Trauer zu Wut, Wut zu Widerstand
Zehn Jahre nach dem Genozid-Feminizid durch den IS organisieren und verteidigen Êzîd*innen ihr Leben selbst – ein Reisebericht aus Shingal
Mütter, die ihre Kinder in Massengräbern suchen, Töchter, die mehrere Jahre lang versklavt und vergewaltigt wurden, und keine einzige Familie, die keines ihrer Mitglieder verloren hat oder vermisst: Der Schmerz des Genozids-Feminizids, der am 3. August 2014 an den Êzîd*innen durch den Islamischen Staat (IS) verübt wurde, ist in der Region Shingal in Südkurdistan/Nordirak allgegenwärtig. Der IS tötete vor zehn Jahren 10.000 Êzîd*innen, versklavte 7.000 Mädchen und Frauen, von denen bis heute 2.700 vermisst werden, und zwang 400.000 Menschen zur Flucht.
Shingal ist die historische Heimat der Êzîd*innen. Bis 2014 wurde sie von der Demokratischen Partei Kurdistans (PDK), die eng mit dem türkischen und irakischen Staat kooperiert, verwaltet. Am 3. August 2014 überließen die mit der PDK verbundenen Peschmerga-Einheiten die êzîdische Bevölkerung schutzlos dem IS und zogen sämtliche Waffen aus Shingal mit sich ab. Es waren eine Handvoll Kämpfer*innen der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK), die von ihren Stützpunkten in anderen Teilen Südkurdistans nach Shingal eilten und noch größere Todes- und Entführungszahlen verhinderten. In einer koordinierten Aktion mit Kämpfer*innen der YPJ und YPG, den Verteidigungseinheiten der autonomen Verwaltung in Rojava (Westkurdistan/Nordostsyrien), erkämpften sie den »Korridor der Menschlichkeit«, der es vielen Menschen ermöglichte, nach Rojava zu fliehen.
Beginn der Selbstorganisierung
Die Erfahrung dieses 74. Genozids in der Geschichte der Êzîd*innen veränderte die Verhältnisse in der Region grundlegend. Schon wenige Monate nach dem Genozid, im Januar 2015, bildete sich das erste Selbstverwaltungskomittee im Dorf Serdeşt, das im Shingalgebirge liegt und 2014 zum Zufluchtsort für viele Êzîd*innen wurde. Diese Selbstverwaltungsstruktur setzt nach dem Beispiel aus Rojava Abdullah Öcalans Ideen des Demokratischen Konföderalismus in die Praxis um. Nur zehn Jahre nach dem Genozid existieren Frauen-, Jugend-, Kultur-, Ökonomie- und Ökologieräte, Bildungs- und Spracheinrichtungen sowie miliärische Selbstverteidigungsstrukturen, Strukturen für die innere Sicherheit und Koordinierungsgremien in fast jedem Ort in der Region. Die Räte wählen je zwei Vorsitzende, einen Mann und eine Frau, um zu verhindern, dass gesellschaftliche Strukturen von Männern dominiert werden. Alle Mitglieder der Selbstverwaltung sind verpflichtet, Seminare zu besuchen, in denen die Ideen der Frauenbefreiung und der Basisdemokratie vermittelt werden.
Die Frauenräte bilden das Herz der Selbstverwaltung im Shingal. In ihrem Verständnis kann es keine Freiheit oder Sicherheit geben, solange Frauen unterdrückt werden.
»Nach dem 3. August wussten wir, dass so etwas nie wieder passieren darf: Unsere Selbstorganisation ist Selbstverteidigung gegen den Islamismus und die Kriegsführung des irakischen Staats, der PDK und des türkischen Staats«, erklärt Daye Kine, die Teil des Frauenrats in Serdeşt ist. Während unseres Gesprächs zeigt sie Fotos, auf denen sie, mit einer Kalaschnikow bewaffnet, ihr Zuhause gegen die PDK verteidigt. Diese wollte die Region 2017 in Zusammenarbeit mit dem türkischen Staat unter Zwangsverwaltung stellen, scheiterte jedoch am Widerstand der Selbstverwaltung. Die Frauenräte bilden das Herz der Selbstverwaltung im Shingal. In ihrem Verständnis kann es keine Freiheit oder Sicherheit geben, solange Frauen unterdrückt werden. Die autonome Frauenorganisierung im Shingal verstehen sie als direkte Antwort auf den grausamen Massenfeminizid des IS.
In lokalen Frauenräten kommen Frauen zusammen, um sich zu bilden und den Aufbau der Selbstverwaltung kollektiv anzugehen. Eine zentrale Herausforderung ist die gesellschaftliche Wiederaufnahme von Mädchen und Frauen, die vom IS versklavt und von kurdischen Selbstverteidigungseinheiten befreit wurden. Da Teile der êzîdischen Gemeinschaft die jahrelang missbrauchten Frauen und Mädchen aufgrund ihnen zugeschriebener »Unreinheit« nicht wieder aufnehmen wollten, war es ein langer Weg für die Frauenräte, für die Rechte dieser Frauen und Mädchen zu kämpfen. »Diese Frauen haben schlimmstes Leid erfahren und überlebt. Sie nicht mit höchstem Respekt zu behandeln, ist ein großes Vergehen«, erklärt Şêx Berekat, Mitglied der Friedenskommission der Stadt Shingal.
Angriffe und Hetzkampagnen gegen Êzîd*innen dauern an
In den letzten Monaten kehren zudem Tausende Familien zurück in die Region, die seit 2014 in Geflüchtetencamps in anderen Teilen Südkurdistans lebten. Da die Camps, die bald geschlossen werden sollen, von der PDK kontrolliert werden, sind die zurückkehrenden Menschen meist wenig vertraut mit den Ideen des Demokratischen Konföderalismus. Zwar versuchen die Selbstverwaltungsstrukturen in Shingal, die Familien durch infrastrukturelle Unterstützung sowie Bildungsangebote in die Selbstorganisation einzubinden, jedoch stellt dies bei der Masse an Rückkehrenden eine große Herausforderung dar.
Gleichzeitig steht die Selbstverwaltung unter ständigen Angriffen, die häufig als Weiterführung des Genozids bezeichnet werden. Die Türkei bombardiert die Region durch Drohnenangriffe seit 2018 regelmäßig, der irakische Staat kriminalisiert politische Akteure, die die Selbstverwaltung unterstützen. Währenddessen versucht der irakische Geheimdienst, die Selbstverwaltung durch Korruption und die Stärkung von Drogenhandel und Zwangsprostitution zu schwächen, und die PDK kündigt immer wieder an, die Region unter ihre Verwaltung zu stellen. Auf diplomatischer Ebene wurde die Region Shingal bereits im Oktober 2020 in einem Vertrag zwischen der PDK, der Türkei und dem Irak an die PDK übergeben – ohne jegliche Mitbestimmung der êzîdischen Bevölkerung, die ihr Leben nun seit fast zehn Jahren selbst organisiert und verteidigt.
Der Krieg gegen die Selbstverwaltung kostet die Menschen in Shingal viele Leben. Dieser wird nicht nur durch Drohnen, sondern auch durch das Unterdrücken und Überschreiben êzîdischer Kultur geführt. In den Schulen der PDK und des irakischen Staats wird kein Wort über die Geschichte der Êzîd*innen verloren, nicht einmal über den allseits präsenten Genozid 2014. In diesen Tagen müssen Hunderte êzîdische Familien aus den Geflüchtetencamps in Südkurdistan zurück nach Shingal fliehen, da die PDK und der irakische Staat durch gezielte Hetze Teile der religiös-muslimischen Bevölkerung zu Angriffen gegen Êzîd*innen angestachelt hatten. Zudem sorgt die PDK durch groß angelegte Werbekampagnen für westliche Megakonzerne dafür, dass die lokale Produktion sowie die Wertschätzung für ihre Produkte sinkt: Während beispielsweise die Nachfrage nach Nutella steigt, sinkt der Konsum von Dattelsirup, worunter zuallererst lokale Produzent*innen leiden.
Trotz der riesigen Wunden und Hindernisse, die der Genozid-Feminizid sowie der anhaltende Krieg gegen die Êzîd*innen bis heute in der Gesellschaft hinterlässt, wird in der Shingalregion eine Frauenrevolution gelebt. Die Kraft der Frauen in Shingal ermöglicht unter den widrigsten Umständen die Verteidigung des Lebens gegen die misogynen und antidemokratischen Kräfte, die um Hegemonie in der Region ringen, – und den Beginn des Aufbaus einer neuen, demokratischen und gleichberechtigen Gesellschaft.