Von unten
Aufgeblättert: »Die Lage« von Mesut Bayraktar
Von Joshua Graf
Mesut Bayraktar skizziert in seinen 18 Kurzgeschichten eindrucksvoll die Lebensrealität, jener Subalternen, die ansonsten kaum Inhalt des bürgerlichen Literaturgeschehens sind. Dabei gelingt es ihm die Fiktion des Alltags als auch jene des vermeintlichen Schicksals zu entzaubern. Die Geschichten protestieren gegen die herrschende Naturalisierung von Unterdrückung und Ausbeutung. Der Autor versteht es, die »soziale Gewalt«, wie er es nennt, der bürgerlichen Gesellschaft in ihrer Subtilität offenzulegen. Die besondere Leistung von Bayraktars Literatur besteht darin, gegen die Selbstverständlichkeit und das Vergessen anzuschreiben. Er offenbart die beschriebenen Härten des proletarischen Lebens als die Konsequenzen der eingerichteten Ordnung, und genau darin schimmert stets die emanzipatorische Perspektive auf.
Neben den Zumutungen schildert Bayraktar den tief liegenden Wunsch nach einem besseren Leben als revolutionäres Potenzial. So gelingt es ihm, ein authentisches Bild derer zu zeichnen, die sonst nur als Statist*innen vorkommen sollen. Die Geschichten präsentieren eine subalterne, oft migrantische Klasse zwischen Gewalterfahrung und Armut, aber eben auch Solidarität, Menschlichkeit und Begehren. Brecht verkündete einst: »Es ist Mut nötig, zu solchen Zeiten von so niedrigen und kleinen Dingen wie dem Essen und Wohnen der Arbeitenden zu sprechen, mitten in einem gewaltigen Geschrei, daß Opfersinn die Hauptsache sei« – Mesut Bayraktar bringt diesen Mut auf und verbindet ihn mit literarischer Schärfe in einem überaus empfehlenswerten Werk.
Mesut Bayraktar: Die Lage. Autumnus Verlag, Berlin 2024. 310 Seiten, 19,95 EUR.