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|ak 707 | International

Zwischen Souveränität und Fernverwaltung

Die Krise Haitis könnte unter lokaler Beteiligung gelöst werden, das droht aber wieder zu scheitern

Von Paul Dziedzic und Johannes Tesfai

Begrüßungszene für kenianische Polizist*innen. Sie stehen nebeneinander in einer Reihe und Tragen Tarnfarben, Maschinengewehre und Helme. Auf der rechten Seite begrüßt eine Gruppe einen Polizisten nach dem nächsten. Als erstes ein Mann im hellblauen Hemd und einem Pin mit der haitianischen Flagge.
Die Schulter-Patches wechseln, das Problem bleibt. Interims-Premierminister Garry Cornille begrüßt die kenianische Polizei. Foto: picture alliance / Anadolu / Guerinault Louis

In der jüngsten Fernsehdebatte des US-Präsidentschaftswahlkampfs streute der republikanische Bewerber Donald Trump gegen Kamala Harris ein von Rechten online verbreitetes Gerücht, demzufolge haitianische Geflüchtete in der Stadt Springfield die Haustiere der »Alteingesessenen« entführen und essen würden. Natürlich ist die Geschichte aus der Luft gegriffen, nun zieht sie aber weite Kreise. Geflüchtete aus Haiti müssen in den USA schon länger als Schreckgespenst in Diskursen über Migration herhalten, dabei ist die Flucht Vieler das Ergebnis jahrzehntelanger US-Einmischung in dem Inselstaat. Haiti war in den letzten Monaten wieder in aller Munde. Das Land erlebt eine veritable Krise und den Zusammenbruch der staatlichen Ordnung, seitdem Banden Teile der Hauptstadt Port-au-Prince unter ihre Gewalt gebracht haben. Diese Entwicklung führt weltpolitisch zum paternalistischen »Haiti-Helfen«-Syndrom. Dem Land wurde, seit dem die Gang-Gewalt eskaliert und Premierminister Ariel Henry zurückgetreten ist, keine guten Prognosen ausgestellt. Schnell wurde das koloniale Erklärungsmuster von der Unterentwicklung Haitis bemüht. Auf der politischen Ebene war man zugleich bemüht, nicht den Eindruck entstehen zu lassen, mal wieder die Haitianer*innen aus dem Prozess der Krisenbewältigung auszuschließen. Aber die jetzt eingeleitete Entwicklung ist keineswegs eine Abkehr des Kreislaufes von Krise und Intervention. (ak 703)

Hilfe und Einmischung

Nachdem der Bandenführer Jimmy Chérizier Anfang des Jahres in die Offensive gegangen war, ging es im März recht schnell: Nach einer Auslandsreise konnte Premierminister Henry aufgrund der Eskalation nicht zurück und bot über Facebook seinen Rücktritt an. Nun lenkt ein Übergangsrat die Geschicke des Landes.

Dem Übergangsrat gehören neun Mitglieder aus politischen Parteien Haitis, aber auch aus der Wirtschaft an. Die Initiative hierzu ergriff die Karibische Gemeinschaft (CARICOM), ein Zusammenschluss karibischer Staaten, die traditionell vor allem den USA und Großbritannien nahe stehen und deren bevölkerungsreichstes Mitglied Haiti ist. US-Außenminister Anthony Blinken war ebenfalls Teil der Initiative. Ziel des Übergangsrates sollen ordentliche Wahlen innerhalb von zwei Jahren sein. Die Einsetzung des Übergangsrates geschah aber wie in früheren Krisen ohne haitianische Beteiligung. Nach dem verheerenden Erdbeben 2010, das Staat und Gesellschaft in eine große Krise stürzte, übernahm die von der UN eingesetzte sogenannte Core Group die Macht im Land. In der Gruppe, unter dem Vorsitz des UN-Sondergesandten für Haiti, waren Vertreter*innen der USA und der EU, aber auch Deutschlands, Spaniens, Frankreichs und Brasiliens.

Haitis Geschichte nach der früh erkämpften Unabhängigkeit ist eine Geschichte ausländischer Interventionen, vor allem seitens der USA, aber auch der alten Kolonialmächte Spanien, Frankreich und des Vereinigten Königreichs. Die letzten Krisen führten zu einem verstärkten Eingreifen der USA, die das Land seit Beginn des 20. Jahrhunderts als ihren politischen Hinterhof betrachten. Im Gegensatz zur Core Group sitzen die internationalen Vertreter*innen nicht mehr direkt am Tisch. Weil Haiti immer wieder Opfer internationaler Interventionen war, gibt es in der Bevölkerung ein berechtigtes Misstrauen gegenüber mächtigeren Staaten, die versuchen, die Kontrolle zu übernehmen. Die Blauhelme der UN, die im Zuge des Erdbebens entsandt wurden, schleppten Cholera ein, über hundert Soldaten machten sich des sexuellen Missbrauchs schuldig.

Trotz ihrer Verortung in der Linken vertritt das Parteienbündnis Partis Politiques du 30 Janvier die Position, dass das Land Hilfe aus dem Ausland annehmen sollte.

Der neu gebildete Übergangsrat spiegelt in der Frage über die Rolle des Auslands auch die Konfliktlinien innerhalb des Landes wider. Und es stellt sich immer wieder die Frage, wer als linke Kraft in der Auseinandersetzung um die Zukunft des Landes auftritt. Das Parteienbündnis Partis Politiques du 30 Janvier konnte einen Vertreter in den Rat entsenden, dem Bündnis gehört auch die OPL (Organisation des kämpfenden Volkes) an. Teile der OPL stammen aus der PUCH, einer kurzlebigen kommunistischen Partei, die 1969 vom damaligen Diktator François Duvalier verboten wurde. Weitere Teile stehen der Partei Fanmi Lavala nahe, von der sie sich auch abgespalten haben. Fanmi Lavala ist die sozialdemokratische Partei des ehemaligen Präsidenten Jean-Bertrand Aristide, der für seine Reformabsichten 1991 vom Militär aus dem Amt geputscht wurde – mit Rückendeckung der USA. Trotz ihrer Verortung in der Linken vertritt das Parteienbündnis Partis Politiques du 30 Janvier die Position, dass das Land Hilfe aus dem Ausland annehmen sollte.

Dem steht die Position des Montana-Abkommens gegenüber. Dieses Bündnis aus der Zivilgesellschaft und mehreren Parteien wurde nach der Ermordung von Präsident Jovenel Moïse 2021 gegründet. Das Montana-Abkommen gilt als Bündnis, das sich für eine haitianische Lösung einsetzt, nach der innerhalb von zwei Jahren eine neue Regierung gewählt werden soll. Internationale Organisationen und NGOs sollen in diesem Prozess keine besondere Rolle spielen. Auch das Montana-Abkommen ist mit einer Person im Übergangsrat vertreten.

Polizei – und dann?

In ak 703 argumentierte der haitianische Kulturschaffende Eliezer Guérisme, dass die internationale Gemeinschaft »in Haiti immer die Rolle von Brandstifter und Feuerwehr zugleich gespielt« habe. Im gleichen Interview konstatiert die Filmemacherin Sephora Monteau: »Auffällig ist ein koloniales Kontinuum in der Art und Weise, wie die westlichen Mächte das haitianische Problem behandeln, indem sie jeder endogenen Lösung der Krise feindlich gegenüberstehen.«

Die internationale Einmischung hat bereits konkrete Formen angenommen. Schon während Henrys Amtszeit erteilte die UN ein Mandat für eine Polizeimission, angeführt von Kenia und bezahlt größtenteils von den USA. Nach einer Klage zivilgesellschaftlicher Gruppen und Oppositionsparteien kippte Kenias höchstes Gericht die Entscheidung mit der Begründung, dass es sich nicht um eine gegenseitige Vereinbarung mit Haiti gehandelt habe. Ganz aufhalten konnten die Gegner*innen die Mission bisher nicht – jetzt ist sie angelaufen – bisher sind 400 der geplanten 1.000 kenianischen Polizist*innen in Haiti angekommen.

Clinton steht bis heute für das Versagen der gesamten Hilfsmaschinerie.

Auch in der Ernennung von Garry Conille durch den Übergangsrat zum Interimspremier zeigt sich eine Kontinuität in der außenpolitischen Orientierung der politischen Klasse des Landes. Entscheidend für Conilles Ernennung wird seine Erfahrung im Apparat der UN gewesen sein, für die er jahrelang als Bürokrat gearbeitet hat. Seine wahrnehmbarste Position war wohl die als Stabschef des UN-Sondergesandten für Haiti, des ehemaligen US-Präsidenten Bill Clinton. Dieser hatte nach dem Erdbeben 2010 versprochen, Haiti »besser wieder aufzubauen« (»build back better«). Daraus ist bekanntlich nichts geworden. Clinton steht bis heute für das Versagen der gesamten Hilfsmaschinerie, mit versprochenen und nie ausgezahlten Milliarden US-Dollar und weiteren in undurchsichtige Kanäle abgeschöpften Geldern. Deshalb ist fraglich, ob Conille ausreichend Distanz zu den internationalen Institutionen hält, um sich die Akzeptanz der Bevölkerung zu sichern. Denn die internationalen Institutionen waren es, die Haiti immer weiter in den Abgrund gestürzt haben.

Johannes Tesfai

ist Redakteur bei ak.

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