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|ak 705 | International

Die Schuldenfalle ist aufgestellt

Beim Wiederaufbau der Ukraine diktiert der Westen die Regeln – Beschäftigte haben schwere Kämpfe vor sich

Von Jan Ole Arps und Lene Kempe

Ein Mann schiebt ein Fahrrad an einem zerstörten Haus vorbei, vor dem Haus liegt Schutt.
500 Milliarden US-Dollar wird der Wiederaufbau kosten, schätzt die Weltbank – Geld, dass die Ukraine nicht hat. Foto: Oleksandr Ratushniak / UNDP Ukraine / Flickr, CC BY-ND 2.0

Was uns am meisten empört: Sogar in den Krankenhäusern direkt an der Front, wo aus nachvollziehbaren Gründen medizinisches Personal fehlt, wird versucht, Urlaubstage, freie Tage, alle möglichen Vergünstigungen zu beschneiden.« Oksana Slobodiana redet ruhig, aber mit Nachdruck, bei einem gewerkschaftlichen Austausch im Messing- und Marmorpalast der Berliner IG Metall. Ihre Zuhörer*innen sind Mitstreiter*innen aus der ukrainischen Bewegung der Pflegekräfte #BeLikeNina sowie ver.di-Gewerkschafter*innen von der Berliner Krankenhausbewegung.

Anlass für den Austausch ist die gewerkschaftliche Ukraine-Konferenz »für einen selbstbestimmten Wiederaufbau«, zu der Anfang Juni, im Vorfeld der offiziellen »Wiederaufbaukonferenz« am 11. und 12. Juni in Berlin, der Arbeitskreis Internationalismus der IG Metall und andere eingeladen haben. Mit etwa 60 Teilnehmer*innen ist die Beteiligung überschaubar: Wenn es nicht um Waffenlieferungen, sondern um praktische Solidarität geht, ist das linke Interesse auch nach mehr als zwei Jahren Krieg einfach nicht besonders groß.

Davon lassen sich diejenigen, die gekommen sind, nicht beirren. Im Workshop zum Pflegesektor erzählt Oksana Slobodiana, wie es mit #BeLikeNina losging: Seit bald fünf Jahren macht sich die Bewegung für Arbeitsrechte und höhere Löhne im ukrainischen Gesundheitswesen stark, prangert Arbeitgeberschikanen und die verbreiteten Belästigungen der vorwiegend weiblichen Beschäftigten an. Slobodianas Kollegin, Nina Kozlovska, hatte Ende 2019 auf Facebook über die schlechten Arbeitsbedingungen berichtet und gefragt: Wie lange sollen wir uns das gefallen lassen? Am nächsten Morgen hatten mehr als 20.000 Menschen den Beitrag geteilt – es war der Startschuss für die #BeLikeNina-Bewegung. Aufsehen erregte ihre Petition, mit der sie ein Gesetz über höhere Löhne im Gesundheitswesen erstritt. Anfang 2022 wurden die Löhne der Krankenschwestern auf 13.500 Hrywnja (damals knapp 350 Euro) erhöht. Dann kam der Krieg.

Wenn es nicht um Waffenlieferungen, sondern um praktische Solidarität geht, ist das linke Interesse auch nach mehr als zwei Jahren Krieg nicht besonders groß.

Plötzlich mussten sie sich um Binnenflüchtlinge kümmern, Hilfe organisieren, berichtet Slobodiana, die im westukrainischen Lviv lebt. Aber sie sagt auch: »Seit Kriegsbeginn hat unsere Bewegung an Fahrt aufgenommen.« Zugleich hätten sich die Probleme im Gesundheitswesen verschärft, nicht nur wegen der Gefahr, der medizinisches Personal durch Beschuss ausgesetzt ist, oder der zerbombten Krankenhäuser und Energieinfrastruktur. »Institutionen, die dafür da sind, Arbeitnehmer zu schützen, bleiben häufig inaktiv, mit immer derselben Ausrede: In Zeiten des Krieges sollten Arbeitgeber keinen zusätzlichen Belastungen ausgesetzt sein.« Auch das Streikrecht wurde drastisch eingeschränkt – für die Pfleger*innen nur ein kleiner Einschnitt, da sie schon vor dem Krieg nicht wirklich streiken durften.

Dann ist Gisela Neunhöffer von ver.di an der Reihe. Sie berichtet, wie das deutsche Fallpauschalensystem in Krankenhäusern Anreize setzt, beim Personal zu sparen – und wie sie mit der Berliner Krankenhausbewegung dagegenhalten. In Entlastungs-Tarifverträgen konnten sie durchsetzen, dass es nun Regeln gibt, die Einsparungen auf Kosten des Personals zumindest abbremsen. Eine Art Fallpauschalensystem, also Krankenhausfinanzierung je nach Menge und Art der behandelten Patient*innen, gibt es seit einer Reform von 2018 auch in der Ukraine. Die Reform sollte die Krankenhäuser rentabler machen und führt dazu, dass die Finanzen ins Straucheln geraten, wenn es nicht genug Patient*innen gibt. Kliniken mussten schließen, Löhne werden oft verzögert, manchmal gar nicht gezahlt. Zwischen den deutschen und ukrainischen Kolleg*innen entspinnt sich ein reger Austausch – darüber, wie Öffentlichkeit für die Belange der Beschäftigten hergestellt werden kann und wie die deutschen Gewerkschafter*innen ihre ukrainischen Kolleg*innen unterstützen könnten, die Bewegung in eine anerkannte Gewerkschaft zu verwandeln.

Wiederaufbau und internationale Solidarität

Auch die Staatsschulden, die schon vor dem Krieg drastisch waren und das Land nach dem Krieg vollends in Abhängigkeit von EU-Institutionen und privaten Kreditgebern bringen werden, sind Thema auf der Konferenz. (ak 704) In den ersten zwei Kriegsjahren haben sie sich auf knapp 110 Milliarden US-Dollar nahezu verdoppelt, berichtet Kristina Rehbein von der Organisation Erlassjahr. Daran, dass diese Zahl noch deutlich ansteigen wird, besteht kein Zweifel: Knapp 500 Milliarden US-Dollar wird der Wiederaufbau in den kommenden zehn Jahren kosten, schätzt die Weltbank – wobei viele Beobachter*innen diese Zahl für zu niedrig halten. Wegen der fortdauernden Angriffe und weil die Schäden in den russisch besetzten Gebieten nicht mit eingerechnet sind.

Die Ukraine kann solche Summen nicht allein aufbringen, die »internationale Gebergemeinschaft« verspricht Unterstützung: Allein die EU und ihre Mitgliedstaaten haben seit Kriegsbeginn gut 140 Milliarden Euro an Finanzhilfen zugesagt. Mit der viel zitierten »Solidarität« mit dem angegriffenen Land hat das eher wenig zu tun, denn die EU lässt sich ihre Hilfe teuer bezahlen: Zum größten Teil handelt es sich um Kredite, die samt Zinsen zurückgezahlt werden müssen und obendrein an Reformen im Sinne des EU-Beitrittsprozesses geknüpft sind. Dasselbe gilt für andere multilaterale Geber wie IWF und Weltbank, deren Anteil an den Staatsschulden der Ukraine seit Kriegsbeginn ebenfalls stark gestiegen ist.

Die Situation der Ukraine erinnert damit an jene vieler lateinamerikanischer und asiatischer Länder, die in den 1980er und 1990er Jahren bereits hoch verschuldet in verheerende Wirtschaftskrisen gerieten und von den multilateralen Finanzinstitutionen ebenfalls mit Krediten »gerettet« wurden – verbunden mit der Auflage, ihre Märkte für ausländische Investoren zu öffnen, öffentliche Infrastruktur zu privatisieren und staatliche Ausgaben für Soziales, Renten oder Bildung drastisch zurückzufahren.

Die folgende kapitalistische Landnahme war ein wesentlicher Auslöser für die weltweite globalisierungskritische Bewegung – ausgehend von Protestbewegungen in den betroffenen Staaten. Mit der Schuldenkrise Griechenlands gelangte das Thema 2014/2015 erneut ins linke Blickfeld: Die Troika aus EU, IWF und Weltbank winkte mit den lebensrettenden Krediten und forderte dafür brutale Einschnitte im griechischen Sozialsystem, Privatisierungen von Staatsunternehmen und weitreichende Marktöffnungen. Dem internationalen Druck hatte weder die damalige Syriza-Regierung noch die europäische Linke etwas entgegenzusetzen.

Geld gegen Reformen, wie dieses Prinzip konkret funktioniert, ließ sich dann auf der offiziellen Wiederaufbaukonferenz beobachten. So verkündete EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen bei ihrer Auftaktrede feierlich die Auszahlung einer neuen Tranche aus dem Topf der sogenannten Ukraine-Fazilität, die bis 2027 50 Milliarden Euro für das Land bereithält. Die Auszahlung von 1,9 Milliarden Euro könne sie gleich hier verkünden, so von der Leyen: »Und zwar wegen der umfassenden Reformen und Investitionsstrategien, die die Ukraine verabschiedet hat.«

Diese Reformen, die Präsident Selenskyj auch unter Kriegsbedingungen vorantreibt, folgen dem sogenannten Ukraine-Plan, einer »gemeinsam« mit der EU entwickelten Agenda, die für 15 potenzielle »Wachstumsbereiche« wie Energie, Landwirtschaft, Humankapital, kritische Rohstoffe oder staatseigene Unternehmen konkrete Schritte vorsieht, wie die Öffnung für ausländische Investoren, Korruptionsbekämpfung, Vereinfachung von Genehmigungen, Kostensenkungen.

Die EU hält darüber hinaus unterschiedliche Instrumente bereit, um Investitionen zu bezuschussen und Unternehmen in die Ukraine zu locken. So diente auch die offizielle Konferenz in Berlin erklärtermaßen dazu, die private Wirtschaft in das Projekt Wiederaufbau einzubinden. »Es geht hier nicht um Wohltätigkeit«, fasste Oleksandr Sienkevych, Bürgermeister von Mykolajiw, gegenüber dem Deutschlandfunk zusammen. »Unsere Partner wollen wissen, wie sie in der Ukraine Geld verdienen können. Nach dem Krieg wird die Ukraine der größte Markt Europas sein.«

Ein Schuldenerlass ist notwendig

Kristina Rehbein von Erlassjahr hält vor diesem Hintergrund einen drastischen Schuldenschnitt für das Land für dringend geboten, wie sie auf dem kleinen »Gegengipfel« im IG-Metall-Haus erklärt. Andernfalls werden privates Kapital und die Gebergemeinschaft und nicht die Menschen im Land darüber bestimmen, wie die Zukunft der Ukraine nach dem Krieg aussieht. Rehbein weist darauf hin, dass es in der Vergangenheit fast immer soziale Bewegungen waren, die Schuldenerlasse erkämpften. Eigentlich also ebenfalls ein Thema für internationale Solidarität, zumal auch ukrainische Linke seit Kriegsbeginn betonen, dass der Kampf gegen die Schuldenberge nach dem Krieg zur zentralen Arena für die Klassenkonflikte im Land werden wird.

Eine Idee davon, worum es bei den von den westlichen »Partnern« der Ukraine anvisierten Reformen gehen könnte, vermitteln die Teilnehmer*innen eines Workshops zum Bildungssektor bei der gewerkschaftlichen Ukraine-Konferenz. Dort berichtete Katja Grizewa von der Studierendengewerkschaft Prijama Dija (Direkte Aktion) über die Situation der Studierenden, die seit dem Krieg deutlich prekärer geworden sei – nicht nur, weil der Unterricht überwiegend online stattfindet; auch politische Angriffe auf die freie Bildung würden wieder zunehmen.

Zudem gingen die Privatisierungen im Bildungsbereich weiter, etwa von Wohnheimen. Der Anspruch auf ein Stipendium soll sich nicht mehr aus sozialen Kriterien ableiten, die Regierung Selenskyj plane ein neues Vergabesystem, erklärt Grizewa. Sie und andere Linke in der Ukraine befürchten, dass vor allem Jugendlichen aus ärmeren Elternhäusern der Zugang zur Universität künftig noch weiter erschwert wird. Gegen die Neoliberalisierung des Bildungssektors versucht die kleine Gewerkschaft, Proteste zu organisieren – auch um zu zeigen, dass es selbst unter Kriegsrecht möglich ist, Mitbestimmung einzufordern.

Um mehr Mitbestimmung geht es auch Oksana Slobodiana und ihren Kolleg*innen bei #BeLikeNina, mit Blick auf die Effekte der letzten Reform, aber auch auf den Wiederaufbau. Sie fordern größere Transparenz bei den Krankenhausfinanzen und dass Beschäftigte mehr Kontrolle über die Arbeitgeber erhalten, etwa durch die Wahl wichtiger Positionen in den Kliniken. Die Pläne der EU indes weisen in eine andere Richtung. Mitsprache beim Wiederaufbauprozess ist hier nicht für die Beschäftigten, sondern nur für Kapitalgeber und Investoren vorgesehen.

Jan Ole Arps

ist Redakteur bei ak.

Lene Kempe

ist Redakteurin bei ak.

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