500 Tage Krieg
Die Hälfte der Menschen im Sudan kämpft gegen den Hunger – dabei gäbe es konkrete Maßnahmen, die helfen könnten
Von Saskia Jaschek
Seit dieser Woche zählt der Krieg zwischen dem sudanesischen Militär (SAF) und den paramilitärischen Rapid Support Forces (RSF) im Sudan 500 Tage. In dem nordostafrikanischen Land herrscht die derzeit größte humanitäre und Vertriebenenkatastrophe der Welt. Laut dem UN-Flüchtlingskommissariat UNHCR sind ca. 10,5 Millionen Menschen im Sudan auf der Flucht, acht Millionen von ihnen sind Binnenvertriebene. Aufgrund der sich stetig ausweitenden Kämpfe wurden viele bereits mehrfach vertrieben.
Die weiterhin konservativen Zahlen verschiedener Monitoringstellen zur Zahl der Toten erstrecken sich über einige Zigtausende. Der US-Sudan-Beauftragte Tom Perriello sprach im Juni 2024 dagegen von mindestens 150.000 Toten. Dazu kommen jene Menschen, die an den Kriegsfolgen sterben und deren Tode bislang nirgendwo erfasst werden: Menschen mit Behinderung, Menschen mit Vorerkrankungen und besonders ältere Menschen sterben in ihrem Zuhause, auf der Flucht, in Lagern oder in den Ankunftsländern aufgrund fehlender Gesundheitsversorgung.
Die Kampfhandlungen sind indes auch 16 Monate nach Kriegsbeginn nicht abgebrochen. Die durch sie entstandene humanitäre Katastrophe wird durch die derzeitige Regenzeit noch verschärft. Mehr als 100.000 Menschen wurden durch Hochwasser bisher obdachlos. Die Cholera, die schon kurz nach Kriegsbeginn ausbrach, verbreitet sich durch die Überschwemmungen weiter. Die Fluten zerstören Lebensräume auch dort, wo bisher nicht gekämpft wurde. So wie in Ost-Sudan. Dort kam es Anfang der Woche zu einem Dammbruch, bei dem 30 Menschen getötet wurden, fast 200 gelten noch als vermisst. Zudem wurde die Strom- und Wasserversorgung durch den Dammbruch zerstört.
Währenddessen kämpfen 25,6 Millionen Menschen im Sudan gegen Hunger. Das ist in etwa die Hälfte der sudanesischen Bevölkerung. Die Integrated Food Security Phase Classification (IPC), eine Initiative zur Überwachung der Ernährungsunsicherheit, gab an, Sudan befinde sich in der schlimmsten Hungerkrise seit Beginn ihrer Aufzeichnungen. Laut IPC befinden sich 800.000 Menschen in akuter Hungersnot und damit in Gefahr, in naher Zukunft an Hunger zu sterben.
Menschengemacht
Diese Hungersnot ist menschengemacht und Teil der politischen Kriegsführung. Die Region al-Gezira in der Mitte Sudans ist ein Beispiel dafür. Al-Gezira ist das Zentrum der sudanesischen Landwirtschaft. Seit Dezember 2023 haben die RSF immer weiter die Kontrolle über den Bundesstaat erlangt. Ihre Gräueltaten – Plünderungen, Raub, Vergewaltigungen und Morde – zwangen auch die Menschen zur Flucht, die im Agrarsektor tätig waren. Die »Koalition der Landwirte von Gezira und Managil« schätzt, dass ca. 70 Prozent aller Landwirt*innen seit Kriegsbeginn vertrieben wurden. Die Agrarproduktion ist damit in der Region fast gänzlich zusammengebrochen.
Besonders von Hunger betroffen sind die Millionen von Binnenvertriebenen, die in den überfüllten Geflüchtetenlagern in den peripheren Gebieten des Landes verharren. So wie die 400.000 Menschen im Zamzam-Geflüchtetenlager in Nord-Darfur. Wie IPC festhielt, sterben hier etwa 64 Menschen täglich, 15 davon sind Kinder unter fünf Jahren.
70 Prozent der Landwirt*innen aus der Region Al-Gezira, dem Zentrum der sudanesischen Landwirtschafseit, sind seit Kriegsbeginn vertrieben worden. Die Agrarproduktion ist damit in der Region fast gänzlich zusammengebrochen.
Die Zustände in den Geflüchtetenlagern der Nachbarländer sind ebenfalls katastrophal. Ob in Tschad, Äthiopien oder Südsudan – die Berichte zeichnen ein ähnliches Bild: überfüllte Lager, in denen es an Nahrungsmitteln, Medikamenten und sogar sauberem Wasser mangelt.
Die lokalen Emergency Response Rooms (ERR), die einen Großteil der humanitären Hilfe vor Ort leisten, klagen über fehlende Ressourcen. Die graswurzelorganisierten Notfallzentralen werden hauptsächlich von der sudanesischen Diaspora finanziert. Doch nach 500 Tagen Krieg sind auch deren Ressourcen weitgehend erschöpft. Sie alle haben Familie und Angehörige, die sie über diesen Zeitraum finanziell tragen.
Internationale humanitäre Hilfe erreicht nur einen Bruchteil der auf sie angewiesenen Bevölkerung. Es fehlen die nötigen Zugänge und Finanzierung. UN-Angaben zufolge haben die Geldgeberländer weniger als ein Fünftel der Mittel bereit gestellt, die das Welthungerprogramm zur Bekämpfung der Hungersnot benötigt.
Während die humanitäre Krise international weitgehend ignoriert wird, setzten die USA zumindest politisch ein Zeichen. Mitte August initiierten sie im Schweizer Genf erneut Friedensverhandlungen zwischen RSF und SAF. Ziel der zehntägigen Verhandlungen waren ein Plan für einen Waffenstillstand und die Eröffnung humanitärer Korridore. Vermittlungsversuche wie dieser sind in der Vergangenheit mehrfach gescheitert. Auch die Genfer Verhandlungen blieben ohne maßgeblichen Erfolg. Dies zeigte sich schon an der Teilnahme: Während eine RSF-Delegation an den Verhandlungen teilnahm, erschienen von Seite der SAF keine Vertreter in Genf.
SAF-Anführer al-Burhan sagte in einem Interview, die Verhandlungen seien ein »Whitewashing« der RSF und den sie unterstützenden Ländern durch den Westen. Die SAF konzentriert sich seit Kriegsbeginn auf eine nationalstaatliche Rhetorik, in der sie sich als staatliche Armee legitimiert sieht. In gleicher Weise wertet sie die RSF als »Rebellen« ab, mit denen nicht verhandelt werden könne. Die Paramilitärs der RSF waren aus ländlichen Milizen entstanden, hatten aber unter der ehemaligen Diktatur Omar al-Bashirs den Status als staatliche Einheit erlangt. In der Folge war es zunehmend zum Machtstreit zwischen den Einheiten gekommen.
Um ein durch die Hungerkrise drohendes Massensterben zu verhindern, wäre es wichtig, humanitäre Hilfe nicht nur in Form von Lebensmittellieferungen zu ermöglichen, sondern vor allem die Selbstversorgungsfähigkeiten der Menschen wieder herzustellen.
Saudi-Arabien, Ägypten und die Vereinigten Arabischen Emirate traten ebenfalls als Vermittler in Genf auf. Dies zeugt von einer besonderen Ironie der Diplomatie, da die Regierungen aller drei Länder für ihre Unterstützung verschiedener Seiten im Sudankrieg bekannt sind. Schon im vergangenen Jahr hatten politische Analyst*innen wiederholt darauf hingewiesen, dass der Krieg schnell beendet werden könnte, wenn es geschlossene Sanktionen gegen SAF und RSF gäbe. Das gilt nicht nur für die großen Firmen, die beide Kriegsparteien besitzen, sondern beginnt bei Lieferungen der zur Kriegsführung notwendigen Güter wie Waffen, Überwachungstechnik oder Benzin.
Wie ein solidarischer Boykott aussehen kann, machte jüngst der US-amerikanische Rapper Macklemore vor. Dieser sagte Anfang der Woche ein Konzert in Dubai ab. Als Grund nannte er auf Instagram die Unterstützung der RSF durch die Vereinigten Arabischen Emirate. Solange die Emirate die RSF finanzierten und mit Waffen belieferten, könne er dort nicht auftreten, so Macklemore.
Eine konsequente Haltung wie diese lässt sich unter Regierenden mit geopolitischen Einflussmöglichkeiten derzeit nicht finden, obwohl das Wissen darüber, welche Staaten welche Kriegspartei unterstützen, weit verbreitet ist.
Kein Waffenstillstand in Sicht
In Genf zerschlug sich die Hoffnung auf einen Waffenstillstand schon während die Verhandlungen noch liefen. Denn zeitgleich zu diesen bombardierten SAF und RSF Wohngebiete und Krankenhäuser. Während die SAF unerlässlich vor allem in Darfur bombardiert, attackiert die RSF immer wieder das SAF-kontrollierte Omdurman, angrenzend an die Hauptstadt Khartum. Es ist davon auszugehen, dass die Kriegshandlungen beider Parteien nach dem Ende der Regenzeit weiter zunehmen werden.
Selbst wenn die Kämpfe zwischen den Generälen aufhören sollten, ist ein wirklicher Frieden noch in weiter Ferne. Denn: Der Krieg hat alte Konflikte neu entfacht und die Zivilbevölkerung fragmentiert. Das Erstarken lokaler Milizen und die Militarisierung der Zivilbevölkerung haben die Kriegsakteure vervielfacht und in nahezu alle Bevölkerungsteile getragen.
Dazu hat der Krieg die Infrastruktur des Sudan und damit lebenswichtige Bedingungen für die nationale Selbstversorgung weitgehend zerstört. Um ein durch die Hungerkrise drohendes Massensterben zu verhindern, wäre es wichtig, humanitäre Hilfe nicht nur in Form von Lebensmittellieferungen zu ermöglichen, sondern vor allem die Selbstversorgungsfähigkeiten der Menschen wieder herzustellen, zum Beispiel die Bedingungen zu schaffen, in denen Nutzpflanzen angebaut und Trinkwasser selbst generiert werden können. Dafür bedarf es sowohl lokaler Zugänge als auch eines Großaufgebots internationaler Hilfsleistungen. Zum jetzigen Zeitpunkt scheint nichts davon in greifbarer Nähe.