Lebensgeschichten
Von Nane Pleger
Aufgeblättert: »Der Fluss und das Meer« von Natascha Wodin
Natascha Wodin bekam 2017 den Preis der Leipziger Buchmesse in der Kategorie »Belletristik«. Ihr Name ist Vielen trotz dieses prestigeträchtigen Preises aber eher unbekannt. Dass dies anscheinend nicht nur am sexistischen Literaturmarkt liegt, der nicht-männlichen Autorinnen notorisch weniger Aufmerksamkeit schenkt, wird Leserinnen ihres im Dezember 2023 erschienenen Erzählbandes deutlich – ihre Gesundheit hat es nie zugelassen, dass sie an Lesereisen, Podiumsdiskussionen und Forschungsaufenthalten teilnahm. Im Weg zur breiten Öffentlichkeit stand ihr immer die »dämonische Macht des Verdrängten« (S. 188).
Von dieser Macht schreibt sie, wie schon in ihren andern Büchern, in einer berührenden, kunstvollen Sprache. In den fünf Kurzgeschichten von »Der Fluss und das Meer« versucht sie, ihrem Ursprung auf den Grund zu gehen, und erzählt dabei von ihrer Geschichte als Tochter ukrainischer Zwangsarbeiter*innen, die nach 1945 als »displaced persons« traumatisiert und ausgegrenzt in Deutschland blieben. Wodins Lebensgeschichte und ihre Geschichten erzählen davon, wie es ist, Außenseiterin zu sein, eben nicht gehört oder überhaupt gesehen zu werden und wie es ist, immer wieder am Leben zu scheitern.
Es ist beeindruckend, welch gewaltig zarte Sprache sie für dieses eigentlich Ungesagte findet. Sie gibt sich und Menschen eine Stimme, die aufgrund von Rassismus und Klassismus im Literaturbetrieb meist nicht wahrgenommen werden. Es ist dabei eine intelligente, literarische Analyse der Gegenwart und der ihr zugrundliegenden strukturellen Ungerechtigkeit.
Natascha Wodin: Der Fluss und das Meer. Rowohlt, Hamburg 2023. 192 Seiten, 22 EUR.