Militant und moderat
Warum Radikalität der Klimagerechtigkeitsbewegung nicht schadet, zeigt die Bewegungssoziologie
Von Tatjana Söding
La Rochelle am 20. Juli: In den Straßen der westfranzösischen Hafenstadt explodieren Tränengasgranaten während einer Demonstration der französischen Wasserbewegung Les Soulèvements de la Terre (deutsch: Die Aufstände der Erde). Aktivist*innen, mit Schwimmbrillen, Masken und Ohrstöpseln ausgestattet, um sich gegen den Einsatz von Tränengas, Blendgranaten und Gummigeschossen zu schützen, strömen auseinander. In den vorderen Protestreihen wehren sich einige der 10.000 Demonstrierenden mit Molotowcocktails, die sie der Polizeiblockade entgegenwerfen. An diesem Tag werden nur Mülltonnen brennen. Am Tag zuvor jedoch hatte die Polizei durch den Einsatz von hochentzündlichen Tränengasgranaten ein Getreidefeld in Flammen gesetzt. Der Brand sollte Aktivist*innen daran hindern, ihr selbst gestecktes Aktionsziel zu erreichen: die Besetzung eines Mega-Bassins, eines riesigen Wasserrückhaltebeckens, das mit Grundwasser aus der Region gefüllt wird, um in Zeiten von Dürren die Wasserversorgung von kapitalstarken Agrarkonzernen zu sichern.
Die Gruppierung Die Aufstände der Erde ist im März 2023 bekannt geworden, als der Protest von 30.000 Menschen heftige Reaktionen der französischen Polizei hervorrief: An nur einem Tag fielen über 5.000 Tränengasgranaten auf die Demonstrierenden, Gummigeschosse und Wasserwerfer kamen zum Einsatz, 200 Menschen wurden schwer verletzt. (ak 692) Auch wenn die meisten Aktivist*innen gewaltlos protestierten, wehrten sich einige mit Molotowcocktails und Steinschleudern. Die drei Polizeiwannen, die während der Auseinandersetzungen in Brand gesetzt wurden, sind ein Sinnbild für die Wut, mit der sich Demonstrierende in Frankreich gegen die Polizei widersetzen – ob im Kampf gegen den neoliberalen Staat oder die Interessen von Großkonzernen.
Der »radical flank effect«
Die Taktiken von Die Aufstände der Erde stoßen zurzeit auch außerhalb Frankreichs auf großes Interesse (ak 703). Ihr Vorgehen erscheint bei Weitem radikaler als das der deutschen Klimabewegungen. Kein Wunder, dass Diskussionen um den Nutzen und die Notwendigkeit von Radikalität neue Nahrung erhalten. Neu ist diese Debatte nicht. Zuletzt entzündete sie sich in Deutschland anhand des Buches »Wie man eine Pipeline in die Luft jagt« aus der Feder des schwedischen Humanökologen Andreas Malm. Sein Text muss weniger als eine Gebrauchsanweisung für klimabewegte Sprengarbeiten als ein Plädoyer für Sabotage verstanden werden.
Argumentativ baut Malm hierbei auf den Begriff des »radical flank effect« auf. Dieser aus der Bewegungssoziologie bekannte Begriff theorisiert die Beziehung zwischen moderaten und radikalen Flügeln innerhalb von sozialen Bewegungen. Eingeführt wurde der Terminus durch den US-amerikanischen Soziologen Herbert Haines. Er widerlegte in der 1984 veröffentlichen Studie »Black Radicalization and the Funding of Civil Rights: 1957-1970« die bis dato verbreitete Annahme, radikale Gruppierungen innerhalb der Bürgerrechtsbewegung hätten die Anliegen des gemäßigten Zentrums geschwächt.
Der radikale Flügel einer Bewegung verschiebt den Rahmen dessen, was als politisch akzeptabel bewertet wird.
Vielmehr habe die Präsenz eines militanten Lagers dazu geführt, dass die Unterstützung der Zivilgesellschaft, die Finanzierung durch Quellen außerhalb der Bewegung und der Zugang zu politischen Entscheidungsträgern des moderaten Flügels zugenommen habe. So galten in den USA die National Association for the Advancement of Colored People (NAACP) oder die Southern Christian Leadership Conference (SCLC) unter der Führung von Martin Luther King bis Ende der 1950er Jahre noch als radikale Organisationen. Als das Student Nonviolent Coordinating Committee oder die Black Panther Party auf den Plan traten, wandelte sich das: NAACP und SCLC wurden nun als vergleichsweise moderat oder zumindest als »verantwortungsbewusste Militante«, so Haines, wahrgenommen. Übertragen auf ein Fußballspiel: Der Stürmer prescht mit dem Ball über die Seitenlinie nach vorne, flankt auf den Mittelfeldspieler, der bis vor das Tor mitgelaufen ist, Schuss, Tor.
Versteht man den Ball als Kristallisationspunkt des Sag- und Denkbaren, verbildlicht diese Metapher ein zweites, für das Gelingen des radical flank effect essenzielles Phänomen: das des Overton-Fensters, das den Rahmen dessen bezeichnet, was zu einem gegebenen Zeitpunkt im gesellschaftlichen Klima als politisch akzeptabel bewertet wird. Denn Mittelfeld- und Außenbahnspieler sind im Moment der Flanke weit voneinander entfernt, der Meinungskorridor ist groß.
Dies bedeutet zum einen, dass der radikale Flügel die Chance hat, grundlegend neue Ideen in den politischen Raum einzubringen. Wenn Stürmer und Mittelfeldspieler zu nahe beieinander stehen, d.h. ähnliche Positionen vertreten, kann der radikalere Teil einer Bewegung dem moderateren zwar kurzfristig zu politischen Erfolgen verhelfen, trägt aber wenig zur langfristigen Verschiebung von Narrativen und Normen bei.
Zum anderen kann durch die Distanz zwischen moderatem und radikalem Flügel der negative radical flank effect besser verhindert werden. Dieser entsteht, wenn die öffentliche Wahrnehmung keine Unterscheidung zwischen beiden Flügeln trifft und das radikale Auftreten des militanten Lagers das moderate Mittelfeld delegitimiert.
Ein aktuelles Beispiel: In Deutschland haben Berichterstattung und gesellschaftliche Wahrnehmung des Aktivismus der Letzte Generation (LG) diesen negativen radical flank effect ausgelöst. Das mag auch an der Schieflage liegen, die zwischen den formulierten Forderungen und gewählten Taktiken der LG existiert: Moderate Ziele, die sonst eher von Nichtregierungsorganisationen oder von gemäßigteren Teilen der Bewegung artikuliert werden, sollen durch radikalere Taktiken wie die Lahmlegung des Autoverkehres oder Hungerstreiks erreicht werden. Politische Gegner*innen können die Überschneidungen der Forderungen nutzen, um die Ablehnung der Taktiken der einen Gruppe auf alle Teile der Bewegung zu projizieren. Schuld durch Assoziation als ad hominem.
Auf das Zusammenspiel kommt es an
Ob ein radikaler Flügel den Anliegen eines moderaten Bewegungskerns tatsächlich nützt oder schadet, wird seit Jahrzenten in Forschungszeitschriften und Strategieplena diskutiert und ist von zahlreichen, kontextbedingten und schwierig isolierbaren Umständen abhängig. Eine neue Studie aus dem Jahr 2022 hat sich dieser Fragestellung mit Bezug auf die Klimabewegung in den USA genähert. Das Ergebnis: Der positive radical flank effect überwiegt den negativen. Ausschlaggebender dafür war jedoch das Spektrum von moderaten bis militanten Taktiken, weniger eine Radikalisierung der Themensetzung über die Flügel hinweg. Als Grund geben die Forschenden an, dass radikale Forderungen, die nur verbal geäußert werden, oft als Nebelkerzen wahrgenommen werden. Radikalität von Taktik und Forderung müssen demnach zueinander passen.
Könnte die perfekte Bewegungskonstellation bestellt werden, würde sie wohl aus einer Vielfalt an Organisationen bestehen, die durch ihre unterschiedlichen Taktiken und Methoden in möglichst viele Zielgruppen und Milieus hineinkommunizieren könnte. Programmatisch müssten sie am selben Strang ziehen, um so die mediale Debatte überhaupt erst in Gang zu bringen und das Thema auf die politische Agenda zu setzen. Die spezifischen Ideen und Forderungen würden jedoch vom realpolitisch Machbaren über nicht-reformistische Reformen bis hin zur totalen Revolution reichen.
Allein: Bewegungskonstellationen lassen sich nicht am Reißbrett entwerfen, sondern entstehen aus spezifischen gesellschaftlichen Kontexten – die wiederum Bewegungen in ihren Möglichkeiten begrenzen. So wird in den Debatten um den radical flank effect häufig die direkte und indirekte Repression, die das militante Lager durch staatlicher und zivilgesellschaftlicher Akteure erfährt, ausgeklammert. Denn diese kann sich im Tandem mit der Militanz entwickeln, möglicherweise sogar exponentiell. Wenn die (im)materiellen Kosten, die Aktivist*innen und Bewegungen tragen müssen, zu hoch werden, wird einem radikalen Flügel jegliche Möglichkeit genommen, aktiv zu sein. Sobald die Repression zunimmt, wird es Studien zufolge, für eine Bewegung immer schwieriger, ihre Ziele zu erreichen. So konnte auch die Wasserbewegung in La Rochelle ihre Aktionsziele aufgrund massiver Polizeigewalt nur bedingt umsetzen. Militanz darf nicht romantisiert werden. Eine radikale Flanke muss ihre Taktik daher nicht nur so wählen, dass sie dem moderaten Lager den Ball zupasst, sondern möglichst auch so, dass staatliche Gegenwehr und gesellschaftlicher Hass keinen autoritären Kipppunkt überschreiten.
Zu kurz kommt zudem auch die strategische (Dis)Assoziation der unterschiedlichen Lager und deren Einbettung in die Zivilgesellschaft. Für die Wasserbewegung in Frankreich ist letztere Komponente ein ausschlaggebendes Element für den Erfolg von Soulèvements de la Terre. Denn die Gruppe ist wie viele andere französische linke Bewegungen stärker im ländlichen Raum verankert und mit Menschen solidarisch vernetzt, die in der Landwirtschaft arbeiten oder von Wasserknappheit betroffen sind. Das gibt ihnen politische und gesellschaftliche Legitimität, die im November letzten Jahres unter anderem dazu führte, dass ein Verbotsverfahren gegen die Gruppe eingestellt wurde – ein großer Erfolg.
Doch die Mega-Bassins werden weiterhin gebaut. Das mag vor allem daran liegen, dass die Gruppe mit ihrer Militanz zwar eine radikale Flanke bedient, es abseits des Bündnisses jedoch wenig Gruppierungen im Mittelfeld gibt, die die Flanke verwerten. Nur im Zusammenspiel zwischen radikaler Flanke und moderatem Mittelfeld kann das lange Spiel gewonnen werden.