedliche Lösung im Nahen Osten einsetzen. Auf linke jüdische Menschen, die Humanität und Gerechtigkeit für alle im Blick haben. Es stimmt, progressive jüdische Stimmen in der Diaspora waren noch nie mehrheitsfähig, aber umso wichtiger ist es, sie zu stärken, denn jüdisches Leben in der Diaspora ist alles andere als homogen und harmonisch. Genau das macht ein demokratisches und plurales Zusammenleben aus. 

Unsere Lebensrealität als progressive Jüdinnen*Juden hat sich seit dem 7. Oktober 2023 radikal verändert. Viele meiner jüdischen Friends sind kraftlos und mental am Ende. Uns wird das Recht genommen, zu trauern und Angst zu haben. Denn während man von jüdischer Seite oft als Nestbeschmutzer*in beschimpft und von der Mehrheitsgesellschaft funktionalisiert wird, heißt es aus manch linker Ecke: »Ihr gehört zu den Tätern, seid mitverantwortlich für das, was in Gaza und im Libanon passiert.« Schnell heißt es, Antisemitismus sei »staatlich überzentriert«, weshalb man ihn nicht ernst nehmen und sich nicht mit uns solidarisieren könne. 

Partikular geführte Kämpfe spielen den Rechten in die Hände

Ich finde es falsch und sehr besorgniserregend, dass jüdische Menschen immer seltener in antirassistischen Kämpfen mitgedacht, nicht als Opfer von Judenhass anerkannt werden, sondern nur als »wertvoll« gelten, wenn sie sich radikal antizionistisch äußern. Es ist schmerzhaft zu sehen, wie jüdische Menschen und Israelis, besonders in Deutschland, als feindlich in Teilen der linken Bewegungen stilisiert werden. Diese Ausgrenzung zu benennen und zu kritisieren ist wichtig, und es würde ein starkes Zeichen setzen, wenn linke, propalästinensische Gruppen auch die Lebensrealität von Jüdinnen*Juden mitdenken würden. Durch Unsichtbarmachung befördern sie stattdessen das Narrativ, dass Antisemitismus von links komme und sich primär in der Positionierung zu Israel äußere. Dabei stehen viele progressive jüdische Menschen dafür ein, dass dieser gewaltvolle und katastrophale Krieg ein Ende nimmt. Und dass die illegale Besatzung in der Westbank und Ostjerusalem ein Ende nimmt. Sie zentrieren eine Verantwortlichkeit gegenüber universeller Menschlichkeit, anstelle von Nationen.

Es gehört aber auch zur Wahrheit, dass Israel für viele jüdische Menschen eine wichtige Rolle spielt und als Zufluchtsort oder Zuhause dient. Für viele deutsche Jüdinnen*Juden ist die emotionale DNA und Sozialisation verwoben mit dem Zustand vor Ort, dem Unrecht und der Hoffnung. Die politische Situation in Israel, die rassistische Politik gegen die palästinensische Bevölkerung, hat das emotionale Gerüst, das Gefühl von Hoffnung und Sicherheit für viele linke und progressive Jüdinnen*Juden zerrüttet. Es wäre schön, wenn unsere »jüdische« Trauer auch Platz in den linken politischen Struggles und Gesprächen fände. 

Gegenwärtig beobachte ich jedoch, dass Kämpfe sehr partikular geführt werden und Communitys segregiert verlaufen. Das ist unsere Verdammnis. Die Politik der Dominanzgesellschaft setzt auf Divide and Rule, auf eine nicht geeinte Linke. Wenn wir die Spaltung zulassen und es nicht schaffen, die Differenz, die Sorgen und die Trauer im Anderen auszuhalten, auch wenn sie weh tut oder uns widerstrebt, dann spielen wir den Rechten in die Hände. Alicia Garza, Mitbegründerin der Black Lives Matter-Bewegung in den USA, sagte in einer ihrer Reden aus dem Jahr 2017: »People build power. We do that through being organized. Through collaboration and coalition, alliance and alignment. When people are organized, they build power. (…) The movements of tomorrow must commit to organizing that transforms us, movements that call us back to our humanity.«

Wir alle haben eine Verantwortung zur Menschlichkeit. Sicher sind wir erst, wenn das Sterben und die Zerstörung ein Ende nehmen. Mein Herz blutet für all die unzähligen Opfer. 

Julia Yael Alfandari

ist diskriminierungskritische Bildungsreferent*in und Kulturschaffende.

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