»Frieden, Ruhe, Stabilität«
Nach den Wahlen in Venezuela erklärte sich Amtsinhaber Nicolás Maduro zum Präsidenten – der Beginn einer neuen Eskalationsspirale
Von Tobias Lambert
Kurz nach Mitternacht trat Elvis Amoroso, Präsident des Nationalen Wahlrates (CNE), vor die Kameras. Nach 80 Prozent ausgezählter Stimmen habe der venezolanische Amtsinhaber Nicolás Maduro die Wahl vom 28. Juli mit 51,2 Prozent der Stimmen gewonnen. Der wichtigste Herausforderer Edmundo González sei auf 44,2 Prozent gekommen. Oppositionsführerin María Corina Machado, die bei der Wahl aufgrund von Korruptionsvorwürfen nicht antreten durfte, und ihr Ersatzkandidat Edmundo González erkannten die Ergebnisse nicht an. »Wir haben gewonnen, und alle wissen das«, erklärte Machado auf einer Pressekonferenz. »Unser Kampf geht weiter«, ergänzte González, dem wie zuvor im Wahlkampf nur eine Nebenrolle blieb. Die Opposition, die in nahezu jedem Wahllokal mit Zeug*innen anwesend war, veröffentlichte in den Tagen nach der Wahl einen Großteil der ihr laut eigenen Angaben vorliegenden Wahlakten, die die Wahlmaschinen vor Übertragung der Ergebnisse ausdrucken. Laut eigenen Berechnungen habe González etwa 67 Prozent der Stimmen geholt. Die Regierung spricht davon, dass diese Zahlen gefälscht seien. Schließlich habe die rechte Opposition in den vergangenen 25 Jahren häufig ohne jegliches Fundament Betrug angeprangert und auf Gewalt gesetzt.
Fünf Tage später bestätigte der CNE das erste Ergebnis mit nur leichten Verschiebungen. Demnach habe Maduro 51,95 Prozent (6,4 Millionen Stimmen) erhalten. Auf den Herausforderer Edmundo González seien 43,18 Prozent (5,3 Millionen Stimmen) entfallen. Die genauen Ergebnisse aus den einzelnen Wahllokalen veröffentlichte der CNE anders als üblich jedoch nicht. Verantwortlich dafür sei ein Cyberangriff, so die offizielle Erklärung. Da die elektronischen Wahlmaschinen die Ergebnisse über Telefonleitungen und Satelliten übertragen, bleibt unklar, was genau das Ziel des Angriffs war.
Internationale Reaktionen
Entgegen der offiziellen Ergebnisse bezeichnete die US-Regierung Gonzales als Wahlsieger, erkannte diesen – anders als 2019 im Falle des damaligen Parlamentsvorsitzenden Juan Guaidó – jedoch noch nicht als Präsident an. Auch die EU und sämtliche rechtsgerichtete Regierungen Lateinamerikas zweifelten das offizielle Wahlergebnis an. Länder mit Mitte-Links-Regierungen wie Brasilien, Kolumbien, Mexiko und Chile forderten transparente Zahlen. Dem schlossen sich auch kritische chavistische Gruppen an, die mit der Regierung gebrochen haben. Die Regierung und ihre Anhänger*innen verteidigen hingegen geschlossen das offizielle Ergebnis. Rückhalt bekommt Maduro zudem von den Regierungen aus Nicaragua, Kuba, Bolivien und Honduras. Außerhalb Lateinamerikas erkannten Russland, China sowie fast 40 vorwiegend afrikanische und asiatische Länder das offizielle Wahlergebnis an.
Unmittelbar nach der Wahl kündigte Maduro an, ein Dekret für einen neuen »großen Dialog« mit allen Sektoren des Landes zu unterzeichnen. »Die Bevölkerung hat sich für Frieden, Ruhe und Stabilität entschieden«, sagte er. Dieser versöhnende Diskurs währte jedoch nur kurz: Als am Tag nach der Wahl teils gewalttätige Proteste losbrachen, sprach die Regierung von einem Putschversuch und diffamiert seither jegliche kritischen Stimmen.
Als am Tag nach der Wahl teils gewalttätige Proteste losbrachen, sprach die Regierung von einem Putschversuch.
Der Präsident erklärte, 2.000 Protestierende in Hochsicherheitsgefängnissen wegsperren zu wollen. Mehr als Tausend Personen wurden verhaftet, mindestens 24 kamen laut Medienberichten ums Leben. Menschenrechtsorganisationen sprechen von willkürlichen Festnahmen Oppositioneller sowie von Einschüchterungsversuchen. Chavistische Basisaktivist*innen hingegen werfen Oppositionellen vor, Regierungsanhänger*innen und chavistische Einrichtungen angegriffen zu haben. Anhänger*innen der Regierung gingen in den Tagen darauf in zahlreichen Städten auf die Straße, um das verkündete Wahlergebnis zu verteidigen. Die kurz aufgeflammten Proteste ließen hingegen zunächst nach. Für die Unruhen nach der Wahl macht die Regierung direkt González und Machado verantwortlich. Die beiden Oppositionellen riefen in einem Kommuniqué Anfang August zudem das Militär dazu auf, »den Willen der Bevölkerung durchzusetzen«, woraufhin die Generalstaatsanwaltschaft eine Untersuchung gegen sie einleitete.
Eine rechtliche Klärung ist unwahrscheinlich
Mit dieser Frontenbildung wiederholt sich in Venezuela ein altbekanntes Muster. Auf der einen Seite befindet sich seit Jahren die US-gestützte rechte Opposition, auf der anderen eine Regierung, die kaum mehr linke Politik macht, aber alle Institutionen sowie den Sicherheitsapparat kontrolliert und auf immensen Ölreserven sitzt. Allerdings konnten die Regierung und die Institutionen die Plausibilität des Ergebnisses bisher nicht darlegen. Da der CNE anschließend mehrere der vorgesehenen Schritte zur Überprüfung unterließ und keine nach Wahllokalen aufgeschlüsselten Ergebnisse veröffentlichte, ist das Ergebnis nicht unabhängig nachprüfbar. An sich wäre es kein Problem, es zu verifizieren. Nicht nur druckt jede Wahlmaschine vor der Übertragung der Daten ein Endergebnis aus. Es gibt auch die einzelnen Stimmen als Kontrollausdruck auf Papier. Der erste und übliche Schritt wäre, dass der CNE die genauen Ergebnisse veröffentlicht. Die Regierungspartei PSUV verfügt durch ihre in den Wahllokalen präsenten Zeug*innen darüber hinaus über die Kopien sämtlicher Wahlakten. »Wenn eine Verschwörung existieren würde, um die Regierung mittels gefälschter Wahlakten zu stürzen, gäbe es einen einfachen Weg, die Verschwörer der Lächerlichkeit preiszugeben: Durch die Veröffentlichung der tatsächlichen Wahlakten«, erklärte etwa Juan Barreto, chavistischer Ex-Bürgermeister von Caracas, gegenüber ak.
Das Oberste Gericht (TSJ) soll nun den Wahlprozess überprüfen. Allerdings gilt dieses als regierungstreu und hat in den vergangenen Jahren keine bekannte Entscheidung gegen die Interessen der Regierung gefällt. Dass das Gericht einen Wahlsieg der Opposition feststellt, gilt als nahezu ausgeschlossen. Wahrscheinlicher ist, dass es Maduros Wiederwahl bestätigt. Eine andere Option wäre eine Wahlwiederholung mit der Begründung, die elektronischen Daten seien durch den vermeintlichen Cyberangriff nicht mehr komplett herstellbar. Ein solcher Schritt würde der Regierung allenfalls zusätzlich Zeit verschaffen und die Möglichkeit eröffnen, die Opposition erneut zu spalten. Es ist absehbar, dass aus diesem Wahlprozess kein breit anerkanntes Ergebnis mehr hervorgehen wird. Dafür sind die Fronten zu verhärtet und das Oberste Gericht wird nicht als unparteiische Institution anerkannt. Oppositionsführer Machado erteilte möglichen Neuwahlen bereits eine Absage.
Wer entscheidet die Wahl?
Da Maduro und andere chavistische Spitzenfunktionär*innen zu viel zu verlieren haben, werden sie im Falle einer Wahlniederlage kaum freiwillig das Feld räumen. Innerhalb der Opposition gibt es revanchistische Strömungen, die eher auf Rache als auf Versöhnung setzen. Die US-Behörden haben ihrerseits immer noch ein Kopfgeld von 15 Millionen US-Dollar auf die Ergreifung Maduros ausgesetzt. Kolumbiens Präsident Gustavo Petro hatte deshalb bereits vor Monaten vorgeschlagen, dass beide Seiten – Opposition und Regierung – vorab eine juristische Verfolgung der Wahlverlierer ausschließen sollten. Gemeinsam mit dem brasilianischen Staatschef Luiz Inácio »Lula« da Silva sowie dem mexikanischen Präsidenten Andrés Manuel López Obrador fordert er ein transparentes Wahlergebnis sowie einen Verhandlungsprozess zwischen Maduro und der Opposition. Dass sich die US-Regierung anmaßt, einseitig über das Wahlergebnis zu entscheiden, konterkariert allerdings diplomatische Bemühungen, die Krise ohne weitere Eskalation zu lösen. Gleichzeitig laufen weiterhin geheime Gespräche zwischen den USA und Venezuela.
Da die venezolanische Opposition allenfalls über den Ablauf einer Machtübergabe sprechen will, die Regierung dies aber kategorisch ausschließt, bleibt unklar, worüber beide Seiten konkret verhandeln sollen. Sollte die Dialoginitiative der kolumbianischen Mitte-Links-Regierung ohne Erfolg bleiben, werden ein Großteil der Opposition und verbündete Staaten ab Beginn der neuen Amtszeit im Januar wohl González als legitimen Präsidenten betrachten. Dies würde an die Selbsternennung von Juan Guaidó im Januar 2019 erinnern. Diese erfolgte zwar unter anderen Bedingungen, da sich Guaidó nicht auf direkte Wähler*innenstimmen berufen konnte. Es droht aber eine vergleichbare Dynamik von internationalem Druck, Verschärfung von Sanktionen und negativen Folgen für die venezolanische Bevölkerung.