Weil es sein muss
Nach den Landtagswahlen ist vor dem linken Bundesparteitag in Halle – dort müssten ein paar Weichen gestellt werden, aber leicht wird das nicht
Von Jan Ole Arps und Nelli Tügel
Ist der Tiefpunkt schon erreicht, oder geht es noch weiter runter? Ist ein Weg aus dem Elend erkennbar, oder wartet auf die angezählten Genoss*innen aus der Linkspartei, wenn sie sich wieder aufrappeln, nur der nächste Schlag? Diese Frage stellen sich nach den Landtagswahlen in Thüringen und Sachsen, kurz vor der Wahl in Brandenburg und wenige Wochen vor dem Bundesparteitag in Halle. Hier wird nach einer neuen Strategie für die bundesweit zur Drei-Prozent-Partei zurechtgestutzten Linken gesucht, nach Antworten auf die Konkurrenz durch das Bündnis Sahra Wagenknecht (BSW) und nach neuen Vorsitzenden, die einen Kurswechsel verkörpern und die Partei, vielleicht, hoffentlich, auf einen Weg aus dem Untergang führen können. Die Herausforderungen sind riesig, über die Chancen lässt sich das nicht unbedingt sagen.
Die Ergebnisse der Landtagswahlen sind für Die Linke in mehrerer Hinsicht niederschmetternd. Da ist zum einen der Erfolg der AfD. In Thüringen wurde sie erstmals mit fast 33 Prozent stärkste Partei bei einer Landtagswahl und verfügt nun über eine Sperrminorität, mit der sie Entscheidungen, die mit Zweidrittelmehrheit getroffen werden müssen, blockieren kann; in Sachsen landete sie mit 30,6 Prozent nur knapp hinter der CDU. Auch wenn alle anderen Parteien eine Koalition mit den Rechtsextremen noch ausschließen: So nah waren Faschist*innen in Deutschland seit 1945 nicht mehr an der Macht.
Dann ist da der brutale Absturz der Linkspartei selbst. In Thüringen, wo sie mit Bodo Ramelow seit 2014 den Ministerpräsidenten stellt, seit 2019 in einer von der CDU de facto tolerierten Minderheitsregierung mit SPD und Grünen, verlor sie fast 18 Prozent und schmierte von 31 auf 13,1 Prozent ab. In Sachsen büßte sie fast sechs Prozent ein, verfehlte die Fünf-Prozent-Hürde und sitzt nur dank zweier Direktmandate, die Jule Nagel und Nam Duy Nguyen in Leipzig sichern konnten, noch in Fraktionsstärke im Landtag.
Und schließlich ist da der Aufstieg des BSW. Erst Anfang des Jahres gegründet, legte die ganz auf Frontfrau Wagenknecht zugeschnittene Partei einen Blitzstart hin. Aus dem Stand kam das BSW in Thüringen auf knapp 16, in Sachsen auf knapp 12 Prozent. Und das, obwohl es wegen seiner restriktiven Aufnahmepolitik noch kaum Mitglieder hat – in beiden Bundesländern sind es weniger als 100. Dennoch ist in keinem der beiden Länder eine Regierung, an der die AfD nicht beteiligt sein soll, ohne das BSW möglich. In Thüringen auch nicht ohne zumindest eine Tolerierung durch Die Linke.
Neustart – mit wem?
Nach dem jahrelangen Spaltungsdrama, das die Linkspartei in einem desolaten Zustand zurückgelassen hat, sind Wagenknecht nicht nur einige Funktionär*innen und Mitglieder in die neue Partei gefolgt – mit Katja Wolf, der Spitzenkandidatin in Thüringen, auch eine Ramelow-Vertraute –, auch viele Wähler*innen haben rübergemacht. 84.000, die 2019 in Thüringen noch Die Linke gewählt hatten, machten nun ihr Kreuz beim BSW, 73.000 waren es in Sachsen – so viel holte die Wagenknecht-Truppe von keiner anderen Partei. Allerdings, auch das gehört zur Wahrheit, war ein Teil dieser Wähler*innen der Linken schon vor Gründung des BSW abhandengekommen.
Die Linkspartei verlor aber nicht nur ans BSW, sondern auch an AfD, SPD und CDU. Überdurchschnittlich – also über ihrem insgesamt verschlechterten Ergebnis – gewählt wurde die Linke nur noch in (Universitäts-)Städten und bei höheren Bildungsgruppen. Auf dem Land hingegen wurde sie geradezu pulverisiert. Die Zahlen stimmen überein mit dem, was man schon bei der Europawahl im Juni beobachten konnte. Außerdem wählen in nahezu allen Gruppen mehr Frauen als Männer links.
Wofür steht die Linke? Diese Frage kann aktuell kaum noch jemand spontan beantworten.
Welche Schlüsse daraus zu ziehen sind, darüber grübelt die Partei schon seit geraumer Zeit. Auf dem Parteitag in Halle wird die Diskussion auch anhand der Kandidaturen für das neue Spitzenteam, das die erfolglosen Vorsitzenden Janine Wissler und Martin Schirdewan ablösen soll, geführt werden. Mit Ines Schwerdtner hat sich ein Neumitglied für das Amt der Vorsitzenden beworben. Die ehemalige deutsche Jacobin-Chefredakteurin, die schon zur Europawahl kandidierte, gibt sich betont bodenständig und nah an der Basis und wirbt für einen klassenpolitischen Kurs. Sie will Sozialsprechstunden und andere Hilfsangebote, die früher für die Verankerung wichtig waren, aber durch Mitgliederschwund und Überalterung ausgedünnt sind, wiederbeleben – analog zum Modell, das die KPÖ erfolgreich in Graz und inzwischen auch in einigen anderen österreichischen Städten praktiziert. Außerdem fordert sie, ebenfalls inspiriert von der KPÖ sowie der belgischen Partei der Arbeit, eine Begrenzung der Abgeordnetenbezüge – der Rest soll gespendet werden –, und sie spricht sich für mehr diplomatische Initiativen im Ukraine-Krieg aus.
Ines Schwerdtner ist mit keiner der auch nach der Wagenknecht-Abspaltung noch bestehenden Parteiströmungen – hier wären insbesondere die Bewegungslinke zu nennen, der Janine Wissler nahesteht, und das Reformer*innenlager, dem man Martin Schirdewan zurechnen darf – fest assoziiert. Der Friedenspolitiker und ehemalige UN-Waffeninspekteur Jan van Aken, der ebenfalls seinen Hut für den Parteivorsitz in den Ring geworfen hat, genießt die Unterstützung der Bewegungslinken. Auch er stellt in jüngsten Äußerungen vor allem soziale Fragen in den Vordergrund.
Ein Neustart also mit dem Duo Schwerdtner/van-Aken? So einfach ist es nicht, denn zum einen könnten sich noch weitere Kandidat*innen vorwagen. Gezuckt hat bisher etwa Benjamin-Immanuel Hoff (»Wenn ich von der Partei gebeten werden sollte, werde ich mir die Frage stellen«), Bodo Ramelows rechte Hand in Thüringen. Hoff ist ein politischer Vordenker des Reformer*innenflügels – und damit jenes Experiments, das in Thüringen gerade mit Vollgas an die Wand gefahren ist: Mitgestaltung durch Regierungsbeteiligung, in Thüringen sogar als Ministerpräsident. Zwar kann Ramelow für sich ins Feld führen – und tut es auch bei jeder Gelegenheit –, dass er sehr beliebt ist und bei einer Direktwahl wohl Ministerpräsident geblieben wäre. Aber eine Partei besteht (Ausnahmen bestätigen die Regel) aus mehr als einer Person, und Ramelows Beliebtheitswerte haben den Absturz der Thüringer Linken eben auch nicht verhindert. Ob die Niederlage überdies etwas mit der Landespolitik zu tun haben könnte, diese Frage wurde im Nachgang der Thüringen-Wahl kategorisch verneint. »Gegen den Zeitgeist« sei man machtlos, hieß es gleich von mehreren prominenten Linken-Politiker*innen.
Ach, der Markenkern
Dabei stellt sich durchaus die Frage, was die Linke als Regierungspartei vorzuweisen hat. Sicher, ein paar Gesetze und Reförmchen hat es in der letzten Legislatur auch in Thüringen gegeben: ein besserer Personalschlüssel und zwei beitragsfreie Kita-Jahre etwa. Doch schon beim heiß diskutierten Thema kostenloses Schul-Essen musste »Team Bodo« passen – das links geführte Bildungsministerium erklärte sich nicht zuständig, und ohne Geld vom Bund wäre es sowieso nicht finanzierbar. Selbst der Anspruch, Bollwerk gegen die AfD zu sein, ist mit den neuesten Wahlen uneingelöst geblieben. Eine Erfolgsbilanz sieht anders aus, ein politisches Projekt mit Strahlkraft, ein »Markenkern«, lässt sich daraus nicht abbilden. Die politische Konkurrenz hat so etwas. Das Markenzeichen des BSW ist »Frieden mit Russland«, die AfD kann für sich beanspruchen, aus der Opposition heraus die Migrationspolitik der Ampel gestaltet zu haben.
Aber wofür steht die Linke? Dass diese Frage aktuell kaum jemand beantworten kann, ist die zweite Herausforderung beim Neustart. Das Problem ist auch in den Debatten innerhalb der Partei angekommen, zahlreiche Papiere zur Frage eines neuen »strategischen Zentrums« zeugen von diesem Suchprozess. Während das »klassenpolitische Lager« und die Bewegungslinke immerhin ein paar Ideen vorzuweisen haben – die besagten Sozialsprechstunden, Begrenzung der Diäten, insgesamt mehr Kümmer-Partei und engagierter Haustürwahlkampf, wie ihn Nam Duy Nguyen in Leipzig mit Erfolg führte –, steht das Reformer*innenlager blank da. Wie damit umgehen, dass es eine linke Partei in der Regierung viel schwerer hat als eine rechte, sie daher immer Gefahr läuft, ihre Versprechen nicht umsetzen zu können und so Enttäuschung zu produzieren? Darauf gibt es bisher keine befriedigenden Antworten. Zugleich ist eine solche kritische Selbstüberprüfung unter denen, die fest an Regierungsbeteiligungen glauben, derzeit allerdings kaum zu erwarten. Ramelows Hauptanliegen beispielsweise, auch das machte er am Wahlabend deutlich, ist nun, das Kooperationsverbot der CDU zu kippen, das einer Koalition mit der Linken im Wege steht.
Doch auch in den anderen Teilen der Partei gibt es außer dem genannten Methodenkoffer bisher nicht viel Substanzielles, kein strategisches Projekt, das die auch nach dem Wagenknecht-Abgang in vielen Fragen gespaltete Partei motivieren könnte, insgesamt zu wenig, was sich von der allzu braven konstruktiven Oppositionsrolle abhebt, die die Linkspartei – anders als Wagenknecht &. Co. – in den letzten Jahren eingeübt hat. Und statt mit der viel beschworenen » geeinten Stimme« zu sprechen, sind in den letzten Monaten diese Differenzen wieder stärker hervorgetreten. Mit seinem Befriedungsversuch durch Formelkompromisse ist das bisherige Führungsduo gescheitert. Ob ein neues mehr Glück haben wird? Den Abgrund und die Bundestagswahl vor Augen: Das sind nicht die einfachsten Bedingungen für die Klärung grundlegender Differenzen.
Trotz vieler engagierter Mitglieder und dem dringlichen Gefühl, dass sich in der Linken etwas ändern muss, gerade angesichts der AfD-Erfolge und der verbreiteten Wut auf die Ampel: Wenn nicht noch eine Überraschung passiert, stehen die Zeichen weiter auf Formelkompromiss, der die gegensätzlichen politischen Vorstellungen in der Partei nur notdürftig kaschiert. Beispiel Friedenspolitik, hier könnte der Minimalkonsens mit viel gutem Willen ungefähr so lauten: Etwas mehr Diplomatie wagen, ohne die Ukraine komplett an Russland auszuliefern. Doch das ist nicht unbedingt, was man eine griffige Parole nennt.
Auf die Frage einer Interviewerin, warum er glaube, die am Boden liegende Partei wieder aufbauen zu können, antwortete Jan van Aken kürzlich: Weil es sein muss. Immerhin damit dürfte er einer Mehrheit in seiner Partei aus dem Herzen sprechen.