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|ak 707 | Alltag |Kolumne: Torten & Tabletten

Skandale in der Pflege

Von Frédéric Valin

Das Problem an Skandalen in der Pflege ist, dass sie als Einzelfälle behandelt werden, obwohl sie systemisch sind. Dadurch sind sie immer zu klein, zu persönlich, zu weit weg. Nachhaltige Lehren ziehen ein paar Fachleute, aber nicht jene Öffentlichkeit, die das dringend müsste, seit Jahrzehnten müsste. Die einzige substanzielle Veränderung, die der Bereich kennt, ist die Erosion.

Erinnert sich noch jemand an den Berliner Pflegeskandal? Eine Kollegin hatte die Feuerwehr angerufen, weil zu wenig fachkundiges Personal im Dienst war, um die Bewohner*innen zu versorgen. Der Fall ging über die Titelseiten der Boulevardpresse, und überraschenderweise hatte der ganze Vorgang mehr Konsequenzen für die Heimleitung als für die Kollegin. Anderen wurde für ähnliche Aktionen schlicht gekündigt.

Es haben trotzdem viele Heimleitungen aufgehorcht, solche Skandale will man schon verhindern. Der Preis der Verhinderung dieser Art Skandale ist eine deutlich schlechtere Versorgungslage in Deutschland.

Es ist nicht so, dass Leitungen generell egal ist, was mit den Menschen in ihrer Obhut passiert. Ein paar Gleichgültige gibt es sicherlich, aber ebenso sicher sitzen in mittleren Führungspositionen im Sozialen kaum Leute, die nur Zahlen statt Gesichter sehen. Sie müssen aber zusehen, dass sie ihre eigene Institution nicht überfrachten – und dass sie kostendeckend arbeiten; wohlwissend, dass das nicht immer denen gerecht wird, die da betreut werden. Gute Führungskräfte der mittleren Ebene versuchen entsprechend, Mikromanagement zu betreiben – den Krankenstand niedrig zu halten vor allem, die Teams gut zu managen –, und können die gesellschaftlichen Zusammenhänge gar nicht so sehr im Blick haben, wie das die Kritiker*innen tun, weil eine gute Insellösung immer noch hilfreicher ist als eine Eskalation, die einen gesellschaftlichen Missstand aufzeigt. Das führt zu Arrangements, die alternativlos sind oder zumindest nur wenig Spielraum lassen. Gesellschaftspolitische Fragen fallen da naturgemäß hinten rüber, der familiäre Charakter in der Pflege wird auch durch diese Art Druck aufs System zementiert.

Was aber ist mit jenen, die noch nicht im System sind, die noch einen Heimplatz suchen? Es gab kürzlich eine Umfrage unter Pflegeheimbetreiber*innen, und im Schnitt werden in den Einrichtungen drei Anfragen abgelehnt – pro Tag. Pro Tag! Im Schnitt! Das ist ein völliger Wahnsinn. Und das wird noch schlimmer werden. Nicht nur, dass so langsam die Boomer (also geburtenstarke Jahrgänge) in Situationen kommen, die aktuell nur in Heimen versorgt werden können, sondern auch: Die späten Boomer-Jahrgänge gehen jetzt alle in Rente. Die stehen als Arbeitskräfte nicht mehr zur Verfügung. Wir haben mehr Bedarfe und immer weniger Leute, die diesen Bedarf decken können.

Nochmal: Drei Absagen am Tag – pro Einrichtung! Wer fängt das auf, und wie lange geht das gut? Es ist aus aktuellen Studien ziemlich klar, wer das auffängt – in der Regel Töchter, Schwiegertöchter oder Ehefrauen. Aber selbst wenn die auf alles verzichten, was ein Leben, wie es die Werbung verspricht, ausmacht: Die haben auch nur begrenzt Kraft. Wer sich mal ansehen will, wie sehr manche an dieser ihnen auferlegten Aufgabe zerbrechen, muss nur mal zwei Wochen in einer Selbsthilfegruppe für pflegende Angehörige vorbeischauen. Da weiß man dann schon: Der Skandal ist nicht das Rufen der Feuerwehr. Der Skandal sind nicht einmal diese drei Absagen pro Einrichtung am Tag. Obwohl das nicht nur dramatisch ist, sondern existenziell.

Aber auch hier: Im Grunde wissen das alle. Vielleicht nicht die Details, aber so im Großen und Ganzen. Der Skandal ist die gesellschaftliche Akzeptanz dieses Missstandes. Das ist das schlimmste daran.

Frédéric Valin

ist Autor. In ak schreibt er (endlich wieder!) die Kolumne »Torten & Tabletten«. Zuletzt erschien sein autobiografischer Roman »Ein Haus voller Wände« (Verbrecher-Verlag 2022) über seine Arbeit als Pfleger.