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Blockierte Lebensader

In der kolumbianischen Pazifik-Region Chocó leben die indigenen Embera-Gemeinden im Kreuzfeuer des Paramilitarismus

Von Andreas Hetzer

Straßenszene, von oben photographiert. Blick auf einen Laden, an der Wand zwei Graffiti mit der (teil)aufschrift AGC. ein Kind schaut von der Straße hoch.
Unter anderem mit Graffitis macht die paramilitärische Gruppe AGC ihre Präsenz bemerkbar, wie hier in Puerto Meluk. Foto: Kommunikationsteam der Karawane

Die Reise begann unter schlechten Vorzeichen. Exakt zwei Tage vor Beginn der Humanitären Karawane für das Leben, den Frieden und dem Verbleib im Territorium kündigte die Guerilla-Organisation ELN (»Nationale Befreiungsarmee«) einen bewaffneten Streik in verschiedenen Flüssen und Straßen der Region Chocó in Kolumbien an. Die Erklärung der Guerilla begründete die Maßnahme damit, dass paramilitärische Einheiten des Clan de Golfo vermehrt in der Region am Pazifik präsent seien und mit dem staatlichen Militär zusammenarbeiten würden. Zuletzt war es Anfang August zum Aussetzen der Friedensverhandlungen zwischen ELN und Regierung in Bogotá und damit zum Ende des gegenseitigen Waffenstillstandes gekommen. Für die Vereinten Nationen und Regierungsvertreter war das ein willkommener Anlass, um kurzfristig ihre Teilnahme an der Karawane abzusagen.

Diese wurde vom Red de Hermandad y Solidaridad con Colombia (RedHer) organisiert, das seit 1996 kolumbianische und internationalistische Aktivist*innen zusammenbringt. Der Besuch der Gemeinschaften im Chocó hat zum Ziel, auf die humanitäre Krise in der Region aufmerksam zu machen und den Widerstand der afrokolumbianischen und indigenen Gemeinschaften in ihrem Kampf gegen Gewalt und Vertreibung zu unterstützen.

Trotz der widrigen Umstände trafen sich am Morgen des 13. August politische Aktivist*innen aus verschiedenen Regionen Kolumbiens, dem Baskenland, Deutschland, El Salvador, Kanada, Brasilien und Guatemala und den USA in Istminá, um die mühsame Reise zu den Afro- und Indígena-Gemeinden am Baudó-Fluss anzutreten, der 150 km lang parallel zur Pazifikküste verläuft.

Ort der Freiheit

Der Morgenhimmel ist noch grau verschleiert vom nächtlichen Dauerregen, doch schon bald kämpft sich die Sonne durch die Wolken. Das typisch feucht-tropische Klima legt einen klammen Film über die Haut. In zwei dekorativ geschmückten, zu Bussen umgebauten Lkws mit langen Sitzbänken geht es über die teils gefährliche Piste nach Puerto Meluk, einem der Hauptumschlagsplätze für Waren und Lebensmittel in der Region.

Die internationale Besetzung der Karawane und die Anwesenheit von Menschenrechtsorganisationen sind der Garant, um das von Militärs, Paramilitärs und Guerillas umkämpfte Territorium überhaupt betreten zu können. Die Anwesenheit bewaffneter Gruppen ist bereits in Puerto Meluk augenscheinlich. Zahllose Graffitis in schwarzen Lettern prangen an Fassaden und Mauern: AGC Presente. Die Autodefensas Gaitanistas de Colombia (AGC) sind Teil des Clan de Golfo, einem der größten paramilitärischen Verbände Kolumbiens, und für massive Vertreibungen in Chocó verantwortlich. Beim Warten auf die Boote am Anleger mit einem Kaffee aus grünen Plastikbechern gesellt sich ein junger Mann in Shorts und Badelatschen dazu. Er will wissen, wer genau die Reisenden sind und was sie hier vorhaben. Seine Detailversessenheit und Insistenz sind verdächtig. Informant*innen und Infiltration sind Teil des Programms und verstärken die Einschüchterung der Bevölkerung, offen über ihre Probleme und die Repression reden zu können.

Wir sind hier reich, nirgendwo sonst gibt es so viel Artenreichtum.

Riquelme

Von Puerto Meluk aus geht es in vier langen Booten aus Fiberglas weiter. »Es ist Winter«, sagt Riquelme, der eines der Boote gekonnt navigiert. In Chocó bedeutet es Regenzeit bei um die 32 Grad. Die grüne Farbpalette der Vegetation am Ufer, das glitzernde Wasser und der tiefblaue, fast wolkenlose Himmel verbreiten eine Idylle, auf die Riquelme stolz ist. »Wir sind hier reich, nirgendwo sonst gibt es so viel Wasser und Artenreichtum an Pflanzen und Tieren.« Er kennt den Fluss wie seine Westentasche. Riquelme ist in Cugucho aufgewachsen, einer afrokolumbianischen Gemeinde am oberen Baudó Fluss.

Nach sechs Stunden in gleißender Sonne erreicht die Gruppe ihr Ziel, die indigene Gemeinde Catrú, gelegen an einer Flusskreuzung. Der Baudó galt lange Zeit als »Ort der Freiheit«, denn er wurde nicht wie andere Flüsse der Region Chocó kolonisiert. Im Gegenteil, mit Hilfe der Indigenen fanden versklavte Menschen aus Afrika hier Zuflucht, die aus den Goldminen über die Berge an den Baudó flohen.

Bild eines Mannes, der ein Boot navigiert, im Hintergrund die Wasserfront einer kleinen Stadt am Fluss.
Riquelme. Foto: Kommunikationsteam der Karawane

Frauen stehen kniehoch zwischen den Holzbooten im Wasser, schlagen die eingeseifte Wäsche auf Steine und auf die Wasseroberfläche. Andere säubern das Plastik- und Aluminiumgeschirr. Am anderen Ufer werfen Jugendliche ihre Angelsehnen in den Strom. Der Fluss ist die Lebensader und Treffpunkt der Embera Dobidá, was übersetzt Menschen vom Fluss bedeutet.

Über die Betontreppen mit gelb gestrichenem Geländer geht es zum zentralen Treffpunkt von Santa Catalina de Catrú. Er besteht aus einem zweistöckigen Schulgebäude und einem Bolzplatz aus Beton, an beiden hat der Zahn der Zeit genagt. Dahinter eine Krankenstation mit mehreren Behandlungszimmern, was keinesfalls selbstverständlich ist in den Dörfern der Region. Darüber prangt ein Schild »IPS Indígena Jai Kera. Für das Recht auf Gesundheit der indigenen Völker«.

An einem Stützpfeiler ist eine verblasste Marien-Statue mit Drahtschlingen befestigt, auf der anderen Seite ein lebensgroßer Jesus am Holzkreuz. Erst später wird beim Läuten der Glocke offenbar, dass es sich um die ehemalige Kirche handelte. Heute ist es der Versammlungsplatz. Anania Tunay, eine junge selbstbewusste Frau, erklärt, dass die Gemeinde den Pfarrer hinausgeschmissen hat. Sie sieht das kritisch. Man könne nicht ewig an die Allgegenwart von Geistern glauben, wie es ihre Großeltern taten. Auf diese Weise käme ihr Volk nie voran.

Das sehen nicht alle so. Spirituelle Autorität sind nach wie vor traditionelle Heiler (jaibaná). Die Bewohner*innen konsultieren diese bei Krankheiten. Da mutet es seltsam an, dass der hiesige Arzt, der von der Krankenkasse bezahlt wird und zumindest seit einem halben Jahr im Dorf lebt, den jaibaná nicht kennt. Er klagt darüber, dass Erkrankte erst dann zu ihm kommen, wenn die jaibaná nicht weiter wüssten, manchmal zu spät. Allem Anschein nach ist die Verständigung zwischen traditionellen und schulmedizinischen Behandlungsmethoden alles andere als einfach.

Porträt einer Frau, die in die Kamera schaut, im Hintergrund ein Hof und ein Wald.
Anania Tunay. Foto: Kommunikationsteam der Karawane

Die erfahrenen Hebammen jedenfalls freuen sich über die Anwesenheit des Arztes. Für die Geburten fehlt es an Infrastruktur, Equipment gibt es kaum. Auch pränatale Untersuchungen seien kaum möglich. Laut einer Hebamme fehlten vielen Frauen die notwendige Ruhe nach der Schwangerschaft, denn schon bald nach der Geburt gehen viele zurück zur Care-Arbeit oder das Beackern der Felder.

Anania beklagt, dass viele Mädchen auch kaum Zugang zu Bildung hätten, sodass die meisten von ihnen kein Spanisch sprächen. Sie selbst ist da eher die Ausnahme, weil ihr Vater sie aus Angst vor Verschleppung durch Paramilitärs mit 16 Jahren in die Stadt schickte, wo sie als Hauskraft arbeitete und in der Schule die Zweitsprache lernte. Im Gegensatz dazu sprechen die meisten Männer Spanisch, weswegen sie in der Regel die Entscheidungspositionen besetzen.

Patrouillen und Sperrzonen

Die erhofften Versammlungen und Interviews verzögern sich, weil das vom Staat anerkannte indigene Selbstverwaltungsgebiet weit davon entfernt ist, mit einer Stimme zu sprechen. Allein in der Gemeinde Catrú gibt es sechs verschiedene Cabildos, eine Art Ältestenrat und Entscheidungsgremium mit einem Gouverneur als höchste Autorität an der Spitze. Sie werden sich nicht einig, wer mit wem und vor allem für wen sprechen darf. Der fehlende Zusammenhalt macht es bewaffneten Akteur*innen leichter, die Territorialkontrolle auszuüben. Und da es keinen selbstorganisierten Schutz gibt, steigt unter anderem die Zahl ermordeter indigener Aktivist*innen in den letzten Jahren. Der Bericht der NGO Global Witness von 2024 liest sich wieder einmal mit Schrecken. Kolumbien gilt weltweit als das gefährlichste Land für Menschenrechts- und Umweltaktivist*innen. 2023 wurden 79 Kolumbianer*innen ermordet, darunter zahlreiche Indigene.

Die Bewohner*innen von Catrú berichten, dass die AGC täglich über den Fluss patrouilliert. Manchmal verhängen die Paramilitärs Sperrzonen, sodass sie nicht auf ihre Felder oder fischen können. Für eine Selbstversorgergemeinde bedeutet es das Ende, auch, weil die Fischbestände in den letzten Jahren extrem abgenommen hätten. Nach Angaben des UN-Büros für die Koordinierung humanitärer Angelegenheiten (OCHA) waren im Jahr 2022 knapp 24.000 Menschen aufgrund von Auseinandersetzungen zwischen bewaffneten Gruppen am oberen Baudó in ihren Dörfern eingeschlossen. Damit sind sie von ihrer Nahrungsmittelversorgung und Hilfe von außen vollkommen abgeschnitten. Niemand traut sich inmitten der Kämpfe, den Fluss als einzige Verbindung zu durchqueren.

Die linke Regierung Gustavo Petros führt in der Region verstärkt militärische Operationen unter dem Namen Titán durch, um dem Paramilitarismus Einhalt zu gebieten. Doch die Einsätze finden zumeist aus der Luft statt, da die Marineeinheit kaum das flache Flussbett befahren kann. Gleichwohl geraten die Gemeinden zwischen die Fronten. Zuletzt im März, was die Vertreibung von sechs indigenen Gemeinschaften zur Folge hatte: 1.185 Menschen, darunter 621 Minderjährige. Sind die Familien erst einmal in die Städte geflohen, ist die geordnete und kollektive Rückkehr eine Herkulesaufgabe, denn die bewaffneten Gruppen sind weiter präsent.

Der Abschied von Catrú fällt nicht leicht. Es bleibt der Eindruck einer politisch gespaltenen Gemeinschaft ohne Schutz gegen den permanenten Terror der AGC. Die Ernährungssituation verheißt auch nichts Hoffnungsvolles für eine Gemeinschaft, die jahrhundertelang als Selbstversorgerin lebte und aufgrund des schwierigen Zugangs über den Fluss weitgehend abgeschieden lebt. Der Clan de Golfo gab am 2. September in einer öffentlichen Erklärung bekannt, dass sie zu Verhandlungen mit der Regierung bereit seien, sofern diese die Haftbefehle gegen alle Mitglieder des Generalstabs aufhebe. Für die Embera Dobidá in Catrú zumindest ein leichter Hoffnungsschimmer.

Andreas Hetzer

hat seine Dissertation über das Mediensystem in Bolivien geschrieben, lebt seit elf Jahren in Kolumbien und unterstützt in Cali afrokolumbianische Gemeinschaften bei der Verbesserung ihrer Kommunikation und ihrer Lebenssituation. Er schreibt ab und an als freier Journalist, unter anderem für Amerika21, nd und die ila.